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20 Jahre Scharia in Nord-Nigeria
Das Gesetz Gottes

Vor 20 Jahren gab der erste Gouverneur im Norden Nigerias die Einführung der Scharia bekannt. Das Rechtssystem sollte dem sozialen Frieden dienen. Die Hoffnungen auf besser Lebensverhältnisse wurden enttäuscht. Konflikte zwischen Muslimen und Christen haben sich verschärft.

Von Katrin Gänsler |
"Willkommen im Staat Zamfara, Heim der Landwirtschaft und der Scharia" steht auf einem Schild bei Gusau im Norden Nigerias
"Willkommen im Staat Zamfara, Heim der Landwirtschaft und der Scharia" steht auf einem Schild bei Gusau im Norden Nigerias (dpa / AFP / epa / Pius U. Ekpei)
Amrah Aliyu ist 23 Jahre alt und lebt in Minna, der Hauptstadt des Bundesstaates Niger im Norden Nigerias. Seit Februar setzt sich die junge Muslimin unermüdlich gegen Missbrauch und sexuelle Gewalt ein. Im Internet schreibt sie unter dem Hashtag #ArewaMeToo darüber und leistet in Schulen Aufklärungsarbeit. Die Aktivistin ist frustriert und kritisiert deutlich, was in der nordnigerianischen Gesellschaft alles schief läuft:
"Jeden Tag werden die Dinge schlechter. Man sieht kaum welche, die ein anständiges Leben führen wollen. Man muss sich nur die Kinderehen anschauen, die hier geschlossen werden. Niemand kümmert sich, wenn das Mädchen erst vierzehn ist. Wir verlieren unsere ethischen Grundsätze."
Hoffnung: weniger Korruption, mehr Gerechtigkeit
Dabei sollte vor 20 Jahren alles besser werden. Das hofften zahlreiche Muslime, als am 27. Oktober 1999 der Gouverneur von Zamfara, Ahmed Sani Yerima, ankündigte, die Scharia in seinem Bundesstaat einzuführen. Sie ist ein komplexes System aus Gesetzen und Normen, aus denen sich Rechte und Pflichten der Muslime ableiten. Je nach Rechtsschule gibt es unterschiedliche Interpretationen. Verboten sind beispielsweise außerehelicher Geschlechtsverkehr, Diebstahl, Straßenraub und der Genuss von Alkohol. Sie wird auch als ethische Richtlinie bezeichnet.
In Nordnigeria war die Hoffnung groß, dass mithilfe der Scharia die Korruption eingedämmt wird, Verbrechen zurückgehen und es zu mehr sozialer Gerechtigkeit kommt. Eingedämmt werden sollte vor allem die Korruption, auch die Hoffnung auf mehr soziale Gerechtigkeit war groß. Dem Beispiel Zamfaras folgten elf weitere Staaten im Norden, in denen sich die Mehrheit der Bevölkerung zum Islam bekennt. Wie die Entscheidung für einen Christen war, daran erinnert sich der katholische Bischof von Minna, Martin Igwe Uzoukwu.
"Es ist nicht in Ordnung, ein Gesetz einzuführen und dieses den Menschen aufzudrücken. Gute Gesetze werden normalerweise vor der Einführung diskutiert. Aber eines Morgens im Radio zu hören, dass wir jetzt in einem Scharia-Staat leben, ist nicht korrekt."
Bis heute empfindet Bischof Uzoukwu die politische Entscheidung als Zwang. Dabei sind die Forderungen nach Einführung der islamischen Gesetzgebung alt. Vor der Kolonialzeit galt in den Reichen von Sokoto und Borno, die im heutigen Norden liegen, bereits die Scharia. Beide Reiche galten als mächtig und einflussreich, was der Scharia ein positives Image gab. Auch nach der Unabhängigkeit und während der verschiedenen Militärdiktaturen forderten Interessenverbände wie der Verband der muslimischen Studierenden wiederholt ihre Einführung. Cornelius Omonokhua, Geschäftsführer des Interreligiösen Rates von Nigeria, sagt dazu:
"Ich war nicht überrascht. Im ganzen Land, auch unter Muslimen, hat die Entscheidung aber für Überraschungen gesorgt. Ein Muslim sagte mir aber: Wir sollten gar nicht auf die Gouverneure hören. Es handelt sich doch um eine politische Scharia."
Einführung aus politischem Kalkül
Tatsächlich haben viele Gouverneure die Scharia genutzt, um Popularität zu erlangen und Stimmen für die nächste Wahl zu sammeln. Das wird auch als ein Grund genannt, weshalb der damalige Präsident Olusegun Obasanjo die Einführung zuließ. Er selbst ist zwar ein Christ aus dem Südwesten. Mit der Entscheidung konnte er jedoch politische Verbündete im Norden gewinnen. Auch konnte ihm niemand vorwerfen, die Interessen seiner eigenen Religionsgemeinschaft voranzutreiben. Zu besonderen Vorbildern sind die Gouverneure im Norden, die die Scharia umsetzten, allerdings nicht geworden, sagt Cornelius Omonokhua:
"Ausgerechnet der Gouverneur, der die Scharia eingeführt hat, hat eine Minderjährige geheiratet. Ich gehe nicht davon aus, dass die Scharia das fördert. Auch die Äußerungen dazu waren sehr unislamisch. Muslime waren damit nicht glücklich."
Die Nachricht aus dem Jahr 2013 sorgte weltweit für Schlagzeilen. Das Mädchen war eine 13-Jährige aus Ägypten, und Gouverneur Yerima rechtfertigte die Heirat ausgerechnet mit der Scharia.
Scharia gilt nur für Muslime
In anderen Teilen des Landes hat die Einführung indes zu schweren Ausschreitungen geführt. Besonders betroffen war der Bundesstaat Kaduna, wo zahlreiche Christen leben. Während der Proteste gegen die Scharia im Jahr 2000 starben verschiedenen Schätzungen zufolge zwischen 1.300 und 5.000 Menschen. Auch in Kano kamen mindestens 100 Personen ums Leben. Halima Jibril, Präsidentin des Dachverbands der muslimischen Frauenverbände, macht mangelndes Wissen dafür verantwortlich:
"Es gab viele Missverständnisse. Die Scharia gilt nicht für Nicht-Muslime, was aber viele Menschen nicht verstanden haben."
Mehr als eine Million Menschen haben sich im Zentrum von Kano, Nigeria am 21. Juni 2000 versammelt, um die Einführung der Scharia mitzuerleben
Muslimische Nigerianer feiern Inkrafttreten der Scharia (dpa / AFP / Pius Utomi Ekpei)
In Nordnigeria gelten deshalb mehrere Rechtssysteme. Kritikern zufolge gibt es jedoch auch Fälle, bei denen die Scharia bei Nicht-Muslimen angewandt worden ist. Halima Jibril ist froh über die Entscheidung vor 20 Jahren. Die Scharia sei das Gesetz Gottes. Auf praktischer Ebene habe sich etwa die härtere Durchsetzung des Alkoholverbots positiv auf Familien ausgewirkt, sagt sie.
"Vor der Einführung der Scharia haben manche Menschen die Hälfe ihres Lohns vertrunken. Als das Verbot jedoch eingeführt wurde, musste jeder heimlich und außerhalb der Städte und Dörfer trinken. Das hat vor allem Ehefrauen glücklich gemacht. Sie haben gesagt: Endlich kommen unsere Männer wieder nach der Arbeit nach Hause."
Boko Haram und Sicherheitskrise
Außerdem nimmt die Scharia den Staat in die Pflicht, für die Bewohner zu sorgen, sagt Halima Jibril:
"In der Scharia steht auch: Im Fall von Armut muss der Staat einspringen und den Menschen ein korrektes Leben nach islamischen Prinzipien ermöglichen."
In der Praxis sieht es im Norden Nigerias bis heute jedoch anders aus. Es ist die Region, die landesweit am wenigsten entwickelt ist. Im Jahr 2015 gingen Kinder im Schnitt gerade einmal vier Jahre zur Schule. In anderen Regionen war die Schulzeit doppelt bis dreimal so lang. Weder konnte die Scharia die Ausbreitung der Terrorgruppe Boko Haram im Nordosten verhindern, noch die aktuelle Sicherheitskrise. Vor allem in den Bundesstaaten Zamfara, Katsina und Kaduna kommt es jede Woche zu Entführungen und Überfällen. Auch den Landkonflikt zwischen Farmern und Viehhirten, durch den in den vergangenen Jahren viele tausend Menschen starben, konnte sie nicht eindämmen.