Der Start von Wikipedia am 15. Januar 2001 war eine Zäsur. Nur wussten das damals die wenigsten. "Man konnte das Potential schon erahnen", erinnert sich Journalist und Netzexperte Markus Beckedahl heute, 20 Jahre später. Und meint damit erst einmal das Prinzip Open Source. "Endlich gab es ein einfaches Beispiel für die Beschreibung von Kooperation und den Zugang zu Wissen", so Beckedahl gegenüber dem Deutschlandfunk. "Und es funktionierte: Das Wissen der Welt gemeinsam sammeln in einem Wiki."
Der Begriff "Wiki" geht - so erklärt es Wikipedia selbst - auf das hawaiische Wort für "schnell" zurück. Weiter heißt es im deutschen Wikipedia-Artikel über Wikipedia: "Wikis sind Hypertext-Systeme für Webseiten, deren Inhalte von den Benutzern nicht nur gelesen, sondern auch online im Webbrowser verändert werden können." Die in Wikipedia netzartig untereinander verlinkten Artikel sind frei und unentgeltlich für alle zugängig. Das Projekt finanziert sich ausschließlich über Spenden von Privatpersonen und Unternehmen.
Bei Wikipedia findet sich Wissen, das bis dahin vor allem klassische Nachrichtenmedien übermittelt haben, sogenannte Gatekeeper. Dass sich das inzwischen dramatisch verändert hat, ist auch Wikipedia zu verdanken. Über die "Wikipedisierung des Journalismus" machte sich die Bundeszentrale für politische Bildung 2012 in einem langen Dossier Gedanken, aus heutiger Sicht eine Art von Halbzeitbilanz. Damals fragten die Autorin und der Autor des Textes, ob der Journalismus seinen "Wissensvorsprung einbüßt". Um festzustellen: ja, hat er.
Mit Vorsicht zu genießen
Zum einen würden inzwischen "Nachrichtenereignisse schnell und profund in der Wikipedia aufbereitet", beispielsweise im Fall des Todes von Popstar Michael Jackson. Zum anderen würden, das zeigten schon damals mehrere Studien, die meisten Journalistinnen und Journalisten Wikipedia vertrauen und deshalb für ihre eigene Recherche nutzen.
Fast neun Jahre später ist das wohl noch immer so. Doch längst hat sich auch rumgesprochen, dass Wikipedia mit Vorsicht zu genießen ist. So zeigte etwa 2014 eine Studie der Otto Brenner Stiftung, dass die Online-Enzyklopädie auch für PR missbraucht wird. Eine wissenschaftliche Befragung von 1.428 hauptberuflichen Journalistinnen und Journalisten 2016 ergab unter anderem: Wikipedia verliert an Bedeutung unter Jüngeren, die zunehmend auf soziale Netzwerke setzen.
"Ein nützliches Universalwerkzeug"
Zum 20. Jubiläum haben wir uns unter Journalistinnen und Journalisten umgehört und vier Antworten erhalten: Sie benutze Wikipedia mittlerweile hauptsächlich, sagt ZDF-Moderatorin Dunja Hayali, "um rauszufinden, wann wer wo geboren wurde, welche Ämter er oder sie innehat bzw. hatte, usw. Also meist nur fürs Grobe."
Andreas Sentker leitet das Wissenschaftsressort der "Zeit". Wikipedia – für Sentker "so bequem wie schwierig". Die Plattform sei offen für großartiges sachliches Engagement der meisten ihrer Autoren wie für ideologische Manipulation und Missbrauch. "Den einen ist die Arbeitsweise zu wenig wissenschaftlich (schwach belegte Artikel, nutzlose Quellen). Den anderen zu arrogant westlich wissenschaftlich (ignoriert nicht westliche Traditionen und Kulturen, Wissen, das per se keine schriftlichen Quellen hat)."
Für ihn sei Wikipedia deshalb "ein schneller Vergewisserungsklick", so Sentker - und führt eine Frage ins Feld, die bei Wikipedia beantwortet und durchs Statistische Bundesamt als Quelle belegt wird: "Wie viele Einwohner hat Halberstadt?" Die Antwort: 40.329. "Aber stimmt auch die folgende Behauptung im Wikipedia-Artikel? ‚Das Halberstädter Würstchen war weltweit das erste Würstchen in der Dose‘?" Hierfür findet der "Zeit"-Journalist keine Belegstelle. Und so gehe es ihm mit fast jedem Wikipedia-Artikel: Es gebe Antworten, die man immer wieder auf ihre Plausibilität prüfen müsse.
"Das vorausgesetzt, ist die Wikipedia ein nützliches Universalwerkzeug, vielleicht am ehesten vergleichbar einem Schweizer Taschenmesser: nicht in jedem Anwendungsfall stabil, aber auf die Schnelle ungemein nützlich."
"Nicht wie die Bibel"
Ähnlich wie Sentker versteht Felix Dachsel, Chefredakteur des Magazins Vice, Wikipedia. Für ihn sei diese "nicht wie die Bibel", so Dachsel. "Eher wie ein Basislager, von dem ich Expeditionen starte: Ich folge Links, die mich zu neuen Links führen und am Ende lande ich auf einem ‚Spiegel‘-Artikel von 1996 oder auf der Bundesliga-Abschlusstabelle von 1981."
Wikipedia nehme er als "vorläufigen, sich wandelnden Wissensspeicher wahr, niemals als etwas Endgültiges, Unfehlbares. In neun von zehn Fällen lese ich etwas über Menschen und ihren Werdegang, über Biografien." Für einen ersten Überblick bleibe Wikipedia unschlagbar.
"Das erste digitale Weltwunder"
Und Netzpolitik-Chefredakteur Markus Beckedahl? Er sagt nach 20 Jahren: "Danke, Wikipeda!" In den Nuller-Jahren sei die Wikipedia-Community noch für ihre Mission und ihr Engagement häufig von denen ausgelacht worden, "die da noch darauf hofften, dass das mit der Digitalisierung schon bald wieder verschwinden würde". Aber schon damals sei klar gewesen, "dass das Modell zukunftssicher und zukunftsweisender war als das jährliche Drucken von enzyklopädischem Wissensbücherreihen, die dann schon nicht mehr aktuell sind, wenn sie ins Regal kommen und dort verstauben".
20 Jahre Geschichte hätten gezeigt, so Beckedahl, "dass wir es bei der Wikipedia mit einem der größten Erfolgsmodelle des Netzes zu tun haben. Ich nenne es auch gerne das erste digitale Weltwunder". Kinder würden heute mit der Selbstverständlichkeit aufwachsen, dass Wissen geteilt werden kann - und man es auch tun sollte.