"Das Veloziped erscheint am besten für jenes Segment der Gesellschaft geeignet, das wohl am zahlreichsten und aktivsten von allen ist: Männer im Vollbesitz ihrer Gliedmaßen, denen Pferde zuviel Ärger und Umstand, aber das Selberfahren einen Genuss und körperliche Ertüchtigung bedeuten, statt ein Horror zu sein."
Wir befinden uns im Jahr 1837 in England. 20 Jahre nach der Erfindung der Laufmaschine des Karl Drais in Deutschland erläutert Thomas Stephens Davies in einem Vortrag vor der Royal Military Academy die technischen Raffinessen dieser Erfindung und bewertet ihren Nutzen für die Gesellschaft – die männliche Gesellschaft:
"Ich bedaure, meine Herren, dass es in dieser Einrichtung hier nicht genug Platz hat, das Funktionieren der Maschine vollständig zu zeigen. Vielleicht sollte man es nicht unter einer Fahrt von 20 oder 30 Meilen tun, um ihren Nutzen ausreichen klar zu demonstrieren."
Begeistert stürzten sich die Engländer auf dieses Gefährt
Thomas Stephens Davies hatte die Laufmaschine selbst Erfahren dürfen, weil ein "deutscher Herr aus seiner Bekanntschaft namens Bernhard Seine" eine Broschüre mit nach England gebracht hatte. Genauer: Einen Prospekt, versehen mit einem Kupferstich, in dem der Erfinder Karl Drais den Bau seiner "Schnelllaufmaschine" genauestens beschrieb. Der Nachbau des Ur-Fahrrads war Dank dieser Anleitung kein Problem. Und weil das Patent des deutschen Freiherrn nicht über das Großherzogtum Baden hinausreichte und auch nur für zehn Jahre galt, hatte auch ein Engländer bald ein wirksameres Patent.
Am Landesmuseum für Technik und Arbeit, dem "Technoseum" in Mannheim, kann man in der Ausstellung "2 Räder - 200 Jahre" noch bis Ende Juni neben der Original-"Draisine" auch die Nachbauten sehen.
"Begeistert stürzen sich die Engländer drauf, und dieses Gefährt, das so aus den Jahren 1820 stammen wird, ist ein englisches Hobby-Horse, auch Dandy-Horse genannt - durchaus despektierlich gemeint: Die Reichen, die mit genügend Freizeit, können darauf rumfahren und machen das zum Vergnügungsgerät", sagt Thomas Kosche, Kurator am "Technoseum" in Mannheim. Karl Drais war selbst ein Mann in bester Gesundheit mit viel Freizeit und Geld. Ein Forstbeamter, der bei vollen Bezügen vom Dienst freigestellt war und Zeit hatte, sich seiner Erfindungslust zu widmen.
Seine Laufmaschinen verkaufte er an Adlige. Und im Vortrag des Engländers vor der Royal Military Academy scheint sie auch immer wieder durch: Die eher ungeduldige, draufgängerische und übermutige Klientel, die schnelle Fahrt wie schnelle Befriedigung suchte.
"Junge Männer, die nie ein Veloziped fahren gelernt hatten, probierten derart gefährliche Heldentaten, und wenn ihnen ein Missgeschick widerfuhr, gaben sie die Schuld statt sich selbst ganz dem Holz und Eisen, das sie trug."
Zunächst ein praktisches Spielzeug für Reiche
Das Fahrrad ist von Beginn an Spielzeug junger stürmischer Individualisten aber zugleich sehr praktisch.
"Solchen gibt das Veloziped die Möglichkeit, ohne große Ausgaben und schnell genug von Ort zu Ort zu fahren. Geht es kaputt, ist es leicht repariert. Und wenn es nicht gebraucht wird, braucht es an eine Mauer gelehnt nur wenig Raum."
"Die ersten planerischen Maßnahmen (lacht) waren eigentlich Abwehrmaßnahmen, dass man eben versucht hat, das ohnehin zu unterbinden und eben gesagt hat, da dürft ihr nicht mehr fahren. Also wenn Sie das so wollen, ist das auch Stadtplanung.
Es gibt in der Weimarer Zeit auch schon Fahrradwegebau, teilweise begleitend zu Landstraßen, sogar die Nationalsozialisten greifen das in den ersten Jahren auf und führen das weiter, um es dann einzufrieren. Dann ist es vorbei. Wenn wir über die 50er-Jahre reden, empfehle ich Ihnen hier dieses Zitat auf dem Boden: Da wissen Sie, welche Rolle das Fahrrad noch in der Planung spielt."
"Mopeds, Radfahrer und Fußgänger sind als seitlich bewegliche Hindernisse zu betrachten, die die Fahrbahnbreite vermindern."
Deutsche Straßenbaurichtlinien von 1956. Alle Anstrengungen und Verkehrsplanungen gingen in der Wirtschaftswunderzeit in Richtung Auto. Ganz anders sah es etwa zur selben Zeit in den Niederlanden aus.
Radfahren auf Niederländisch
"Die Amsterdamer fahren darauf in majestätischer Haltung, aufrecht und würdig wie Prinzen, in dichten Scharen, während die raren Automobillisten mit einem matten Lächeln der Entschuldigung in der Gosse dahinrollen."
So beschrieb 1953 der Franzose Jacques Faizant den Umgang der benachbarten Radfahrernation mit ihrem liebsten Fortbewegungsmittel. Ihm fiel auch auf, dass Fahrräder in Amsterdam schon damals so zahlreich und selbstverständlich waren, dass sie den Holländern kaum zum Gesprächsthema taugten. Faizant war ein Karikaturist und bei ihm liest sich das dann so:
"Ich kam recht schnell darauf, dass sich die 600.000 Radfahrer in dieser Einmillionenstadt einen feuchten Staub um ihre Fahrräder scheren. Die meiste Zeit lassen sie sie im Regen verrosten, in geradezu unglaublicher Weise aufeinandergetürmt; sie pflegen sie nicht, bewachen sie nicht - und wenn sie zu kaputt sind, werfen sie sie in die Grachten oder lassen sie einfach auf der Straße stehen.
'Natürlich schmeißt man sie in die Gracht!', sagte Maya. 'Was soll man denn sonst damit machen?" ( ... ) Auf dem Amsterdamer Flohmarkt kostet ein startklares Fahrrad sechsunddreissig neue Franc. "Mehr ist es nicht wert", sagte Maya'."
Touristenattraktion Rad
Wenn man heute nach Amsterdam reist - der Fahrradfahrernation wegen - blockieren vor dem Bahnhof Centraal erst einmal Hobby-Fotografen den Weg. Die lichten dort nämlich zu Hunderten täglich die Parkhäuser für Drahtesel ab: dicht an dicht gedrängt über mehrere Stockwerke geschichtet Tausende von Rädern. Die Amsterdamer wissen kaum noch wohin damit.
Wer sein Stahlross dort mehr als zwei Wochen stehen lässt, dem wird es gnadenlos geknackt und abgeschleppt. Dieses Fahrradparkhaus gehört zu den von Touristen meist fotografierten Motiven der Welt. Und der Wert eines Rades heute sei immer noch gering im Vergleich zum enormen Nutzen, erklärt Ruth Oldenziel, Professorin für Technikgeschichte an der Universität Eindhoven.
"Fahrräder sind bei uns eine Währung für Gelegenheitsdiebe geworden. Drogendealer in Amsterdam klauen sie für einen Joint am Tag. Das heißt der Fahrradpreis auf der Straße entsprach dem Drogenpreis.
Studenten mit wenig Geld kaufen diese geklauten Räder gern billig auf der Straße, und es gab schon jede Menge Kampagnen, um diese Entwicklung zu stoppen. Ich habe den Überblick verloren, aber ich glaube, mir persönlich - und ich besaß immer nur eines! - wurden bis heute zwischen 40 und 50 Räder geklaut."
Forschungsobjekt niederländische Fahrradkultur
Nicht die Fahrraddiebstahl-Kultur, wohl aber der selbstverständliche und auf seinen reinen Nutzen bezogene Umgang der Holländer mit ihren Rädern fasziniert derzeit die ganze Welt, sagt die niederländische Historikerin.
"Ein ganzes Forschungsteam versucht, bei uns die Frage zu beantworten, warum die Holländer Rad fahren. Jeder will dieses Mysterium erklärt haben. In unserem neuesten Buch "Cycling Cities" - Fahrradstädte - haben wir nach fünf Kriterien fünf niederländische und andere europäischen Städte verglichen. Das Ergebnis: Alle Städte haben andere Fahrradkulturen und eine holländische DNA für das Radeln gibt es nicht. Geradelt wird hier auch nicht, weil das Land flach ist. Andere Städte sind auch flach und da wird nicht Rad gefahren.
Was ist es dann? Es ist eine Kombination aus dem, wie Städte gebaut sind, aus dem Aktivismus der Leute und der Art des Verkehrssystems. Aber die eine Erklärung gibt es nicht."
Warum wird überhaupt nach einer Erklärung gesucht? Weltweit ersticken Städte in Autos und wollen das ändern - die Fahrradstadt sei das Modell für die Zukunft der Mobilität geworden, sagt Oldenziel.
"These days everybody wants to be a cycling city. (...) that is kind of revolutionary to see cycling as the important vehicle in a healthy livable sustainable city”
Neue Infrastruktur für Städte gefordert
"Politiker betrachten das Fahrrad als Vehikel zu einer lebenswerteren, gesünderen und nachhaltigen Stadt. Das ist sehr neu. New Yorks Bürgermeister Bloomberg bezeichnete das Radfahren als ökonomischen Motor für Wandel - und das, nachdem man ein halbes Jahrhundert lang Autos für den Wachstumsmotor gehalten hat! Für Städte ist das passé. Man kann sagen, das ist eine revolutionäre Einsicht."
"Die autogerechte Stadt, das war ja nun das große Ziel der 40er-, 50er-, 60er-Jahre. Davon haben wir immer noch sehr viele Spuren, und deshalb müssen wir für das Fahrrad jetzt mehr Platz schaffen, also keine Fahrradwege mehr, wie wir sie kennen, mit 80, 90 Zentimeter Breite, sondern das Fahrrad muss richtig auf die Fahrbahn und muss dann natürlich mehr Platz haben, damit auch mehr Fahrradfahrer da auch gut fahren können", sagt der Soziologe Professor Andreas Knie. Am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung ist er unter anderem der Geschäftsführer des Innovationszentrums für Mobilität und gesellschaftlichen Wandel. Dort arbeitet man daran, dass Fahrradstädte in Deutschland der Normalzustand werden.
"Hier war einmal ein Produkt des menschlichen Gehirns, das für seine Benutzer vollkommen wohltuend wirkte und anderen weder Schaden noch Ärger brachte. Der Fortschritt hätte halt machen sollen, als der Mensch das Fahrrad erfunden hatte."
Die Autoren Alan und Elizabeth West im Buch "Hovel in the Hills" von 1977.
"Da wir keinen Platz neu erfinden können, müssen wir die Fahrstraßen anders aufteilen, das heißt, wir müssen erst den ruhenden Verkehr reduzieren: Es kann nicht sein, dass jeder ein Auto hat, manche sogar zwei, drei, die aber doch nur rumstehen. 94 Prozent seiner Zeit steht das Auto rum, das heißt, wir müssen die Zahl der Fahrzeuge reduzieren und auf den fließenden Verkehr uns konzentrieren, und dann wird das auch funktionieren."
Schluss mit der Außenseiterrolle
Am Durchbruch des Fahrrads auf den Straßen komme man nicht mehr vorbei, sagt Andreas Knie: Schluss mit seiner Freizeit- und Außenseiterrolle. Auch in deutschen Städten werden wir Fahrradparkhäuser und Fahrradautobahnen haben wir die Holländer schon heute.
"Wir gehen davon aus, dass der Anteil des Fahrrads am sogenannten Modalsplit, also am Verkehrsmarkt, so bei etwa 30 Prozent aller Wege sein wird, das ist sehr, sehr viel. Und dementsprechend wird das Fahrrad ein ganz wichtiger, wenn nicht sogar einer der wichtigsten Verkehrsmittel in der Zukunft sein."
Ein unglaubiches Maß an individueller Freiheit
Nicht nur deutsche Städte- und Verkehrsplaner sähen das so, sagt Ruth Oldenziel. Die niederländischen Verkehrsforscher könnten sich vor Anfragen aus aller Welt kaum retten:
"Die Niederlande sind ein lebendes Labor. Wir haben zig Fahrradstädte und jeder findet eine passende Vorlage bei uns. Leute aus den USA, Australien, Kanada und Südafrika, aber auch Iran oder der Türkei suchen in Holland Rat. Sie wollen unser Buch übersetzen, weil auch sie in der Fahrradstadt die Zukunft sehen. Iran finde ich besonders faszinierend. Das Land öffnet sich nach dem Boykott gegenüber der westlichen Welt und auch für ihre historischen Städte und Verkehrsprobleme wird das Radfahren als Ausweg betrachtet. Es ist ein weltweites Phänomen."
"Der Boom des Fahrrads liegt auch daran, weil das Fahrrad auch schon zu seiner Start- und Geburtszeit ein unglaubliches Maß an individueller Freiheit erlaubt. Also eigene Zeit und eigener Raum sind eigentlich die Steilgrößen der Mobilität. Und das heißt, mit dem Rad kann ich sofort losfahren. Also ..wenn man es nicht ganz kompliziert angeschlossen hat, geht es ratz fatz und sie sind frei. Sie fahren, wie sie wollen. So.
Und das hat natürlich das Auto bisher in noch besserer Art und Weise geschafft, aber das Auto ist zu groß und verbraucht selber viel zu viel Platz. Und mit dem Fahrrad können Sie das wieder nachholen, sind sogar noch ein bisschen sportiver unterwegs und machen gute Sachen für die Umwelt - das Fahrrad verbraucht kein CO2 und hat einen wesentlich weniger großen Flächeneintrag. Das heißt, mit dem Fahrrad erfinden Sie das Auto quasi neu."
Das Auto neu erfinden? 1894 hatte Karl Benz Fahrradtechnik für das Gefährt genutzt, in das er seinen Verbrennungsmotor einbaute. Im Prospekt nannte er es: Benz-Velo.
Heute haben wir bereits das E-Bike, das elektrifizierte Fahrrad - das langsam immer größer wird. Mit zwei Vorderrädern fahren in Berlin schon auffällig oft praktische Lasten-Fahrräder herum. Setzt sich vielleicht über den "Umweg" Fahrrad ein kleines, schnelles Innenstädte-taugliches Elektro-"Velo-Automobil" durch? Dass dann so zahlreich gefahren wird, dass es dafür Geschwindigkeitsvorschriften und viel mehr Verkehrsregeln und damit auch neue Fahrerlaubnisse geben wird? Ob das dann noch die gerade gefeierte "Freiheitsmaschine" ist? Wir werden sehen.
"Wir gehen davon aus, hier im Wissenschaftszentrum, dass etwa die Hälfte aller Räder in kürzester Zeit elektrifiziert werden, weil Sie können dann mit dem Rad noch viel mehr machen. Und das ist nicht etwas nur für Senioren, wie man immer allgemein annimmt, sondern es ist ein alltagspraktisches Thema."
"Seht es euch nur an! Seine schlanke, elegante, schlichte, perfekte Linie, streng wie ein Lehrsatz des Euclid, einfach und doch eigenwillig wie der Riß, den ein Blitz in der blauen Spiegelfläche eines wolkenlosen Himmels hinterläßt. ( ... ) Was würde das Fahrrad wohl bedeuten, als Hieroglyphe auf einem ägyptischen Obelisk? Bewegung oder Ruhe? Das Flüchtige an der Zeit oder die Ewigkeit? Es würde mich nicht wundern, wenn es für Liebe stünde."
Der italienische Schriftsteller Curzio Malaparte 1949.