"22. Juni 1847: Lola Montez und Ludwig I. wollen den Sommer zusammen in Bad Brückenau verbringen. Die Tänzerin fährt mit dem Zug nach Nürnberg, wo sie freundlich empfangen wird. In Bamberg wird sie dagegen ausgepfiffen und mit Pferdeäpfeln beworfen. Deshalb beschließt sie, nicht dort zu übernachten, sondern noch in der Nacht in einer Kutsche über Würzburg nach Bad Brückenau weiterzufahren."
Das schreibt der Chronist Dieter Wunderlich. Lola Montez, die Männer anzog wie Motten das Licht, mit dem Großvater Ludwigs des Zweiten, der Neuschwanstein bauen ließ? Zur Sache: Das Staatsbad Bad Brückenau verfügt neben wiederbelebtem königlichem Glanz in seiner unmittelbaren Nähe über eine Attraktion, die in Deutschland wohl Ihresgleichen sucht: Das Deutsche Fahrradmuseum, mit einer großen Sammlung hochwertiger Exponate, aber auch liebenswertem Tüdelskram und sogar dem bescheidenen Nachlass von "Krücke", jenes Versehrten, der in den 30er-Jahren und der Nachkriegszeit die Sechstagerennen im Berliner Sportpalast mit kunstvollen Pfiffen zu beleben pflegte.
Fahrradladen wie zu Urgroßmutters Zeiten
Ein besonderes Glanzstück des Museums ist die Rekonstruktion eines alten Fahrradladens, den Originalgeruch eingeschlossen. Ivan Sojc, der das Museum leitet und die Sammlung zusammengetragen hat, kennt jedes Detail:
"Hier haben wir nämlich einen 30er-Jahre-Fahrradladen, wie er möglicherweise ausgeschaut haben könnte, das heißt, es ist eine Ladeneinrichtung von 1926 aus Aue im Erzgebirge und die Bestückung, das heißst, die Warenverpackungen, Reklame, selbst die Fahrzeuge sind alle aus den 30er-Jahren, sind noch unbenutzt, und wir versuchen so ein bisschen eine Atmosphäre dazustellen, wie so ein Laden eben ausgesehen haben mag. Was unterscheidet einen alten Fahrradladen von einem heutigen? Erst mal ganz äußerlich sieht man eben, dass die Werbung auf Metallplatten gedruckt war, auf Emailleschildern, was ja im Siebdruck aufgetragenes flüssiges Glas ist. Das heißt, selbst die Werbung hing lange draußen, und man hat eben für die Langlebigkeit der Produkte geworben. Viele Dinge, wie zum Beispiel Schräubchen, Ventile, waren nicht verpackt, sondern wurden in so Papiertütchen abgefüllt und dem Kunden übergeben, wie auch alle Teile eigentlich entweder lose waren oder in Papier oder Pappe verpackt sind. Und man könnte mit ein bisschen gutem Willen auch heute einen Fahrradladen, weil die Artikel eigentlich nahezu dieselben sind, komplett ohne Plastik oder Blisterverpackung führen."
Im Laden gibt es auch eine Bronzeklingel alter Machart, den Star unter den Klingeln. "Selbst das Schaufenster ist noch original von dem Geschäft", erklärt Sojc.
"Ein Freund, als das Haus abgerissen wurde hat da noch die Schaufensterscheibe gerettet, die haben wir hier eingebaut, was natürlich immer sehr schön ist, man sperrt die Tür auf und Besuchergruppen können dann diesen schönen Öl-/Gummigeruch inhalieren, der einfach so typisch für einen Fahrradladen ist und mir nach wie vor immer wieder gut gefällt."
Zwei Auslöser führten zur Erfindung
Wie war die Fahrradkultur entstanden? Karl von Drais, dessen Ruf als Fahrrad-Pionier nach langer Konfusion nun international gefestigt ist, war als Student der Universität Heidelberg Zeuge, wie sein Fürst Carl Theodor im Park von Schloss Schwetzingen mit einem Phaeton genannten vierrädrigen Luxuskarren umherfuhr. Ein Lakai hinter dem Fürsten bewegte hierfür Trethebel, die das Gefährt über Ratschen ins Rollen brachten. Die Konstruktion soll vornehmlich der Vermeidung von Pferdeäpfeln gedient und von Drais zu seiner legendären Laufmaschine inspiriert haben.
Bei der Realisierung kam ihm ein ausgewachsener Vulkan zu Hilfe, wie der Physikprofessor und Fahrradhistoriker Hans-Ehrhard Lessing überzeugend darlegt: Im April 1815 zerlegte sich der Vulkan Tambora auf der indonesischen Insel Sumbawa in gewaltigen Explosionen, die Unmengen von Staub und Schwefelsäure in die Atmosphäre entließen. Luftströmungen verteilten die Massen um die ganze Erde, wodurch die Durchschnittstemperaturen streckenweise so deutlich sanken, dass die betroffenen Menschen vom "Jahr ohne Sommer" sprachen. Regional verschieden führten Missernten zu schweren Hungersnöten, der Haferpreis schoss nach oben und der Pferdebestand brach zusammen. So auch in Karl Drais’ Wirkungskreis – seine zweirädrige Laufmaschine, entstanden nach Versuchen mit allzu schwergängigen Vierradkonstruktionen, hätte zumindest für berittene Boten ein Pferdeersatz sein können, das Zeug dazu hatte sie, sagt Ivan Sojc:
"Es war wirklich bahnbrechend. Das heißt, man konnte mit der Laufmaschine große Strecken relativ ermüdungsfrei zurücklegen, er war schneller als die damalige Postkutsche. Sie wog unter zwanzig Kilo ähnlich heute einem schlechten Trekkingrad, und das Ganze war sehr genial durchdacht, weil wie bei den heutigen Rädern auch das Gewicht des Fahrers wurde auf dem Sattel platziert und die stärksten Muskeln des Menschen, die Beinmuskeln, dienten ausschließlich der Fortbewegung. Gelenkt wurde mit den Händen, die Ellbogen ruhten auf einem Balancierbrett, dadurch war der Oberkörper auch ruhiger und die Atmung konnte besser stattfinden, das heißt, man konnte damit auch sehr ausdauernd unterwegs sein."
Bezahlbar, aber zunächst kein Erfolg
Drais' Laufmaschine hatte noch einen anderen wichtigen Vorzug: den Preis. Im Buch "Bicycle Design" von Tony Hadland und Hans-Ehrhard Lessing werden die Kosten eines Pferdes über seine Nutzbarkeitsdauer mit 1.700 Pfund beziffert; für Drais' Laufmaschine werden acht bis zehngenannt.
Ein kommerzieller Erfolg wurde die Laufmaschine für Drais dennoch nicht. Neben Widrigkeiten wie dem Fehlen eines guten Straßennetzes macht Hans-Ehrhard Lessing das Wirken missliebiger Monarchisten geltend, die Drais durch die demonstrative Rückgabe seines Adelstitels verärgert hatte. Überdies erschien die Einführung eines menschgetriebenen Fahrzeugs weniger dringlich, als ab 1817 wieder gute Getreideernten eingefahren wurden.
Eine erste halsbrecherische Weiterentwicklung
Aber die Idee vom schnellen Transport mit Menschenkraft war da und wurde weiter entwickelt. Das nächste große Ding war das Hochrad, dessen Höchstgeschwindigkeit vom Durchmesser des großen Antriebsrades abhing, weshalb es so groß wie möglich ausgelegt wurde – Details sind im Deutschen Fahrradmuseum zu sehen. Ivan Sojc erklärt:
"Da man jetzt genau auf der Vorderradachse saß, wanderte der Schwerpunkt ganz weit nach vorne, Steine, oder Schlaglöcher oder Hindernisse waren natürlich dann katastrophal, das heißt, mit dem Hochrad stürzte man nicht, sondern es ließ einen wie ein bockiges Pferd durch die Luft fliegen, also man wurde richtig abgeworfen vom Hochrad, die Landung war dann meist auf Hände oder Kopf, und, ja, Armbrüche, Genickbrüche waren dann an der Tagesordnung, leider."
Der prominenteste Komponist unter den Hochradopfern war wohl der Franzose Ernest Chausson, den sein Hochrad aus der Kurve trug und gegen eine Wand warf. Er war ein Meister der musikalischen Sublimierung sehnsuchtsvollen Schmerzes, der sicherlich auch Ludwig I. im Staatsbad Bad Brückenau durch Lola Montez zuteil wurde. Heute helfen dort moderne Elemente, die Sehnsucht im Keim zu ersticken; an der durchaus romantisch gestalteten Heilwasserzapfstelle etwa wird die Entnahme der – vorzüglichen – Heilwässer von einem Funkchip in der Kurkarte limitiert. Lola Montez hätte das nicht gefallen. Eine Webcam erschwert überdies unziemliche Kontaktaufnahmen.
Hochradfahrer nannten Niederradler "Memmen"
Zur Sache: Die Nachteile des Hochrades blieben dem Publikum nicht verborgen und es entstanden durch allerlei Kniffe wie Übersetzungsgetriebe Niederräder, den heutigen Rädern schon ähnlich, das bekannteste hieß "Safety", "Sicherheitsrad":
"Auch die Kopfüberstürze, die gefährlichen, waren nicht mehr da", sagt Sojc. "Man müsste jetzt meinen, daß so um 1887, 1888 alle auf das Sicherheitniederrad umgestiegen sind, aber dem war nicht so, der eine Teil fuhr weiterhin Hochrad – die Hochradfahrer meinten dazu, na ja, das ist für Frauen, Memmen, Weichlinge, bezeichneten die Niederradfahrer als Kriecher und fuhren weiter Hochrad – und das Hochrad selber ist durch eine ganz andere Erfindung ausgestorben, und das war der Luftreifen. Der Luftreifen egalisiert durch seine Dämpfungseigenschaften den Untergrund, die Straße, man ermüdet nicht so schnell, und natürlich der ganz große Vorteil: Die Geschwindigkeiten sind dramatisch gestiegen."
Vorsprung durch Luftreifen
Der Luftreifen war ein Segen, die Gummigewinnung zunächst ein Fluch. In Brasilien wie im Kongo wurde der Grundstoff Latex unter erbärmlichen Umständen gewonnen. Die Verhältnisse im Kongo inspirierten Joseph Conrad zu seinem Roman "Herz der Finsternis".
Der Luftreifen löste die mangelhafte Vollgummibereifung ab, erzählt Sojc: "Das heißt, das Niederrad mit Luftreifen, durch seinen geringen Luftwiderstand, ist dem Hochrad auf- und davon gefahren. Innerhalb von zwei Jahren brachen die Hochrad-Verkaufszahlen total ein und alle wollten eigentlich ein luftbereiftes Niederrad. Die Bereifung eines Niederrades mit Luftreifen hat ungefähr 50 Prozent des Kaufpreises ausgemacht."
Frauen im Sattel, Männer auf den Barrikaden
Und nun endlich schlug auf der Fahrradszene die Stunde der Frauen. Aber nicht ohne Widerstände, erzählt Sojc: "Das Frauenradfahren musste erkämpft werden, es galt als gebärfeindlich, man durfte sich in der Öffentlichkeit nicht erhitzen, das heißt schwitzen, Beine, Knöchel durften natürlich auch nicht gezeigt werden, kurzum, die Männer wollten die Frauen von dieser neuen Form der Mobilität und Freiheit fernhalten, liegt natürlich auf der Hand, man kann zu jeder Uhrzeit losradeln und in kürzester Zeit große Distanzen überwinden, ja, und diese neue Freiheit wollte man natürlich nicht teilen. Und die Toughesten und Mutigsten, die haben schon, weil es natürlich viel praktischer ist, schon so Art Hosenröcke, Pluderhosen angezogen, aber das Fahrradfahren für Frauen war nicht aufzuhalten. Und ab 1900, 1905 war es eigentlich auch normal."
Lola Montez hätte das Fahrradmuseum besucht. Sportlich, wie sie war, legte sie einmal – stehend – ein Bein auf die Schulter eines Herrn, um ihre Gelenkigkeit unter Beweis zu stellen. Das Hochrad wäre also kein Problem für sie gewesen. Das Staatsbad schämt sich ihrer übrigens keineswegs; ein schöner Saal, wie es heißt gemütlicher als der des Königs, jetzt renoviert, ist nach ihr benannt, es gibt eine Lola-Montez-Quelle. Wer von ihr trinkt, wird wieder quicklebendig, wie einst wohl auch Ludwig I., dem erst das Finanzamt in den Arm fallen musste, anderenfalls Lola Montez die bayerische Monarchie ruiniert hätte.
Fahrräder mit Windkraft
Und das Fahrrad? Wie geht es damit weiter? Ein kurzer Blick zurück, in das britische Wissenschaftsblatt "New Scientist": "Im April 1986 veralberte unsere Patentseite Anwar Faroogs Idee, Gegenwind auf eine Turbine zu lenken und damit ein Fahrrad anzutreiben. Mathias Schulenburg aus Köln fand die Idee bestechend und berechnete, dass es funktionieren könnte [...]. Zum Beweis lötete er zwei Zweiradmodelle zu einem Dreirad zusammen, befestigte daran eine Spielzeugwindschraube, die über eine Speiche ein altes Weckergetriebe bewegte, das die Drehung untersetzt mit einem Gummi-O-Ring auf die Hinterachse brachte. Wenn ein Fön auf das Dreirad gerichtet wird, fährt es in den Wind, sogar bergauf. Seinen Berechnungen zufolge sollten 10 Prozent Windradeffizienz das Dreirad mit 46% der Windgeschwindigkeit vorwärts bringen, allerdings bewegt sich das Gefährt bei einem Rückenwind rückwärts."
Heute werden in Holland bei Den Helder jährlich Meisterschaften mit Gegenwindrädern ausgetragen; 2016 kam das dänische Team mit mehr als 100% der Gegenwindgeschwindigkeit voran – allein mit der Kraft des Gegenwindes: Weltrekord. Die Teile sind allerdings noch nichts für den Alltagsverkehr.
Die steigende Verfügbarkeit kleiner elektrischer Antriebe, die in Preis und Leistung noch lange nicht ausgereizt sind, wird eine bunte Fülle von Fahrzeugen möglich und der automobilen Monokultur ein Ende machen.
Und vielleicht wandelt sich auch wieder das ästhetische Empfinden des Industriemenschen, der die mit Lauten von Lebewesen belebte Stille zu schätzen lernt.