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2015 und die Medien
Charlie, netzpolitik.org, Varoufake

Das Jahr 2015 war ein bewegtes, krisenreiches Medien-Jahr: Der Angriff auf die Redaktion der französischen Satirezeitschrift "Charlie Hebdo", das Verhalten von Journalisten nach dem Absturz einer Germanwings-Maschine in den französischen Alpen und ein aufsehenerregendes Video des damaligen griechischen Finanzministers sind nur drei Beispiele dafür.

Von Christoph Sterz |
    Eine Glas mit einer Kerze und der Aufschrift Je suis Charlie wird am 13.01.2015 in Berlin vor dem Brandenburger Tor gehalten.
    Der Anschlag auf das französische Satiremagazin "Charlie Hebdo" war ein Thema des Jahres 2015. (picture alliance / dpa / Kay Nietfeld)
    Wer nach zwölf Monaten auf das vergangene Jahr zurückschaut, der hat so gut wie immer das Gefühl, dass das ein volles, ein bewegtes, ein sehr schnelles Jahr war. Und wenn wir auf das Medienjahr 2015 zurückblicken, dann gilt das umso mehr; so viele Ereignisse sind da aufeinander gefolgt, haben sich überlagert, vielleicht auch verdrängt. Deswegen nehmen wir uns in den nächsten 25 Minuten das Jahr 2015 noch einmal ganz genau und mit der nötigen Ruhe vor, und schauen, was war, was aus vielleicht vergessenen Themen geworden ist, aber auch ganz einfach, was nicht mehr weggeht, was über das Medien-Jahr 2015 hinaus ein Thema bleiben wird - das also klären wir in dieser Sonderausgabe von Markt und Medien, zu der Sie Christoph Sterz begrüßt.
    Am Anfang steht ein Angriff auf die Pressefreiheit, mitten in Europa. Zwölf Menschen werden getötet am 7. Januar 2015, in den Redaktionsräumen von "Charlie Hebdo". Seitdem kennt wahrscheinlich jeder das bis dahin kleine französische Satire-Magazin; jeder ist ein paar Wochen lang Charlie; eine große Bürde für die Überlebenden des Attentats.
    Charlie-Hebdo-Chef Gérard Biard: "Innerhalb weniger Minuten sind wir zu einem weltweiten Symbol geworden. Zum Inbegriff der Meinungsfreiheit und der Freiheit des Gewissens. Aber ich sage Ihnen was: Das ist nicht unsere Aufgabe. Keiner bei Charlie Hebdo hat einen Vertrag unterschrieben, in dem steht, dass er ein Held sein soll."
    Helden wollen sie also nicht sein, sie machen einfach weiter, bringen schon eine Woche nach dem Attentat eine neue Ausgabe von Charlie Hebdo heraus, kritisieren nach wie vor alles und jeden, also auch Religionen. Die Redaktion bekommt viel Solidarität zugesprochen, erhält viele Spenden, verkauft auf einmal Hunderttausende Exemplare. Aber irgendwann sind selbst in Paris nur noch die Touristen Charlie.
    "Früher haben wir Charlie Hebdo nie an Ausländer verkauft, aber das Attentat hat die Zeitung im Ausland bekannt gemacht. Franzosen kaufen die Zeitung dafür kaum noch. Nein. Das ist vorbei."
    Was dieser Zeitungsverkäufer sagt, bedeutet nicht, dass das Attentat auf Charlie Hebdo komplett in Vergessenheit geraten ist. Es ist nur verdrängt worden, von weiteren Anschlägen, von anderen Themen, vom Alltag - selbst von Medienkritik, bisher ein klares Nischen-Thema.
    Europäische Staats- und Regierungschefs nehmen an einem Gedenkmarsch in Paris teil und setzen so ein Zeichen gegen religiös motivierte Gewalt.
    Europäische Staats- und Regierungschefs nehmen an einem Gedenkmarsch in Paris teil und setzen so ein Zeichen gegen religiös motivierte Gewalt. (AFP / Philippe Wojazer)
    Umstrittener Tagesschau-Bericht
    Ein kurzer Bericht in der Tagesschau, er löst im Januar eine erste größere Medien-Diskussion aus. In der Nachrichtensendung sieht es nämlich so aus, als würden Spitzenpolitiker aus aller Welt einen großen Charlie-Hebdo-Solidaritätsmarsch in Paris anführen. Dabei laufen sie abgeschirmt, weit entfernt von der eigentlichen, viel größeren Demonstration - ein guter Zweck also, aber trotz allem eine klare Inszenierung. Dass der Politiker-Marsch inszeniert ist, zeigen Bilder aus der Vogelperspektive - die aber sind nicht in der Tagesschau zu sehen. Stattdessen nur von vorne gefilmte, gut in Szene gesetzte Politiker - ein Vorgang, den der Medienjournalist Stefan Niggemeier mitsamt der nachfolgenden Diskussion noch immer irritierend und gleichzeitig entlarvend findet:
    "Es gab diese Bilder, es gab eine Kritik daran, die ich im Kern berechtigt fand, zu sagen, ihr macht hier eine Inszenierung und ihr macht die nicht als solche kenntlich. Und dann war die Reaktion der Tagesschau im Grunde zu sagen, jetzt ist aber auch mal gut, und auch zu sagen, es muss doch eigentlich auch möglich sein, bei so einem Ereignis so große Bilder so toll wirken zu lassen. Wo ich glaube, das ist nicht die Aufgabe von Journalisten. Ehrlich gesagt, was ich am wenigsten verstanden habe ist, es war ja vorher schon klar, dass es so ein Klima gibt der Skepsis von einem erheblichen Teil des Publikums, das sagt, wir glauben euch das nicht, ihr steckt mit denen unter einer Decke. Und da dann nicht im Nachhinein zumindest so eine Sensibilität zu haben zu sagen, okay, das war irgendwie nicht gut, wie wir das gemacht haben, das hat mich am meisten gewundert."
    Auch wenn es nur ein kleiner Moment ist in diesem bewegten, ereignisreichen Jahr 2015: Es ist ein gutes Beispiel für zwei zentrale Erkenntnisse: Erstens nimmt eine grundsätzliche Medienskepsis auf einmal sehr viel Raum ein in Deutschland, wie groß diese Skepsis auch immer genau sein mag. Und zweitens tun sich die Redaktionen schwer damit, mit dieser kritischen Grundhaltung umzugehen; neigen immer wieder dazu, Kritik als ungerechtfertigt, als zu pauschal abzutun.
    Interviews um jeden Preis nach Germanwings-Unglück
    Dabei ist ja unbestritten, dass Journalisten vieles richtig, aber eben auch eine Menge falsch machen; im Jahr 2015 zum Beispiel vor allem im westfälischen Haltern am See, nach dem Absturz einer Germanwings-Maschine Ende März.
    Der 19-jährige Mika Baumeister war bis zum Sommer Schüler in Haltern, am Joseph-König-Gymnasium. 16 Schülerinnen und Schüler und zwei Lehrerinnen waren bei dem Absturz ums Leben gekommen. Und deswegen kamen von einem Tag auf den anderen Dutzende Journalisten in das westfälische Städtchen.
    "Es ist an sich nicht schlimm, dass viele Kamerateams da sind. Allerdings wenn sich da so ein paar ungebührlich verhalten, ziehen sie die ganzen anderen Medienvertreter in den Dreck, um das mal so zu sagen. Sprich, wenn wir jetzt von irgendeinem Portal jemanden haben, der minderjährige Schüler, also besonders schützenswerte Personen, mit Geldversuchen ein Interview zu bekommen, das ist einer von vielen Fällen, der allerdings am häufigsten aufgetaucht ist."
    Eine knappe Woche nach dem Unglück hat Mika Baumeister einen Blogeintrag geschrieben. Darin führt er die schlimmsten Verfehlungen auf, appelliert an das Verantwortungsbewusstsein der Journalisten. Dass vermeintliche Sensationsmeldungen aber überhaupt recherchiert werden, dass Journalisten Hinterbliebenen möglichst nahe auf die Pelle zu rücken versuchen, das hat auch etwas mit der Sensationsgier der Mediennutzer zu tun, mit jedem einzelnen Menschen, meint Mika Baumeister.
    Menschen trauern in Haltern am See um die Opfer des Flugzeugunglücks in Südfrankreich.
    Menschen trauern in Haltern am See um die Opfer des Flugzeugunglücks in Südfrankreich. (AFP / Sascha Schürmann)
    "Man merkt es ja am Erfolg der Bild-Zeitung zum Beispiel, dass Sensationen oder eine Überschrift mit einem Ausrufezeichen immer besonders gut kommen und auch die Klicks bringen oder die Zuhörer oder die Zuschauer, was auch immer. Und gerade das ist auch ein Problem, das ich glaube, was man beheben sollte. Das ist diese Medienkompetenz, dass die von klein auf gelehrt werden sollte. Denn nur so lässt sich so ein sensationsheischender Journalismus verhindern oder zumindest einschränken."
    Medienkritik zentrale Herausforderung für Redaktionen
    Mika Baumeisters Medienkritik ist also fundiert, nicht pauschal, sondern klar begründet und nachvollziehbar. Eine solche Kritik ganz ernsthaft anzunehmen, sich wirklich damit zu beschäftigen und nicht einfach abzutun, das ist die zentrale Herausforderung, der sich die Redaktionen im Jahr 2015 und auch darüber hinaus unbedingt stellen müssen, meint Bernhard Pörksen, Medienwissenschaftler an der Universität Tübingen.
    "Ich persönlich glaube nicht, dass wir gut daran tun, die Stimmen, die uns aus dem Netz erreichen, pauschal abzuwerten, pauschal von einem Shitstorm, einem Mobbing-Spektakel, vom digitalen Mob zu reden. Die Gefahr ist nämlich, dass sich nach einer ohnehin schon leicht bedrohlichen Medienverdrossenheit und einer oft pauschalen Medienkritik eine vielleicht ähnlich pauschale Publikumsverdrossenheit herausbildet. Das heißt, man muss sehr genau hinschauen. Pauschales Publikums-Bashing wäre gerade in dieser Situation allgemeiner Aufgeregtheit, die wir im Jahr 2015 erlebt haben, ganz und gar fatal."
    Bernhard Pörksen macht aber eine wichtige Einschränkung: Rassisten dürfe nicht der rote Teppich ausgerollt werden; und das ist gerade im Jahr 2015 wichtig zu betonen. Denn es gibt zunehmende Attacken gegen Journalisten, sowohl virtuell, in Form von Hasskommentaren vor allem auf Facebook, also sogenannter Hate Speech, als auch körperlich, besonders in Dresden, während der Pegida-Demonstrationen:
    "Vor allen Dingen so seit einem halben Jahr, seit einigen Monaten ist da wie so ein Damm gebrochen. Es passiert immer wieder. Also wenn ich jetzt hier offen mit der Kamera rumlaufen würde, ich habe das auch am Anfang noch gemacht, mit zwei Kameras rumzulaufen und eindeutig zu erkennen bin als Pressevertreter, dann kann das sehr schnell mit Unannehmlichkeiten verbunden sein. Das heißt nicht, dass man gleich geschlagen wird, aber man wird natürlich beleidigt, geschupst."
    Mit plausibler, tatsachengestützter Medienkritik hat das nichts zu tun - und deswegen ist es so wichtig geworden, diese Angriffe und die dazugehörenden dumpfen Parolen sauber zu trennen von berechtigten Beschwerden, von kritischen Anmerkungen wie denen von Mika Baumeister, dem Schüler aus Haltern. Der ist übrigens trotz der klaren journalistischen Fehltritte kein Medienverdrossener geworden. Er will selber Technikjournalist zu werden.
    Der berühmte Finger Varoufakis'
    Dass es gar nicht leicht ist, als Journalist zu sagen, ob es etwas richtig oder falsch ist, ob etwas gefälscht oder wahr ist, das zeigt sich ebenfalls im Frühjahr 2015, als es in den Nachrichten gerade vor allem um Griechenland geht. Und da landet ZDF-Mann Jan Böhmermann einen Coup; nach einer Ausgabe des inzwischen eingestellten Talks mit Günter Jauch. In der Sendung geht es Mitte März um die finanzielle Lage Griechenlands, aber eben auch um eine jahrealte Geste von Yanis Varoufakis, zum Zeitpunkt des Talks griechischer Finanzminister.
    Verwirrung über den Stinkefinger von Yanis Varoufakis in der ARD-Sendung "Günther Jauch".
    Verwirrung über den Stinkefinger von Yanis Varoufakis in der ARD-Sendung "Günther Jauch". (dpa / picture alliance / I&U TV Produktion GmbH & Co. KG)
    Jan Böhmermann behauptet in seiner Sendung Neo Magazin Royale, das entsprechende Video mit dem Stinkefinger von Yanis Varoufakis gefälscht zu haben.
    Am Ende erklärt das ZDF, dass Böhmermanns Fake nur ein Fake war, dass der Stinkefinger-Ausschnitt echt ist. Wobei es bei der ganzen Diskussion sowieso eigentlich um etwas ganz anderes geht; um die Frage, ob man wirklich tagelang über eine jahrealte Geste eines Politikers berichten und diskutieren muss, meint der Medienkritiker Stefan Niggemeier:
    "Das war auf jeden Fall ein wichtiger Moment, weil der ein satirisches Element war bei einer wirklich völlig entglittenen Diskussion über Griechenland. Aber auch natürlich um zu zeigen, wie man in relativ kurzer Zeit so einen Fake machen kann. Also auch da war das natürlich dieser ganz banale Lerneffekt: Glaubt nicht alles, was ihr seht. Das war eine gute Erinnerung."
    2015 wird also viel diskutiert über Journalismus, über das, was im Netz steht, was im Fernsehen läuft. Das tut manchmal weh, es kann den Journalisten aber auch dabei helfen, ihre eigene Arbeit stärker zu reflektieren, und so Fehler zu vermeiden.
    Grenzen der Berichterstattung
    Manchmal ist es allerdings fast unmöglich, neutraler Berichterstatter zu sein, die private Person vom journalistischen Auftrag zu trennen; weil man als Reporter selbst Teil des Geschehens ist. Vor allem in Südosteuropa ist das 2015 so, entlang der Wege, auf denen tausende Flüchtlinge unterwegs sind, und die werden eben auch begleitet von Journalisten, zum Beispiel von der ARD-Fernsehkorrespondentin Susanne Glass.
    "Einerseits denke ich, sollte man als Journalist sich zurücknehmen, beobachten, relativ neutral das wiedergeben, was man sieht. Und wenn man dann aber das Elend dieser Menschen sieht und vor allem die vielen Kinder, dann hat man einfach das Gefühl, ich möchte helfen, ich möchte etwas tun. Und vor allem in Budapest, da stand ich am Ostbahnhof und dachte mir, meine Güte, das ist eine europäische Hauptstadt! Wie kann denn so etwas hier passieren? Und da fühle ich mich auch als überzeugte Europäerin irgendwie mitverantwortlich und ich schäme mich auch mit."
    Eine große Herausforderung für Journalisten also; mit wohl nur einer einzigen Möglichkeit, das Problem zu minimieren: Offen darüber zu reden, über die schwierigen Umstände zu sprechen, so wie es Susanne Glass tut.
    "Wir haben Flüchtlinge durch Serbien durch begleitet. Jetzt will man journalistisch zeigen, wie es denen geht, möglichst realistisch. Also wenn die in Belgrad in einer für sie fremden Stadt aussteigen und herumirren, müsste man sie ja eigentlich herumirren lassen, um zu zeigen, wie die Panik dieser Menschen ist. Aber wir wussten natürlich wo es hingeht, wo sie hingehen sollen. Also in welchem Moment gibt man ihnen einen Tipp? Wann sagt man ihnen, geh doch da und dort hin und greift dann in den eigenen Film ein? Das war ein solches Abwägen in diesen Momenten, wie ich es selten im Job bis dato erlebt habe."
    Polizisten in Schutzkleidung und Helm zerren an einer muslimischen Frau mit ihrem Kleinkind auf dem Arm.
    Die ungarische Polizei holt eine Mutter mit ihrem Kind aus einem Zug von Budapest nach Österreich. (AFP / ISTVAN BIELIK)
    Aber nicht nur die Reporter vor Ort, auch die Redaktionen in Deutschland bekommen es mit ganz neuen und gleichzeitig altbekannten Fragestellungen zu tun: Zeigen wir Bilder von toten Flüchtlingskindern? Berichten wir ausführlich über Anschläge auf Flüchtlingsheime oder über Gewalt in den Unterkünften? Fragen sind das, die sich nicht pauschal beantworten lassen, die aber unbedingt gestellt werden müssen; egal ob von Journalisten selbst oder von ihren Lesern, Hörern, Zuschauern - weil sie zu einer reflektierteren Haltung führen können. Deswegen hat er also auch etwas Positives, etwas Bleibendes, dieser kritische Medien-Blick im Jahr 2015.
    netzpolitik.org: Verfahren wegen Geheimnisverrats
    Ein Besuch bei einem, der ebenfalls Positives aus einer vermeintlich negativen Sache zieht: Markus Beckedahl, Chef von netzpolitik.org; einem kleinen Blog, das im Sommer plötzlich sehr bekannt geworden ist, wegen eines Briefs, der inzwischen eingerahmt in Beckedahls Büro hängt.
    Beckedahl: "Betrifft Ermittlungsverfahren gegen Andre Meister, zweitens Markus Beckedahl, drittens unbekannt wegen des Verdachts des Landesverrats, hier: Bekanntgabe der Einleitung des Ermittlungsverfahrens. Sehr geehrter Herr Beckedahl, im Hinblick auf die Bestimmungen des Absatz 1, Nummer 1, Variante 2, Strafgesetzbuch in Verbindung mit Paragraph 22 Absatz 1 gebe ich Ihnen Kenntnis davon, dass ich aufgrund von Strafanzeigen des Bundesamtes für Verfassungsschutz gegen Sie ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des Landesverrats gemäß Paragraph 94, Absatz 1, Nummer 2, 25, Absatz 2, 53, Strafgesetzbuch eingeleitet habe."
    Christoph Sterz: "Und das hängt direkt neben dem Land der Ideen:"
    Beckedahl: "Ja, neben unserer Auszeichnung des Landes der Ideen, die wir vom Bundespräsidenten unterzeichnet bekommen haben. Lustigerweise war die Preisübergabe dieser Urkunde von unserem Bundespräsidenten Joachim Gauck unterzeichnet für die Woche, nachdem dieses Schreiben bei uns ankam, angesetzt. Das war reiner Zufall, zeigt aber für uns diese Absurdität und diese Surrealität. Auf der einen Seite bekommen wir eine Auszeichnung als ausgezeichneter Ort von einem Teil der Bundesregierung, und ein anderer Teil der Bundesregierung versucht gerade, uns als Landesverräter uns da einen Strick zu drehen. Ja, das zeigte halt so ein bisschen den Spagat, den wir diesen Sommer gemacht haben."
    Erinnerungen an die Spiegel-Affäre werden wach, als bekannt wird, dass gegen die beiden Blogger ermittelt wird wegen des Verdachts auf Landesverrat. Konkret geht es um den Haushaltsplan des Verfassungsschutzes, den netzpolitik.org in Teilen online gestellt hat - der Verrat eines Geheimnisses, das vom öffentlichen Interesse her gar keines sein dürfte, meint Markus Beckedahl.
    "Wir wollten eine gesellschaftliche Debatte anstoßen über die Pläne des Verfassungsschutzes, zwei Jahre nach Edward Snowden, nach Start der Enthüllungen, die Internetüberwachung massiv auszubauen, mit Billigung unserer Bundesregierung, unseres Parlamentes. Darüber gab es keine Debatte. Und man kann geteilter Meinung darüber sein, ob man das jetzt sinnvoll hält oder nicht. Aber man muss darüber erstmal debattieren. Und dafür sind Informationen notwendig. Für diese Informationen haben wir mit unserer Veröffentlichung gesorgt. Ich kann mir vorstellen, dass Herr Maaßen mit seinem Rechtsverständnis, mit seiner Kultur damit nicht einverstanden ist. Aber damit muss er leben."
    Markus Beckedahl und Andre Meister von netzpolitik.org protestieren in Berlin gegen Ermittlungen gegen sie.
    Markus Beckedahl und Andre Meister von Netz-Politik. Die Ermittlungen gegen die beiden sind beendet. (dpa-Zentralbild)
    Ermittlungen eingestellt
    Muss er nicht, meint Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen nach wie vor, auch nachdem die Ermittlungen gegen die Journalisten längst eingestellt worden sind. Für Maaßen steht der Fall nämlich für etwas Größeres, für ein allgemeines mediales Phänomen.
    "Mein Eindruck ist aufseiten der Medien, dass für viele Medien Verschlusssachen, Geheimnisse sich gut verkaufen. Wenn der Stempel "geheim" draufsteht, kann man mehr draus machen, als wenn der Stempel "offen" drauf stehen würde. Also unser Interesse ist, dass die Geheimnisse geschützt werden. Da vertrete ich den Standpunkt: Darüber darf letztlich abschließend nicht der Journalist selbst entscheiden. Er darf schon alleine deshalb nicht entscheiden, weil er nicht den Überblick über die gesamte Sachlage hat, was für Folgerungen und Nebenwirkungen die Veröffentlichung eines Geheimnisses hat."
    Eine von Maaßen ganz bestimmt nicht gewollte Nebenwirkung war es aber in diesem Sommer, dass netzpolitik.org schlagartig sehr bekannt wurde, dass Markus Beckedahl und sein Team auch finanziell profitiert haben, weil sie viele Spenden bekommen haben. Markus Beckedahl ist trotzdem nicht zufrieden, wie die Sache abgelaufen ist; er hätte den Fall gerne vors Gericht gebracht; und hat noch immer einige ungeklärte Fragen.
    "Wieso sind eigentlich die Akten, unsere Ermittlungsakten, geheimer eingestuft, als die Dokumente, die wir veröffentlicht haben? Wir konnten unsere Akten noch gar nicht sehen, weil da Gutachten drin sind vom Verfassungsschutz an den Generalbundesanwalt, wo bestätigt wird, dass wir Staatsgeheimnisse verraten hätten, und dieses Gutachten ist tatsächlich geheimer eingestuft als die von uns veröffentlichten Dokumente. Das ist eigentlich ein Irrwitz."
    Wie auch immer der Fall aus dem Jahr 2015 letztlich bewertet wird: Vielleicht gibt es im neuen Jahr ja noch ein Nachspiel. Denn ob netzpolitik.org den nächsten Haushaltsplan des Verfassungsschutzes wieder ausschnittsweise veröffentlichen wird, will sich Beckedahl zumindest offen halten.
    Redaktionen testen neue mediale Angebote
    Auch wenn von netzpolitik.org seit 2015 wahrscheinlich jeder mindestens schon mal gehört hat: Im Mediengeschäft sind es ganz andere Kaliber, die den wirtschaftlichen Takt vorgeben; die klassischen großen Verlage, inzwischen aber eben auch internationale Player wie Google und Facebook. Und auch bei diesen Medienriesen hat sich einiges getan innerhalb der letzten zwölf Monate; zum Beispiel mit einem neuen Angebot namens Instant Articles.
    Facebook will mit Instant Articles dafür sorgen, dass Medieninhalte auf Smartphones bis zu zehnmal schneller angezeigt werden - für Spiegel-Online-Chef Florian Harms eines der Argumente, warum sein Unternehmen als eines der ersten in Deutschland mit Instant Articles experimentiert:
    "Wenn Sie mal Facebook nehmen, das erreicht in Deutschland täglich rund 19, 20 Millionen Nutzer. Und die wollen wir natürlich bestmöglich erreichen. Und wenn Facebook jetzt mit neuen Präsentationsformen für Medienartikel experimentiert, dann ist für uns klar: So einen Test begleiten wir gerne, weil wir eben dabei wertvolle neue Erfahrungen sammeln können."
    Es gibt aber auch Kritik am neuen Angebot von Facebook, weil das soziale Netzwerk Instant Articles natürlich nicht aus reiner Nächstenliebe anbietet oder aus Sympathie mit von Auflagerückgängen geplagten Verlegern. Es geht um Marktmacht, um den Wunsch, die Facebook-Nutzer möglichst lange zu halten, damit diese eben nicht mehr auf Seiten wie Spiegel Online unterwegs sind, sondern nur noch auf Facebook. Und in der Tat machen sich die Verlage und Rundfunksender damit noch etwas abhängiger als zuvor. Durch vorher getroffene Absprachen lässt sich diese Abhängigkeit aber begrenzen, gerade auch aus wirtschaftlicher Sicht, meint der Vize-Chef des Axel-Springer-Verlags, Christoph Keese.
    "Erstens wir haben die volle redaktionelle Kontrolle, zweitens wir können die Anzeigen im Umfeld unserer eigenen Artikel verkaufen und behalten alle Erlöse dafür, drittens in einem gewissen Umfang bekommen wir Daten, so wie das im Datenschutzrecht in Europa und Deutschland zulässig ist, und viertens und das ist fast das wichtigste: Facebook hat sich verpflichtet, ein Zahlmodell einzuführen. Weil wir haben Zahlmodelle, und es kann ja nicht Sinn der Übung sein, dass wir dort kostenlos ausreichen, was wir an anderer Stelle verkaufen. Das kann nicht sein. Und deswegen muss sich, sollte sich Facebook - sonst machen wir nicht weiter mit, dann hören wir nämlich auf - weiterentwickeln auch zu einer Plattform, die Bezahlinhalte anbietet."
    Paywalls werden hochgezogen
    Instant Articles und vor allem das große Interesse daran vonseiten vieler Medienunternehmen ist ein Beispiel dafür, dass sich die Verlage verstärkt umschauen nach neuen Ausspielwegen, und auch nach neuen Erlösmodellen. Viele Paywalls werden hochgezogen; Angebote wie der Online-Kiosk Blendle starten, bei dem man einzelne Artikel aus verschiedensten Magazinen und Zeitungen kaufen kann; es wird verstärkt experimentiert mit neuen Werbeformen wie Native Advertising, also Anzeigen, die aussehen wie normale redaktionelle Texte. Aber für Christoph Keese vom Springer-Verlag muss es noch weitere Veränderungen geben im Mediengeschäft, und zwar einen Mentalitätswechsel.
    "Was wir doch brauchen, ist der Typ, und das erhoffe ich mir vom nächsten Jahr, des wehrhaften Kreativen, der sich seiner eigenen Leistung tatsächlich bewusst ist. Ohne die Leistung von Kreativen und ihrer Verlage, Labels gäbe es keine Plattformen. Und es entstehen Milliardenwerte bei Plattformen, und wenn die Kreativen nicht selbstbewusst aufstehen und sagen: Ich möchte bitteschön meinen Anteil an diesen Milliardenwerten haben, dann ist es wirklich absolut ungerecht. Und da ist nur zu wünschen, dass im nächsten Jahr sich der Trend fortsetzt, die sagen: Nein, halt, das geht so nicht weiter. In der Digitalökonomie sind wir diejenigen, die eigentlich am Ursprung der Wertschöpfungskette stehen und deswegen möchten wir bitteschön fair beteiligt werden."
    Ein Smartphone-Bildschirm mit Apps
    Apps auf Smartphone (dpa / picture alliance / Jens Büttner)
    Dieser Punkt wird umso wichtiger, je stärker die Zusammenarbeit ist zwischen Medienhäusern und Facebook, Twitter, Instagram, Whatsapp oder Google. Und diese Zusammenarbeit, das Verlassen der klassischen Kanäle, treiben im Jahr 2015 ganz neue, junge Medienangebote voran; ze.tt zum Beispiel, ein Ableger von Zeit Online, oder das Spiegel-Online-Pendant bento oder die junge, späte Nachrichtensendung heute+ vom ZDF. Die meisten neuen Angebote zielen auf Menschen zwischen Schulabschluss und erstem Job; und dass diese junge Zielgruppe gerade 2015 neu entdeckt wird, geschieht aus gutem Grund, meint heute+-Redaktionsleiter Clas Dammann:
    "Die Tageszeitungen stehen vor der Herausforderung, dass die junge Leserschaft deutlich geschwunden ist, auch die Auflagen insgesamt zurückgegangen sind. Die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender bemerken schon seit Längerem, dass es ihnen schwer fällt, ein junges Publikum anzusprechen und ich glaube, diese Einsicht hat sich überall durchgesetzt. Auch die Formate waren soweit reif und auch die Erkenntnis, welche Chancen in der direkten Diskussion und Kommunikation in den sozialen Netzwerken liegen, auch das wurde erkannt. Und deshalb ist wahrscheinlich 2015 das Jahr der jungen Medien-Outlets."
    Die medialen Grenzen verschwimmen
    Der Medienwandel dient neben allen Sorgen und Problemen, neben für immer schließenden Lokalredaktionen und einem Ausdünnen selbst beim Spiegel-Verlag also auch als Motor, als Grundlage für Neues. Die Grenzen zwischen Website, klassischem Rundfunk und sozialen Netzwerken verschwimmen; und genau das kann eine Stärke sein zum Beispiel bei aktuellen Ereignissen wie den Anschlägen von Paris Mitte November. heute+ vom ZDF hat sich da den ebenfalls noch neuen Livestreaming-Dienst Periscope zunutze gemacht, und gute Erfahrungen gemacht mit den neuen Kanälen, mit einer neuen Offenheit, sagt Clas Dammann.
    "Man konnte reagieren auf das, was wir dort erzählt haben und die Neuigkeiten, die wir dort verbreiten konnten. Und der Zuspruch war im Grunde genommen sehr groß, auch wenn wir nicht direkt nah am Ereignis waren, also klassischerweise mit Bewegtbildern, Schalten zu Korrespondenten, sondern allein die Beschreibung aus der Redaktion wurde sehr angenommen und hat wirklich erstaunlich positive Rückläufe gegeben. Sodass wir uns insgesamt bestätigt fühlen in unserem Ansatz, zu sagen: Wir wollen als Redaktion auch transparent sein und ansprechbar sein."
    Eine Ansicht, die helfen kann gegen Anfeindungen, gegen pauschale Vorwürfe; die sich lohnt, mit ins neue Jahr hinüberzunehmen, weil sie zusammen mit der nötigen journalistischen Professionalität dazu führen kann, dass das Verhältnis zwischen Medienmachern und Mediennutzern wieder besser wird - und das ist dann wohl auch die größte Bürde, die wichtigste Aufgabe, die sich weiter stellt nach diesem schwierigen, komplizierten Medienjahr 2015.