Christoph Heinemann: Napoleon und seine restaurierte kaiserliche Armee, darunter viele Veteranen aus früheren Feldzügen, auf der einen Seite; auf der anderen der Herzog von Wellington und der preußische General Blücher. Problem: Deren Armeen mussten erst zusammenfinden, und das entschied dann die Schlacht, die heute vor 200 Jahren in der belgischen Ortschaft Waterloo tobte. Bernard Cornwell ist britischer Journalist und Autor des Buches „Waterloo - eine Schlacht verändert Europa". Ich habe ihn vor dieser Sendung gefragt, welcher der entscheidende Augenblick dieser Schlacht war?
Bernard Cornwell: Es gab jede Menge entscheidender Augenblicke. Nehmen wir den einen, morgens gegen neun Uhr. Ihre Hörer werden das wissen: Der Herzog von Wellington musste irgendwie überleben, bis die Preußen ihm zu Hilfe kamen. Er benötigte dringend und verzweifelt Zeit. Und gegen neun Uhr an diesem Morgen entschied Napoleon, den Beginn der Schlacht um zwei Stunden zu verschieben. Damit gab Napoleon seinen Feinden das, was die haben wollten: Zeit.
Heinemann: Er war sicher, dass er siegen würde?
Cornwell: Er war sicher und hätte nicht gekämpft, wenn er das nicht geglaubt hätte. Er hat immer gesagt: Man kann nur in eine Schlacht ziehen, wenn die Chancen sieben zu zehn stehen. Er dachte, dass es neun zu zehn zu seinen Gunsten stehen würde. Berühmt ist auch seine Einschätzung in der Nacht vor der Schlacht. Er sagte, "Die Preußen können uns nicht erreichen, sie können Wellington nicht zu Hilfe kommen. Die benötigen mindestens zwei Tage". Damit lag er natürlich vollkommen falsch.
Der Waterloo-Feldzug war auch eine Geschichte französischer Fehlleistungen. Das Einzige, was die Franzosen schaffen mussten, war, die Briten und die Preußen getrennt voneinander zu halten. Daran sind sie erkennbar gescheitert. Napoleon hatte Marschall Grouchy mit 33.000 Mann und 96 Kanonen abkommandiert. Sein Auftrag war einfach: die Preußen vom Schlachtfeld fernzuhalten. Stattdessen lief er herum und hatte keine Ahnung, wo sich Blüchers Truppen befanden. Und natürlich erreichten die Preußen das Schlachtfeld.
Zwei Tage vor der Schlacht der größte Fehler
Heinemann: Also jede Menge taktischer und strategischer Fehler...
Cornwell: Jede Menge, auch im weiteren Verlauf des Tages. Die Preußen tauchten an Napoleons rechter Flanke auf. Er hätte immer noch siegen können, denn Wellingtons Frontlinie wurde immer dünner, seine Armee immer schwächer. Am späten Nachmittag erzielten die Franzosen ihren großen Erfolg. Sie eroberten den Bauernhof La Haye Sainte, direkt gegenüber der Mitte von Wellingtons Frontlinie. Marschall Ney hat Napoleon sofort um Verstärkung gebeten und gesagt, "hier können wir einen Angriff mitten durch Wellingtons Linie führen". Keiner glaubt, dass dieser Angriff nicht den Durchbruch gebracht hätte, denn an dieser Stelle war Wellington vollkommen schwach. Aber Napoleon verweigerte die Verstärkung. Und das hat Wellington die Zeit verschafft, um seinerseits für Verstärkung zu sorgen. In vielerlei Hinsicht ist diese Schlacht dies eine Geschichte französischer Irrtümer.
Heinemann: Marschall Ney war einer der erfahrensten Heerführer. Sie beschreiben ihn als zögerlich und einen, der ständig falsche Befehle gab. Wie ist das zu erklären?
Cornwell: Napoleon nannte ihn einen Idioten, was einen verwundern mag, da Napoleon ihm die Schlacht anvertraut hatte. Seinen größten Fehler hatte Ney aber schon zwei Tage früher begangen. Wir dürfen nicht vergessen, dass diese Schlacht vier Tage dauerte. Zwei Tage vorher fanden gleichzeitig die Schlachten von Ligny und Quatre Bras statt. In diesen Schlachten treibt Napoleon einen Keil zwischen Briten und Preußen. In Ligny werden die Preußen zurückgeschlagen. Ney hat in Quatre Bras nicht angegriffen. Er verschiebt und verschiebt. Bis Wellington seine Truppen zu dieser Wegkreuzung führen kann. Ney hat zwei Tage vor Waterloo versagt. Und als Napoleon hörte, dass er Quatre Bras nicht eingenommen hatte, sagte er: "Sie haben Frankreich verloren". Er hat ihm trotzdem das Kommando über die Armee in der Schlacht von Waterloo übertragen.
Heinemann: Waterloo ist eine Geschichte der Zeit, die immer knapper wird...
Den Feind im Pulverdampf kaum gesehen
Cornwell: Ja, und Wellington, der immer schwächer wurde, hätte sich auf Waterloo niemals eingelassen, wenn er nicht geglaubt hätte, dass Blücher ihm zu Hilfe kommen würde. Und Blücher wäre ihm niemals zu Hilfe gekommen, wenn er nicht damit gerechnet hätte, dass Wellington aushalten würde. Die Preußen kamen viel später als geplant, was nicht ihre Schuld war. Klingt merkwürdig, aber das war sogar gut so, denn zur dieser Zeit war die gesamte französische Armee im Einsatz, und es gab nicht die Möglichkeit, Truppen abzuziehen. Die Verspätung der Preußen führte dazu, dass die Franzosen restlos aufgerieben wurden und nicht nur eine Niederlage erlitten.
Heinemann: Wie funktionierten Aufklärung und Kommunikation während der Schlacht?
Cornwell: Überhaupt nicht. Es war schrecklich. Im Deutschen wird es seine ähnliche Redewendung geben, in Englisch sagen wir "blue on blue", wenn man auf die eigenen Leute feuert. Und das passierte in großem Umfang, als die Preußen an der linken britischen Flanke auftauchten. Man darf nicht vergessen, die haben fast nur Pulverdampf gesehen. Ein Offizier hat nach der Schlacht gesagt, er habe den Feind kaum gesehen, sondern nur Rauch. Sie haben die Blitze des Musketenfeuers gesehen und darauf gezielt. Die Kommunikation funktionierte nicht und es gab Missverständnisse. Vor allem Gneisenau, wenn ich den Namen richtig ausgesprochen habe. er war Blüchers Stabschef. Er vertraute Wellington überhaupt nicht und mochte die Briten nicht. Er hatte mit den Briten im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg gekämpft und hatte keine gute Meinung über deren Kampfkraft. Aber er führte Befehle aus und war ein hochintelligenter Mann. Dennoch misstraute er den Briten nun einmal und das führte zu einer Reihe von Problemen.
Heinemann: Wellington und Gneisenau haben schließlich zusammengearbeitet. War Waterloo ein europäischer Sieg?
Cornwell: Nein, es war ein britisch-niederländisch-deutscher Sieg. Auf dem Schlachtfeld kämpften wesentlich mehr Deutsche als Briten. Von Wellingtons 75.000 Mann waren 40.000 niederländisch oder deutsch. Die Briten haben nach Waterloo von einem großen britischen Sieg gesprochen. Das war er nicht, es war ein alliierter Sieg. Blücher hatte recht, als er sagte, man müsse vom Sieg von Belle Alliance sprechen. So hieß das Gasthaus, in dem er Wellington am Abend der Schlacht traf. Blücher schaute Wellington an und sage: "Ein Kamerad, was für ein Ereignis". Wellington meinte, das waren die einzigen beiden französischen Worte, die der Mann beherrschte.
Der Beginn eines britischen Jahrhunderts
Heinemann: Wie wichtig ist die Schlacht von Waterloo in der Geschichte des Vereinigten Königreichs?
Cornwell: Sie ist sehr wichtig. Sie steht am Beginn des 19. Jahrhunderts, das ein britisches Jahrhundert war, da Britannien die Welt beherrschte. Mit Waterloo beginnt das. Waterloo beendete außerdem eine jahrhundertelange Rivalität zwischen Frankreich und Britannien. Und es steht am Beginn des deutschen Nationalismus, als Reaktion auf die Napoleonischen Kriege und mit dem Stolz auf das Erreichte. Es ist der Beginn eines neuen Zeitalters.
Heinemann: Das Vereinigte Königreich spielte jahrhundertelang eine wichtige Rolle auf dem europäischen Kontinent. Wenn Sie auf das angekündigte Referendum über die EU-Mitgliedschaft schauen, glauben Sie, dass die Briten diese europäische Tradition und diese Verbindung mit Europa loswerden wollen?
Cornwell: Glücklicherweise bin ich inzwischen amerikanischer Staatsbürger und lebe in Amerika. Ich weiß überhaupt nichts darüber. Ich glaube, sie werden ziemlich sicher in Europa bleiben. Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, dass sich die meisten Europäer keinerlei Veränderungen der Europäischen Union wünschten. Denn vermutlich haben wir doch noch anderes zu tun, als für französische Bauern zu zahlen...
Heinemann: Früher kamen die Zugreisenden, die von Paris aus im Eurostar nach London führen, am Waterloo-Bahnhof an. Inzwischen endet der Zug im St-Pancras-Bahnhof .
Cornwell: Das ist eine Tragödie, dass die Franzosen nicht gezwungen sind, im Waterloo-Bahnhof auszusteigen. Jetzt endet der Zug in St. Pancras. Wir wissen nicht einmal, wer St. Pancras war. Schade.
Heinemann: Geschichte ist sehr wirkmächtig.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.