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25 Jahre Deutsche Einheit
"Dass es friedlich und geordnet zuging, ist eine unglaublich große Leistung"

Die letzten Schritte auf dem Weg zur Wiedervereinigung waren ein Kraftakt für alle Beteiligten. Die Volkskammer der DDR tagte praktisch ununterbrochen, vieles wurde unter enormen Zeitdruck beschlossen. Unzählige Detailfragen zur Wirtschaft wurden in die Verhandlungen aufgenommen. Ursprünglich wollte man Ost an West sukzessive anpassen - damit aber habe man sich nicht durchsetzen können, erklärt der damalige Bundesinnenminister Schäuble.

Von Jacqueline Boysen |
    Rund eine Million Menschen feierten in der Nacht zum 3.10.1990 in Berlin - wie hier vor dem Reichstagsgebäude - die wiedergewonnene deutsche Einheit.
    Rund eine Million Menschen feierten in der Nacht zum 3.10.1990 in Berlin - wie hier vor dem Reichstagsgebäude - die wiedergewonnene deutsche Einheit. (Wolfgang Kumm, dpa picture-alliance)
    Richard von Weizsäcker: "Die Geschichte hat es diesmal gut mit uns gemeint. Umso mehr haben wir Grund zur gewissenhaften Selbstbesinnung."
    Fernsehnachrichten vom 3. Oktober 1990.
    Guten Abend, meine Damen und Herren. Die Deutschen leben wieder in einem souveränen, freien und geeinten Land. 45 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg endete in der vergangenen Nacht die deutsche Teilung. Die DDR und die Bundesrepublik vereinigten sich zu einem Staat."
    Richard von Weizsäcker: "Kein Weg führt an der Erkenntnis vorbei: Sich zu vereinen, heißt Teilen lernen."
    "Worte des Bundespräsidenten an diesem ersten Tag der Einheit. Guten Abend, meine Damen und Herren, ..."
    Die staatliche Einheit Deutschlands war wieder hergestellt, die DDR nunmehr Geschichte – ein historischer Moment, überliefert in der Berichterstattung von Tagesschau und Aktueller Kamera. Unüberhörbar setzten die Nachrichtenredaktionen in West und Ost ihre Akzente unterschiedlich. Auch Richard von Weizsäcker war in seiner Festansprache in der Berliner Philharmonie am Tag der Deutschen Einheit darauf bedacht, die zwischen Überschwang und Jubel, Melancholie und Unsicherheit oder Enttäuschung schwankenden Gefühle der Bürger nicht zu verletzten. Es galt, Inländern die Skepsis und Beobachtern aus dem Ausland die Furcht vor neuem deutschen Nationalismus zu nehmen.
    "Die Geschichte bietet uns jetzt eine Chance, wie es sie nie gab. Wir erleben eine der selten historischen Phasen, in denen wirklich etwas zum Guten verändert werden kann."
    Der Bundespräsident war nunmehr Staatsoberhaupt des vereinigten Deutschland. Richard von Weizsäcker erschien die Größe des Momentes, aber auch der Umfang des damals beginnenden Zusammenwachsens der neuen und alten Länder, wie es fortan hieß, eine Mahnung wert:
    "Wir wollen und werden uns nicht von Ängsten und Zweifeln leiten lassen, sondern von Zuversicht."
    Ein Parlament, um sich selbst überflüssig zu machen
    Ein Kraftakt lag hinter jenen, die in West und Ost den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik in den Monaten vor dem 3. Oktober möglich gemacht hatten – allen voran die 400 Abgeordneten der letzten und einzig frei gewählten Volkskammer der DDR. Sabine Bergmann-Pohl, Medizinerin, Mitglied der Ost-CDU, hatte zuletzt auf höchster Ebene Verantwortung übernommen. Als Präsidentin der 10. Volkskammer und formal letztes Staatsoberhaupt der DDR saß die Lungenspezialistin beim Festakt zur Wiedervereinigung in der ersten Reihe – erschöpft, wie sie sich erinnert: "Wir haben ja in der kurzen Zeit, den sechs Monaten 164 Gesetze erarbeitet und verabschiedet, drei Staatsverträge beraten. Das war eine ungeheure Arbeit. Alle haben das mit viel Herzblut und Engagement gemacht. Und auch wenn Fehler passiert sind - wir haben es dennoch gut geschafft und für ein Laienparlament war das schon eine große Leistung. Und suchen Sie mal heute Abgeordnete, die bereit sind, in ein Parlament einzutreten, um sich selbst überflüssig zu machen, wir haben ja im Prinzip für unsere Selbstauflösung gesorgt."
    Kaum mehr als fünf Stunden Schlaf habe er damals in der Regel bekommen, rechnet der christdemokratische Rechtsanwalt Lothar de Maizière vor. Die Ereignisse überschlugen sich in der kurzen Regierungszeit des letzten Ministerpräsidenten der DDR.
    "Ich bin morgens um halb sieben abgeholt worden und nachts wieder ausgekippt zu Hause. Meine Sicherheitsleute haben im Dreischichtsystem gearbeitet, nur ich wurde nie ausgewechselt. In meinem Kabinett sind 759 Kabinettsvorlagen bearbeitet worden und ich nehme für mich in Anspruch, dass ich alle kannte. Was nicht von all meinen Ministern gesagt werden kann. Und ich glaube auch, dass die Volkskammer das fleißigste Parlament in der deutschen Geschichte war. Wir haben ja permanent getagt und man sah auch im Fernsehen, dass gelegentlich mal einer einschlief auf den hinteren Bänken."
    Lothar de Maizière (r.), seit November 1989 Vorsitzender der Ost-CDU - hier neben Klaus Töpfer, Bundesminister für Umwelt der BRD im Februar 1990.
    Lothar de Maizière (r.), seit November 1989 Vorsitzender der Ost-CDU - hier neben Klaus Töpfer, Bundesminister für Umwelt der BRD im Februar 1990. (picture alliance / ZB / Ulrich Hässler)
    "Eine Arbeit von Getriebenen"
    Die neue, transparente Volkskammer war am 18. März 1990 gewählt worden – und eine Mehrheit von 48 Prozent der Wähler hatte der Allianz für Deutschland, dem Wahlbündnis aus Ost-CDU, DSU und Demokratischem Aufbruch, vertraut. Und somit für einen Zusammenschluss mit der Bundesrepublik votiert. Die Regierung, die Lothar de Maizière aus dem Wahlbündnis, der Allianz für Deutschland, den Liberalen und der Ost-SPD gebildet hatte, erfüllte einen einzigen unmissverständlichen Auftrag. In beiden Teilen Deutschlands bestimmte die Überwindung der Teilung als großes politisches Ziel die Agenda der politisch Verantwortlichen. Der Termin war zunächst offen, doch steigerte man sich in ein immer rascheres Tempo hinein, so Werner Schulz, Bürgerrechtler und damals Abgeordneter vom Bündnis 90, später dann für die vereinigten Bündnisgrünen im Bundestag und im Europaparlament. Anders als viele in seiner Partei – in Ost wie in West – zählte Schulz grundsätzlich zu den Befürwortern der Einheit, kritisiert allerdings die Hast, in der DDR-Recht novelliert, die Verträge zur Wirtschafts- und Währungsunion verabschiedet und der Einigungsvertrag beschlossen wurden.
    "Die Arbeit in der VK war die Arbeit von Getriebenen. Lothar de Maizière hat in seiner Regierungserklärung den Zeithorizont abgesteckt, dass man 1992 zumindest mit einer gemeinsamen Olympia-Mannschaft in Barcelona antritt, das heißt, eine Perspektive von zwei Jahren, das wäre ein Prozess gewesen, in dem vieles hätte geregelt werden können. Aber die Fristen wurden immer kürzer und letztlich war es ein Schweinsgalopp, der zur deutschen Einheit geführt hat, eine Bauch-über-Kopf-Vereinigung, es ging alles rasant."
    Der umstrittene Weg zur Wiedervereingung
    In dieser Eile habe man östlich wie westlich der offenen Mauer sogar das von Bundeskanzler Helmut Kohl gesetzte Wunschdatum 3. Oktober akzeptiert und damit einen historisch bis dato bedeutungslosen Tag zum Tag der Einheit erkoren, statt sich an Wegmarken deutscher Freiheitsbewegungen zu orientieren. Hochumstritten war vor dem Beschluss zum Einigungsvertrag vor allem der Weg zur Vereinigung: Das Grundgesetz sah entweder den Beitritt von neu zu gründenden Ländern zur Bundesrepublik nach Artikel 23 vor – oder den Artikel 146. Demnach hätte das Grundgesetz seine Gültigkeit an dem Tage verloren, an dem sich das deutsche Volk in freier Entscheidung eine neue Verfassung gegeben hätte und diese in Kraft getreten wäre. Sabine Bergmann-Pohl erinnert sich, wie in der Nacht zum 23. August die Entscheidung für den Artikel 23 fiel: "Es war eine aufregende Nacht, weil wir ja Angst hatten, nicht die Mehrheit zu bekommen. Und wir haben wirklich hart gekämpft. Es war dann morgens um 2.45 Uhr und ich war schon ziemlich erschöpft und ich war froh und erleichtert. Dann kam der Abgeordnete Gysi und wollte noch was sagen und ich habe ihm das Wort erteilt, wir hatten ja eine ganz laxe Geschäftsordnung. Und da sagte er: Wissen Sie, was Sie da beschlossen haben: Den Untergang der DDR. Und ein riesiger Jubel brach los und er wusste, er konnte es nicht mehr ändern."
    Überraschend hatte ein Teil der Bürgerrechtler mit den Genossen der PDS gestimmt, also mit der einstigen Staatspartei, gegen deren Vorherrschaft sie zuvor mutig aufbegehrt hatten. Wollten die einen die DDR reformieren und die gerade gewonnene politische Gestaltungskraft weiter nutzen, lehnten die anderen die Verschmelzung mit dem Klassenfeind – wie in der Parteischule gelernt – prinzipiell ab. Mit 294 Ja-Stimmen gegen 62 Nein-Stimmen gaben die Abgeordneten der Volkskammer in der Nacht dennoch ein klares Votum ab und sandten damit ein deutliches Signal gen Westen. Mit Bonn in Kontakt stand im Auftrag der Regierung unterdessen Günther Krause. Der gelernte Bauingenieur und Informatiker verhandelte mit Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble – zunächst über den Vertrag zur Wirtschafts- und Währungsunion.
    Die Mitglieder der Volkskammer bei der Abstimmung über den Beitritt zur BRD
    Die Mitglieder der Volkskammer bei der Abstimmung über den Beitritt zur BRD (picture alliance / dpa / Michael Jung)
    "Das war ein Schock: Die westdeutsche Seite hatte die Vorstellung, drei zu eins tauschen, drei Ost- in eine Westmark. Und wir haben das abgewimmelt und empfohlen, erst einmal Warenkörbe zu rechnen, also als Ausdruck der Kaufkraft. Und im ersten Vertragsentwurf gab es auch keine Sozialunion, das war aber für uns ein wichtiger Punkt zu kämpfen. Und dafür, dass wir für vielen zu erwartenden arbeitslosen Umschüler Lösungen finden, die in einer angemessenen Form beispielsweise Vorruhestandsregelungen, aber auch Umschuldungsangebote und die Sicherung des Lebensunterhalts garantieren."
    Schäuble: "Kluge Beschlüsse der Volkskammer"
    Krauses Interesse galt insbesondere der Wirtschaft – unzählige Detailfragen wurden in den Verhandlungen aufgenommen. Bis heute aber weisen gerade ostdeutsche Wirtschaftsdaten und Arbeitslosenzahlen noch deutlich die Folgen der staatlich gelenkten Misswirtschaft und die von der Treuhand geschlagenen Wunden aus. Beide Verhandlungsführer hatten ursprünglich den Plan, nur das Nötigste rechtlich zu vereinheitlichen und Ost an West sukzessive anzupassen – damit aber habe man sich nicht durchsetzen können, so Wolfgang Schäuble: "Für meinen Vorschlag gab es das Argument, der wäre leichter für die Menschen nachvollziehbar gewesen. Für das Gegenteil gab es das Argument für Investitionen und Investoren war es besser, einheitliche rechtliche Bedingungen zu haben. Und Herr Genscher hat gesagt: Ein Volk, ein Staat, eine Rechtsordnung, und andere haben gesagt, wir wollen doch nicht das alte Unrecht der DDR noch fortschreiben. Und dagegen war schwer anzureden. Und natürlich wollten auch die Ministerien mit ihren vielen klugen Vorschriften, auch Verordnungen, Richtlinien, weiß der Himmel was alles nicht infrage gestellt sehen, das gibt es auch eine Eigengesetzlichkeit von Apparaten."
    Denen war auch ein ganz anderes Thema suspekt: der Umgang mit den Akten der Staatssicherheit. Hier gaben die Bürgerrechtler von einst, also die von der Stasi Bespitzelten, mit ihrem Gesetzesentwurf die Linie vor – gegen die Vorstellungen der westlichen Repräsentanten, denen die Sprengkraft der Stasi-Hinterlassenschaften Unbehagen bereitete. Andere Streitfragen wurden – wie die Frage der Schwangerschaftsabbrüche – bewusst auf die Zeit nach der Vereinigung verschoben. Dennoch verankerten die letzte DDR-Regierung und das Parlament damals politische Wegmarken, so Wolfgang Schäuble. "Dass es friedlich und geordnet zuging, ist eine unglaublich große Leistung. Auch die in der Volkskammer waren, haben in den paar Wochen, Monaten sehr kluge Beschlüsse gefasst. Sie haben als erstes ein Bekenntnis zur gemeinsamen deutschen Vergangenheit (gegeben), das hatte die DDR in 40 Jahren immer abgelehnt, Hitler und Nazigeschichte, das ist alles nur Sache der Bundesrepublik, auch haben sie nie einen Pfennig Wiedergutmachung gezahlt, das haben sie immer schön den Westdeutschen überlassen mit ihrem Stolz auf ihre antifaschistische Vergangenheit, da kann man im Nachhinein noch böse werde. Die Volkskammer hat sich als erste zu dieser Vergangenheit bekannt und dann zu Polen bekannt. Nein, ich hatte einen großen Respekt. Es gab ja in Bonn welche, die haben sie als Laienschauspieler verächtlich gemacht. Das fand ich immer unangemessen und Ausdruck von völlig unbegründeter westdeutscher Arroganz, die es auch gab."
    Thomas de Maizière als Berater
    Den Import von Expertise in Verwaltungs- und juristischen Fragen nahmen viele damals an. DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière ließ sich von seinem Cousin Thomas beraten, den die West-Berliner Senatsverwaltung in den Osten ausgeliehen hatte. "Wir haben in der Zeit insofern echt Vetternwirtschaft gemacht, und ich hab immer gesagt: Ich weiß, wo wir herkommen, Du weißt, wo wir hinwollen, wir müssen zusammen den Adapter bilden und das ist ganz gut gelaufen. Ich wollte Rechtssicherheit. Ein Volk, das seine Verfassung verliert, verliert seine Verfasstheit. Ich habe immer erst ein Gesetz aufgehoben, wenn wir ein neues demokratisches Gesetz hatten, es hat bei uns keine rechtsfreien Räume gegeben."

    Der Jurist hat sich nach vollzogener Einheit im Zuge nie bewiesener Stasi-Vorwürfe aus der Politik zurückgezogen. Heute blickt er zufrieden auf die Gesetze, die die Volkskammer mit in die Einheit gebracht hat. Sie hatten Bestand – auch umstrittene wie die Nichtrevidierbarkeit der Enteignungen im Zuge der sowjetischen Bodenreform zwischen 1945 bis 1949. Darüber zu befinden, war damals freilich nicht allein Sache der DDR. Und auch nicht der Bundesrepublik. Die beiden deutschen Staaten begründeten bekanntlich nicht allein ihre gemeinsame Zukunft: Der Einigungsprozess war nur mit Zustimmung der einstigen Alliierten aus dem Zweiten Weltkrieg möglich. Und sei letztlich vor allem dem Generalsekretär der KPdSU, Michael Gorbatschow, zu verdanken, so Wolfgang Schäuble. "Ein Schlüsselpunkt: Als Gorbatschow nicht mehr nur Glasnost und Perestroika verkündet hat, sondern auch noch den Abzug der Sowjetunion aus Afghanistan durchgesetzt hat, als er die Breschnew-Doktrin aufgegeben hat, die Sowjetunion wird nicht mehr intervenieren wie am 17. Juni oder in Prag, Polen, Ungarn und als man gemerkt hat, das gilt. Und dann war die Frage, wie lange hält das. Ein Jahr später hätte er es gar nicht mehr halten können. So war das Window of opportunity."
    Der ehemalige sowjetische Staatschef Michael Gorbatschow  in Moskau.
    Der ehemalige sowjetische Staatschef Michael Gorbatschow in Moskau. (AP)
    Ringen um Zustimmung zu den Vereinigungsplänen
    Das offene Fenster zur noch existierenden Sowjetunion nutzte Helmut Kohl mit seiner sprichwörtlichen Strickjackendiplomatie, aber auch die deutschen Außenminister Markus Meckel und Hans-Dietrich Genscher. Zwei-plus-Vier lautete die Formel für Gespräche zwischen den beiden Deutschländern und den vier einstigen Weltkriegsalliierten. Sie verhandelten über die Souveränität eines vereinten Deutschland und das Ende des Kalten Krieges – so die beiden Historiker Heike Amos und Tim Geiger vom Institut für Zeitgeschichte. "Es ist vor allem die Frage der Bündniszugehörigkeit zwischen der Sowjetunion, die eine NATO-Mitgliedschaft, die die USA zur Vorbedingung gemacht haben, strikt abgelehnt hat und die Franzosen und Briten stehen dazwischen, bekannt ist, dass vor allem Frau Thatcher gar keine Freundin der deutschen Einheit war, ihr Außenministerium sah es anders, Frankreich, ist bis heute auch strittig, auch da dürfte das Außenministerium einer Einheit freundlicher gesinnt gewesen sein als Mitterrand, der die europäische Lösung gesehen hat."
    Tim Geiger und Heike Amos haben die gerade erschienenen Akten zur Deutschen Einheit aus dem Auswärtigen Amt herausgegeben. Die voluminöse Dokumentation zeigt minutiös Details der diplomatischen Bemühungen der Bonner und Ost-Berliner Verhandlungsdelegationen, die in Washington, Paris, London und Moskau um Zustimmung zu ihren Vereinigungsplänen rangen. "Die Geschichte wird ja nicht neu geschrieben mit diesen Akten. Aber selbst als Historiker bekommt man einen tieferen Einblick, wie die Verhandlungen gelaufen sind. Genscher ist dafür bekannt, dass er in dieser Zeit permanent zu allen Staatschefs und Außenministern unterwegs war. Er hat nicht nur telefoniert oder schriftlich kommuniziert, sondern ist hin und hergereist, was wichtig ist, die persönliche Beziehung aufzubauen, den Leuten gegenüber zu sitzen und sich abzustimmen. Aber es hat auch Friktionen gegeben und unterschiedliche Meinungen zum Beispiel zum Vorgehen gegenüber Polen zur deutsch-polnischen Grenze."
    Begrüßung über den Zaun hinweg: Stundenlang haben die Aussiedler am 06.10.1987 auf die Ankunft von Richard von Weizsäcker (r) gewartet. Der Bundespräsident besucht die Institution anlässlich des 30-jährigen Bestehens der Friedland-Hilfe.
    Als Bundespräsident besucht Richard von Weizsäcker am 06.10.1987 Aussiedler der Friedland-Hilfe. (picure alliance / dpa / Thomas Wattenberg)
    "Es war eine Selbstbefreiung"
    Die Grenze zu Polen ist von der gesamtdeutschen Bundesrepublik längst anerkannt und kein Politikum mehr. Überhaupt hat Deutschland sich verändert – und das längst nicht mehr nur in Folge der Wiedervereinigung. Insbesondere bei den Bürgerrechtlern von einst bleibt bei aller Freude über Erreichtes das Bedauern darüber, dass sich das Volk im Zuge der Deutschen Einheit keine neue Verfassung gegeben hat. Mit dem Beitritt nach Artikel 23 war dieser Schritt juristisch nicht mehr erforderlich. Doch mit dem Verzicht auf eine gesamtdeutsche Verfassung habe man die wertvolle Erfahrung der Selbstbefreiung des Volkes nicht für alle Deutschen sichtbar manifestiert, so Werner Schulz. "Ich glaube, man hat diesen demokratischen Aufbruch, den es im Osten gegeben hat, als Systemzusammenbruch verkannt. Man hat im Westen geglaubt, dieses System ist zusammengebrochen. Es war aber wirklich eine Selbstbefreiung und eine klare Forderung aus dieser friedlichen Revolution war: Wir sind das Volk. Wir sind der Souverän und wollen mitentscheiden, mitbestimmen, wir sind 40 Jahre unmündig gehalten worden, über unsere Köpfe hinweg wurde regiert. Und jetzt wollen wir endlich mitsprechen in wesentlichen Fragen. Und das war auch ein Bedürfnis in der Bundesrepublik, aber schon eingeschlafen, aber das hat man nicht berücksichtigt, das hat man nicht zum Ende gebracht."

    Um die Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen und um die neue gesamtdeutsche Identität machte sich vor 25 Jahren auch Richard von Weizsäcker Gedanken. Der am Jahresbeginn verstorbene erste Bundespräsident des vereinigten Deutschland schrieb den Bürgern am Tag der Einheit 1990 ins Stammbuch: "Wie gut uns die Einheit menschlich gelingt, das entscheidet kein Vertrag, kein Gesetz, das richtet sich nach dem Verhalten eines jeden von uns. Die Geschichte gibt uns die Chance, wir wollen sie wahrnehmen mit Zuversicht und Vertrauen. Und die Freude – sie ist ein Götterfunke."