Die Zukunft der Literatur, so Blogger und Internetautor René Weisel voller Selbstironie, liege bei den sogenannten "Twitteraten". Weisel las in seinem Wettbewerbsbeitrag über einen Jungautor, der der Agentin Petra einen Text über den staubigen Wüsten-Cowboy Giovanni verkaufen möchte. Literatur finde heute im Netz statt, meint Petra, und nicht im Staub, der durch das Netz fällt. Autor René Weisel lieferte einen zynischen, kontrollierten Amoklauf gegen den modernen Literaturbetrieb.
"Das sagt Petra auch in Vorträgen, also öffentlich, und angekündigt wird sie vorher damit, dass sie, die Petra, die immer bekannt gewesen ist als Agentin mit Herz, eine Frau ist, die aus der klassischen Verlagsbranche kommt, und jetzt weitergeht. Woandershin. Ins Netz ... Sag ich ja! Und dafür braucht sie Leute, Netzleute. Twitteraten, sagt Petra. Fürs Lesen im 21. Jahrhundert. Und was ist das, fragt Petra und schaut sich die Giovanniseiten an: 19. Jahrhundert!"
Texte über familiär-soziale Abgründe im Vordergrund
René Weisel alias "Nouveaubéton" erlas sich zwar Szenenapplaus des Publikums, aber leider nicht die Gnade der dreiköpfigen Open-Mike-Jury. Die Hälfte der 22 Autoren, darunter sieben Lyriker, lernten ihr Handwerk an den Schreibschulen in Leipzig und Hildesheim. Dort werden mittlerweile sogar Seminare zur Vorbereitung auf den Open Mike angeboten - und zwar mit Erfolg, wie zwei der drei Preisträger belegen. Auf die jüngste Forderung nach mehr Welthaltigkeit, nach politisch-gesellschaftlichen Inhalten in der Literatur, reagierten die Autoren überaus folgsam. In diesem Jahr standen Texte über familiär-soziale Abgründe, über Randgruppen und Problemfälle, über Inzest-Dramen, desillusionierte Jugendliche und Flüchtlingskinder im Vordergrund. Die 23-jährige Gewinnerin des Prosa-Preises, Doris Anselm, überzeugte mit einem unkonventionellen Text über eine multikulturelle Gruppe von Jugendlichen in einem Einkaufs-Center. Dort verbringen sie ihre Zeit und beschließen eines Tages, einen "Brief an Center" zu schreiben, im soziotypischen Idiom.
Doris Anselm: "Und als der Brief fertig ist, wir finden raus: Gibt keinen Briefkasten. Center hat keinen Briefkasten mehr und auch keine Adresse. Eine irgendwo in China, aber dahin dauert der Brief zu lange. Deshalb ist wieder Streit. Ich sage, wir machen auf keinen Fall online. Kommentarfunktion kriegst du nie eine Antwort. Wenn wichtige Sachen sind, weiß jeder, machst du immer auf Papier. Ausbildung zum Beispiel, kriegst du vielleicht auch keine Antwort, aber immer auf Papier."
Verdiente Preisträger
Der zweite Prosa-Preis des Open Mike ging an Mareike Schneider, so wie Doris Anselm ebenfalls eine Hildesheim-Absolventin. Schneider verließ sich beim Wettbewerb auf einen äußerst lakonischen, geradezu schneidend desillusionierten Ton, in dem sie über den Herz-Tod ihres Großvaters schrieb, über Sanitäter und hilflose Gefühle der Familienmitglieder. Nicht jede Welthaltigkeit wird gleich zu Literatur. Wie man realistisch, aber nicht herzlos über Themen wie Alter und Krankheit schreiben kann, machte der griechisch-stämmige Ostwestfale Gerasimos Bekas vor: Für seine dialogisch glänzend vorgetragene Geschichte aus einem Alterspflegeheim erhielt er den Publikumspreis. Der Berliner Robert Stripling wurde verdient für seine "Prosagedichte" ausgezeichnet, die die Welt auf ihren Wirklichkeitsgehalt hin abzutasten schienen:
"Die Geschichte geht folgendermaßen: Jeder, der sie anders erleben wird. Auch müssen wir nah herantreten, müssen tasten, bis sich sämtliche Nähe auflöst & abhanden geht. Ein Bindfaden, in die Mittagshitze gerollt; draußen verhangen, im Geäst."
Mit deutschsprachigen Debüttexten ist heute nur selten ein großer wirtschaftlicher Gewinn zu machen. Es war also eine gute Nachricht, dass auch beim diesjährigen Open Mike die sogenannten Großwildjäger aus den Literatur-Agenturen und Verlagen vor Ort waren, um die erfolgversprechenden Stimmen der Nachwuchsliteratur zu entdecken. Ob die Texte der Schreibschulabsolventen deswegen erfolgreich sind, weil sie gut sind oder weil auch die Lektoren aus eben diesen Kreisen stammen, bleibt ungewiss. Nüchtern bereitete das Jury-Mitglied Björn Kuhligk den literarischen Nachwuchs auf die Zukunft vor: Findet einen Job, der euch finanziell absichert! Die Zeiten, in denen Verlage die Autoren in finanziellem Notstand durchfüttern, sind vorbei! Wer von Literatur leben will, muss ein Marktprodukt anbieten, das scheinen auch die Jungautoren verstanden zu haben: Der Erfolg der Schreibschulen, der zum großen Teil makellose Vortrag der eigenen Texte und die thematische Ausrichtung auf eine Welt, wie wir sie kennen - diese Form der Professionalisierung hebt die heutigen Nachwuchsautoren von den verträumten Anfängern von gestern ab.