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2018 in Sachsen
Chemnitz - eine zerrissene Stadt

Chemnitz, im Spätsommer: Nach dem tödlichen Messerangriff auf Daniel H. - mutmaßlich von drei Asylbewerbern - kommt es zu tagelangen Demonstrationen in der Stadt. Es gibt Ausschreitungen, die die Stadt und das ganze Land spalten und deren Folgen bis zum Sturz von Verfassungsschutzpräsident Maaßen führen.

Von Bastian Brandau |
    Ein Grabkreuz, Fahnen, Blumen und Kerzen stehen an der Stelle, an der ein 35 Jahre alter Deutscher in der Nacht zum 26. August Opfer einer tödlichen Messerattacke geworden war.
    Gedenken in Chemnitz an Daniel H., der am 26. August bei einem Stadtfest erstochen wurde (picture alliance / Jan Woitas)
    Montag, 27. August, Chemnitz: Neonazi-Parolen, Hitlergrüße, Szene-Kleidung und das organisierte Auftreten Rechtsextremer dominieren eine Demonstration mit mehreren Tausend Menschen in der Innenstadt. Die Demonstration ist eine Reaktion auf den Tod eines Mannes. Tatverdächtig sind drei Asylsuchende aus Irak und Syrien. Schon am Tag zuvor war ein Aufmarsch durch die Stadt gezogen. Aufgerufen dazu hatte eine vom Verfassungsschutz beobachtete Hooligan-Gruppierung. Man wolle zeige, "wer in der Stadt das Sagen habe."
    Debatten, ein Video und Hans-Georg Maaßen
    Die Chemnitzer Polizei, überrascht, überfordert, kann rassistisch motivierte Angriffe aus der Demonstration nicht verhindern.
    "Solche Zusammenrottungen, Hetzjagden auf Menschen anderen Aussehens, anderer Herkunft, oder der Versuch, Hass auf den Straßen zu verbreiten, das nehmen wir nicht hin", lässt die Bundeskanzlerin ihren Regierungssprecher ausrichten. Es beginnt eine politische Debatte, die wochenlang dauert und an deren Ende Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen gehen muss, weil er die Authentizität eines Videos öffentlich in Zweifel zieht.
    "Meine Kinder und Enkel, die haben Angst"
    Die Stimmung ist hitzig, das Diskussionsniveau niedrig am Rande einer weiteren Demonstration des rechtsextremen Bündnisses Pro Chemnitz. Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer, CDU, ist noch in derselben Woche zu einem Bürgerdialog in die Stadt. Lange vorher vereinbart, geht es an diesem Abend um grundsätzliche Fragen:
    "Aber Herr Kretschmer, hier geht es doch nicht um Einzelfälle, hier geht es um eine Tendenz in diesem Land. Zum Beispiel meine Kinder und Enkel, die haben Angst und ich auch um sie. Ist das normal? Sollen wir jetzt immer so leben? Wissen Sie, was hier fehlt von Anfang an? Die Integration. Das hat von Anfang an gefehlt. Sie können doch keine zwei Kulturen aufeinander krachen lassen und die dann im Regen stehen lassen. Die Migranten können genauso wenig dafür wie wir, weil es da ja zum Teil ja wirklich ordentliche Leute gibt. Ich bin weder links noch rechts. Ich bin eigentlich ein konservativer Mensch, der einen Rechtsstaat will. Und dass der auch durchgeführt wird. Und lassen Sie die Medien auch mal berichten wie die wollen und nicht wie sie sollen."
    "Also das ist jetzt natürlich der eigentliche Kernpunkt gewesen. Man kann in der Sache sich unterhalten, was da falsch läuft oder nicht, aber es darf nicht dazu führen, dass eine öffentliche Stimmung entsteht, die dazu führt, dass jemand der ein bisschen anders aussieht, auf der Straße komisch angeguckt wird. Oder sogar angegangen wird."
    Stadt mit vielen Umbrüchen
    Eine Krisenphase für die sächsischen Behörden. Ein Justizbeamter gibt einen Haftbefehl gegen einen Tatverdächtigen weiter, den veröffentlichen unter anderem AfD-Politiker. Den Tatverdächtigen muss die Staatsanwaltschaft später wieder aus der U-Haft entlassen. Es kommt in Chemnitz zu weiteren Demonstrationen, auch die Afd und Pegida zelebrieren in Chemnitz ihren Schulterschluss, demonstrieren gemeinsam mit dem rechtsextremen Bündnis "Pro Chemnitz".
    Ein Vielfaches an Menschen bringen Bands wie Kraftklub und die Toten Hosen auf die Straße, zu einem Konzert unter dem Motto "Wir sind mehr" kommen über 65.000 Menschen in die Stadt.
    Wie kann es weitergehen in der Stadt? Einer Stadt, die nach vielen Umbrüchen dabei war, sich neu zu erfinden? Das wollen auch Spitzenpolitiker aus dem Bund wissen. Familienministerin Franziska Giffey kommt dreimal in die Stadt, verspricht Förderung für Demokratieprojekte.
    "Meine konkrete Frage an Sie: Wie haben Sie diese mediale Berichterstattung oder Zerfetzung von Chemnitz empfunden?"
    Und Ende November ist dann auch die Kanzlerin da, diskutiert auf einer Veranstaltung mit etwa 100 Menschen.
    "Sie leiden darunter was hier passiert ist und wollen, dass diese Stadt wieder in diesem Licht steht, wie Sie es erleben und wie Sie Ihre Heimat haben wollen. Und dann kann man die schwierigen Sachen nicht unter den Tisch kehren, darüber muss gesprochen werden. Aber die, die damit gar nichts zu tun haben, im Gegenteil, die das genauso empört wie den Journalisten, der darüber berichtet. Die dürfen doch zum Schluss nicht sagen, der Journalist ist es, der mir Chemnitz schlecht macht. Sondern die müssen sagen, wir sind auch Chemnitz. Und wir wollen auch unsere Stimme erheben."