"Nach meiner festen Überzeugung gibt es nur ein Mittel, die sozialen und vor allem auch die wirtschaftlichen Verhältnisse zu bessern, nämlich die christlichen Prinzipien in freien Genossenschaften zur Geltung zu bringen."
In einem Brief an den Grafen Friedrich zu Solms-Laubach fasste Friedrich Wilhelm Raiffeisen 1882 die zentrale Einsicht seines Lebens zusammen. Die Vorstellung einer solidarischen Gemeinschaft war früh in ihm entstanden. Am 30. März 1818 wurde er in Hamm im Westerwald geboren. Sein Vater war Bürgermeister der Gemeinde, aber er erkrankte früh, und so musste die Mutter die neun Kinder unter prekären Verhältnissen allein durchbringen. Ihr unerschütterlicher christlicher Glaube und ihre praktizierte Nächstenliebe legten das Fundament für Raiffeisens lebenslangen Einsatz für andere.
Die Verantwortung der Reichen gegenüber den Armen
Da ihm der Besuch eines Gymnasiums aus Geldmangel nicht möglich war, meldete sich der 17-Jährige zum Militär, doch ein Augenleiden zwang ihn acht Jahre später, in die zivile Verwaltung zu wechseln. Als Bürgermeister des kleinen Ortes Weyerbusch organisierte er 1846 – nach einer katastrophalen Missernte – für die notleidende Bevölkerung einen Brotverein.
"Was ihn da prägt, ist erst mal die Überlegung, was muss man als Mensch tun, also was für Verantwortung besteht in der Gesellschaft von den Reicheren gegenüber den Ärmeren, und er wollte erst mal dieses Potenzial heben sozusagen, und das geht sehr arg in die Richtung: Geld sammeln und das verwenden."
Aber Raiffeisen merkte bald, dass sich durch Spenden zwar der Hunger lindern, die Armut aber nicht abschaffen ließ, betont Markus Hanisch, Professor für Genossenschaftswesen an der Humboldt-Universität Berlin.
"Was einer allein nicht schafft, das schaffen viele"
"Und da kommt dann eben der nächste Schritt: Wie macht man eigentlich auf Hilfe und Almosen basierende Organisationen dann irgendwann nachhaltig und selbsttragend, und das geht dann eben nur, wie er dann später schreibt, indem man die Armen selber zu Teilhabern macht."
"Was einer allein nicht schafft, das schaffen viele", das ist der Grundgedanke der Genossenschaften, die zu Beginn noch Darlehenskassenvereine heißen. Wer Mitglied sein will, muss einen Anteil zeichnen, hat aber dafür auch ein Mitspracherecht.
"Am Anfang geht es eher um ein Versicherungsmodell, also dass man genügend Weizen zurückbehält oder nachher genügend Nahrungsmittel hat, wenn es einem schlecht geht. Und später geht es darum, es zu monetarisieren, zu sagen, wir legen was auf die Bank, wir verzinsen das durch uns selbst und versuchen dann durch das, was viele erreichen können, nicht einer, zu nennenswerten Beträgen zu kommen, die wir dann wiederum kollektiv entschieden einsetzen für einen Traktor oder für eine frühe landwirtschaftliche Maschine, die dann enorme Produktivitätszuwächse erlaubt."
Selbsthilfe wichtiger als Nächstenliebe
20 Jahre lang war Raiffeisen als Bürgermeister verschiedener Gemeinden tätig, dann wurde er aus gesundheitlichen Gründen in den Ruhestand versetzt. Ein Jahr später, 1866, veröffentlichte er seine Erfahrungen. Im Vorwort des Buches heißt es:
"Die hier vorgeschlagenen Vereine gründen sich auf die unbedingteste Selbsthilfe. Letztere bewirkt die Entfaltung sowie die möglichst ausgedehnteste Anwendung und Nutzbarmachung der Kräfte der Bevölkerung und des Bodens."
Selbsthilfe ist noch wichtiger als Nächstenliebe: Diese Einsicht verdankte Raiffeisen dem Mitbegründer der Genossenschaftsbewegung, dem sächsischen Juristen und Politiker Hermann Schulze-Delitzsch, mit dem er in engem Kontakt stand. Während Schulze-Delitzsch besonders die Probleme der Handwerker in der aufkommenden Industrialisierung vor Augen hatte, ging es Raiffeisen vor allem um die Bauern, die zwar von der Leibeigenschaft befreit, doch Markt und Großgrundbesitzern ausgeliefert waren.
Genossenschaftsidee ist heute Kulturerbe
1877 rief er den ersten Spitzenverband der ländlichen Genossenschaften ins Leben, um auf dem Markt gemeinsam stärker auftreten zu können. Elf Jahre später, kurz vor seinem 70. Geburtstag, starb Raiffeisen. Seine Idee allerdings lebt weiter.
"Die Genossenschaft ist da, um ihre Mitgliederbetriebe zu fördern und nicht um Profit zu maximieren, und das ist auch bis heute der große Unterschied, und das bleibt wohl auch noch der große Unterschied in der Zukunft, wenn wir uns angucken, wie wir uns auch in sehr modernen Genossenschaften heute bewegen, dann geht man doch von diesen Prinzipien nicht weg. Man kann in vieler Hinsicht professionalisiert haben, aber die Überlegungen, wie man eben die Gewinne verwendet und wie man die Mitglieder beteiligt, sind eigentlich immer die Gleichen."
Heute sind in Deutschland über 20 Millionen Menschen Mitglied einer Genossenschaft, global sind es über eine Milliarde. Ob als Mikrofinanzierung von Kleinbauern oder als Carsharing in Großstädten: "Die Idee und Praxis der Genossenschaft" hat sich weltweit so stark verbreitet, dass sie von der UNESCO vor anderthalb Jahren in die Liste des Immateriellen Kulturerbes aufgenommen wurde.