Christiane Florin: Nach der Christmette, in der Nacht vom 24. auf den 25. Dezember 1818, versammelten sich in Oberndorf in Österreich die Gläubigen um die Krippe, der Hilfspfarrer Joseph Mohr nahm sich die Gitarre und stimmte ein selbstgedichtetes Lied an. Stille Nacht. Es dauerte noch eine Weile, bis aus dem Weihnachtslied ein Volkslied wurde und aus dem Volkslied ein Welthit. Einige musikalische Spätfolgen haben Sie gerade gehört. 200 Jahre ist die Melodie alt, Franz Xaver Gruber hat sie geschrieben. Mohrs Text ist etwa zwei Jahre älter. Gerade ist ein Buch erschienen. Es heißt "Stille Nacht, heilige Nacht. Ewiges Lied" geschrieben hat es André Uzulis. Hauptberuflich ist er Pressesprecher der hessischen FPD-Fraktion. Herr Uzulis, der Retter ist da, lautet eine wichtige Zeile. Aus welcher Situation wollten die Menschen damals gerettet werden?
André Uzulis: Das war das Ende der Napoleonischen Kriege und Europa wurde ja vom Kopf auf die Füße gestellt. Es war eine ganz große Not im Land, die Ländergrenzen wurden neu gezogen. Das alte Fürsterzbistum Salzburg hatte seine Eigenständigkeit verloren. Große Teile des Landes, die Kornkammer, der Rupertiwinkel, wurden an Bayern abgetreten, es gab Hungersnöte und die ganzen politischen Umwälzungen waren gigantisch zu dem Zeitpunkt.
Es gab dann allerdings auch noch ein weiteres Ereignis, das den Menschen ganz ganz schwer zu schaffen gemacht hat, und zwar war das ein Vulkanausbruch 16.000 Kilometer entfernt, in Indonesien. Da ist der Tambora ausgebrochen. Das war die größte Vulkanexplosion überhaupt in der Geschichte der Menschheit. Und das hat zu einer gigantischen Klimakatastrophe weltweit geführt. Diese Ascheschicht verbreitete sich praktisch in der gesamten Atmosphäre und auch in Europa ging die Durchschnittstemperatur um zwei Grad zurück und das führte zu massiven Wetterumschwüngen, zu Hungerkatastrophen und zu einer ganz großen Not in der Zeit. Da musste Rettung her.
"Höheren Mächten zugeschrieben"
Florin: Eine Klimakatastrophe, die man sich - anders als heute - damals ja nicht erklären konnte. Wurde die auch als Rache Gottes gesehen oder auch als Strafe?
Uzulis: Die Menschen konnten sich das nicht recht erklären, woher das kam. Das wurde erst rund ein Jahrhundert später durch einen amerikanischen Klimaforscher überhaupt festgestellt, dieser Zusammenhang zwischen diesem Jahr ohne Sommer und diesem Vulkanausbruch. Aber die Menschen damals waren natürlich ahnungslos. Und haben das in der Tat höheren Mächten zugeschrieben.
Florin: Warum durfte Stille Nacht, heilige Nacht eigentlich nicht als Teil der Messe gesungen werden? Es musste nach der Christmette gesungen werden. Ist es nicht fromm genug oder zu volksfromm, vielleicht schon nah am Aberglauben?
Uzulis: Das würde ich nicht sagen. Dieses Lied drückt ja eine große Sehnsucht aus, nach Nähe, nach Liebe, nach Zuneigung Gottes. Es ist einfach ein Lied, das so in der Liturgie einfach keinen Platz hat. Da gibt es einen Kanon, der ist festgelegt für die katholische Liturgie. Und dieses Lied kam neu hinzu, hat die Menschen aber total ergriffen, weil es einfach an die Herzen ging. Und es geht nach 200 Jahren immer noch in die Herzen. Und man hat dieses Lied dann eben außerhalb der Liturgie, am Ende der Messe gesungen.
"Eingängig, populär, unpolitisch"
Florin: Das Lied hat in diesen 200 Jahren starke Veränderungen durchgemacht, im Text, aber auch in der Melodie. Es hat sechs Strophen, gesungen werden nur noch drei. Eine der weggefallenen Strophen, die heißt zum Beispiel: "Stille Nacht, heilige Nacht. Wo sich heut' alle Macht väterlicher Liebe ergoss. Und als Bruder huldvoll umschloss. Jesus, die Völker der Welt, Jesus, die Völker der Welt." Warum wurde diese Strophe gestrichen? Klingt ja fast schon politisch.
Uzulis: Das ist in der Tat eine sehr politische Strophe. Da muss man sich mal die Verbreitungsgeschichte dieses Liedes anschauen. Das Lied ist ja über Zillertaler Sänger, also Handwerkergesellen, die eben auch noch gesungen haben, nach Deutschland gekommen. Nach Leipzig. Es ist am 24. Dezember 1831 in Leipzig zum ersten Mal gesungen worden, von den Strasser Geschwistern. Also eine dieser singenden Handwerker-Familien. Und dort in Leipzig ist ein Musikalien-Händler auf das Lied aufmerksam geworden: August Robert Friese, der eine Verlagsbuchhandlung führte und Musikliteratur verlegte.
Der ließ dieses Lied, das da gesungen wurde, aufschreiben und in der Tat war er es, der dann das Lied gekürzt hat. Er hat bewusst die Strophen ausgesucht, die blieben, die ihm sehr eingängig, sehr populär und sehr unpolitisch erschienen. Das hat durchaus zum Erfolg dieses Liedes beigetragen, weil es, ich sag mal in dieser entschärften Form, kompatibel ist.
"Ein anderes theologisches Konzept"
Florin: Romantischer auch als die Völker der Welt zu besingen oder vom "grimmigen Herrn". Eine andere wichtige Verschiebung ist auch die von Jesus zu Christus. In der ursprünglichen Version heißt es auch "Jesus, der Retter ist da", heute wird gesungen: "Christ der Retter ist da". Das geht auf Johann Hinrich Wichern zurück, diesen evangelischen Sozialgiganten, auch Erfinder des Adventskranzes. Warum der Hoheitstitel Christus?
Uzulis: Joseph Mohr, man muss ihn sich vorstellen als ganz armen Priester in Lungau, im Salzburger Land, der die Not seiner Herde teilt. Der mit ihnen hungert, der die abgetragenen Klamotten trägt, die alle dort tragen in dem Dorf. Der wendet sich an den Jesus in seinem Gedicht, das er ja zuerst geschrieben hat. Und Jesus ist eben für die Menschen der damaligen Zeit der Bruder, der mit ihnen diesen schweren Weg geht. Sie haben zu Recht gesagt, dass Johann Hinrich Wichern, der Begründer der evangelischen Diakonie, von diesem Lied erfahren hat und dieses Lied umgedichtet hat. Er hat aus dem "Jesus" den "Christus" gemacht und wir singen ja bis heute Christus in Stille Nacht und nicht die Ursprungsversion mit Jesus.
Damit verbunden ist ein vollkommen anderes theologisches Konzept. Auf der einen Seite bei Joseph Mohr der diesseitige Jesus, der Bruder, der mit den Menschen geht. Bei Wichern, dem evangelischen Theologen, die Christologie des Auferstandenen. Das war für Wichern ganz wichtig, dass es hier um den entrückten Jesus gehen muss. In dem ergreifenden Lied, um den Christus. Um den Herrscher im Himmel. Der aber natürlich dann - und das ist die andre Seite der Medaille - sehr weit weg ist von den Menschen.
"Eine Friedenssehnsucht, die alle verbindet"
Florin: Es gibt "Stille Nacht" als Jazz, als Schlager. Wie wir vorher gehört haben. Mit symphonischer Instrumentierung und - wie im Original - auch nur mit Gitarre. Es gibt es in allen oder in fast allen Sprachen der Welt. Es wird auch nicht nur von Christen gesungen, ich hab kürzlich eine Version aus Indonesien gehört, dem größten muslimischen Land der Welt. Was ist christlich an diesem Lied und was ist deutsch?
Uzulis: Christlich ist natürlich die Entstehung, der Ruf an diesen Gott der Christen, der den Menschen in dieser großen Not helfen soll. Typisch deutsch ist, würde ich sagen, eine gewisse Heimeligkeit, eine Gemütlichkeit. Das sieht man auch daran, dass das Lied aus dem Kirchenraum ganz schnell seinen Weg in die Familien gefunden hat. Auch heute ist das noch so, dass das Lied insbesondere im Familienkreis gesungen wird und das hat seinen Anfang genommen in der Biedermeierzeit, als die Familie einen ganz anderen Stellenwert bekommen hat. Als die höheren Töchter Klavier lernten, die Kinder der Familie Gedichte aufsagen lernten. Man gemeinsam spazieren ging und natürlich hat man sich dann um den Weihnachtsbaum im Wohnzimmer versammelt und dabei dann Stille Nacht gesungen. Also hier der Rückzug ins Private. Das ist so ganz typisch deutsch an diesem Lied.
Andererseits, und Sie haben es ja richtig erwähnt: Das Lied ist inzwischen in 300 Sprachen übersetzt worden. Es wird wirklich von Milliarden Menschen gesungen, ist weit über den christlichen Hintergrund hinaus gewachsen. Als Friedenslied spätestens seit dem Ersten Weltkrieg ja bei allen Völkern bekannt. Und das hat etwas mit den grundsätzlichen Aussagen, glaube ich, in diesem Lied zu tun. Die eben darauf abzielen, dass es eine Brüderlichkeit, eine Sehnsucht nach Frieden, nach Harmonie gibt. Das ist etwas, was Menschen aus allen Kulturkreisen, aus allen Religionen verbindet und das ist eben das große Erfolgsgeheimnis von Stille Nacht, heilige Nacht.
Florin: Und da stört auch nicht "der holde Knabe im lockigen Haar"? In den Predigten wird ja meistens heute darauf verwiesen, dass Jesus in prekären Verhältnissen aufgewachsen ist. Dass er dann ein Flüchtlingskind war. Also gerade nicht so ein properer Knabe. Ein Kind, das unter ärmlichsten Bedingungen zur Welt kam.
Uzulis: Ja. Auch da muss man sich den Hintergrund der Zeit vorstellen. In den damaligen Krippen, die es ja dann im Salzburger Land oder im gesamten Süddeutschen Raum gab, da wird der Jesus häufig genau so dargestellt und wir können davon ausgehen, dass der Joseph Mohr genau dieses Bild vor Augen hatte von seinem geschnitzten Püppchen-Jesus mit lockigen blondem Haar. Und das hat er in seinem Lied verewigt. Aber Joseph Mohr wusste als Theologe und als Priester natürlich ganz genau, dass das nicht so ganz der Wahrheit entsprach. Dass Jesus ja tatsächlich in ärmsten Verhältnissen zur Welt gekommen ist. Aber ich glaube, dieses Bild vom Knaben im lockigen Haar, das drückt auch ein bisschen die Sehnsucht aus, wie man sich diesen Gott dann doch auch vorstellt. Nämlich mit ein bisschen mehr Schein und Glanz als das, was die Menschen dann doch so an Armut tagtäglich so um sich herum hatten.
"Die Kirche verlassen empfinde ich als Befreiung"
Florin: Sie selbst waren Pressesprecher des Bischofs von Trier. Sie haben vor einigen Monaten ihre Bescheinigung des Kirchenaustritts auf Facebook gepostet und da fiel das Wort "Befreiung". Befreit wovon?
Uzulis: Ich habe fünf Jahre lang sehr gerne und sehr intensiv für das Bistum Trier gearbeitet, aber ich habe eben auch gesehen, dass die katholische Kirche in Strukturen gefangen ist, die tatsächlich einengen. Der ganze Umgang mit dem Missbrauchsskandal war für mich auch der Anlass, diese Kirche zu verlassen. Und das empfinde ich auch als eine innere Befreiung. Ich glaube, dass man die Dinge, die dort vorgefallen sind, nicht so aufarbeiten kann, wie das die Kirche heute macht. Es müsste dort sehr viel weiter gehen. Und von daher ist diese Entscheidung relativ klar irgendwann gewesen. Wenn man in diesen Strukturen arbeitet, dann muss man sich entscheiden, ob man die so auch vertreten will. Oder ob man eine andere Idee von Kirche hat.
Florin: Gehen Sie Weihnachten in die Kirche?
Uzulis: Ich gehe Weihnachten in die Kirche. Das gehört bei uns zur Tradition. In der Kindheit haben wir das gemacht, mit meinen Eltern und da ist natürlich auch immer Stille Nacht gesungen worden und das habe ich mein Leben lang beibehalten. Das ist für mich ein ganz ganz wichtiger Moment zur Geburt Christi auch in dieser Gemeinschaft der Gläubigen zu sein und dieses Fest zu feiern.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
André Uzulis: Stille Nacht, heilige Nacht. 200 Jahre ewiges Lied. Bonifatius-Verlag Paderborn, 204 Seiten, 22,90 Euro.