Christoph Heinemann: Helmut Kohl hat es einmal so ausgedrückt: Der einzige Amtskollege in der damaligen Europäischen Union, der ohne Einschränkung die deutsche Einheit befürwortete, war der spanische Ministerpräsident Felipe González. Alle anderen blickten misstrauisch auf das, was sich vor 26 Jahren* in Deutschland ereignete und vor 25 Jahren seinen politischen Höhepunkt erlebte. Das Grundgesetz galt auf einmal auch in Dresden, Schwerin, Erfurt und Magdeburg. - Wir haben vor der Sendung Hubert Védrine erreicht, den ehemaligen französischen Außenminister. Er war in der Zeit der sich abzeichnenden deutschen Wiedervereinigung einer der wichtigsten Berater des französischen Staatspräsidenten François Mitterrand. Ich habe ihn gefragt, was ihm damals vor der Zeremonie der Wiedervereinigung durch den Kopf ging.
Hubert Védrine: Dieser Prozess verlief über viele Jahre. François Mitterrand hatte schon im Oktober 1981 in einem historischen Gespräch mit Helmut Schmidt diese Perspektive einer Wiedervereinigung, die eines Tages stattfinden würde, erörtert. Seitdem Gorbatschow im Amt war, wussten wir, dass sich dieser Prozess beschleunigen würde, weil er gesagt hatte, er werde keine Gewalt anwenden, um kommunistische Regime am Leben zu halten. Wir wussten nicht, wann es passieren würde. Aber wir haben uns schon Gedanken darüber gemacht, wie es für die Deutschen, für uns und für den Frieden in Europa am besten ablaufen könnte. Als es soweit war, waren wir zufrieden, auch wenn es häufig einzelne Unstimmigkeiten gab. Insgesamt haben wir das sehr gut zusammen geregelt. Ich habe ziemlich gute Erinnerungen daran.
"Deutschland hat einen sehr guten Weg zurückgelegt"
Heinemann: Aber es gab in Frankreich durchaus auch Vorbehalte...
Védrine: Nein, höchstens über die Bedingungen und den zeitlichen Ablauf. Denn der war schwer umzusetzen. In dem berühmten Zehn-Punkte-Plan sprach Bundeskanzler Kohl Ende Oktober 1989 noch von einem Prozess, der mehrere Jahre dauern würde. Die Partner in Washington oder Paris haben gedacht, es werde noch einige Jahre lang ein West- und ein Ostdeutschland geben. Die Dinge haben sich im Januar dann deutlich beschleunigt. Daher kam es übrigens zur Reise von François Mitterrand und des US-Außenministers Baker nach Berlin-Ost. Es gab an dem einen oder anderen Punkt Unstimmigkeiten. Bemerkenswert ist aber, dass die alle überwunden werden konnten. Die Vereinigung Deutschlands wurde gut begleitet, vor allem, wenn man es mit dem Zerfall Jugoslawiens vergleicht. Weder die Jugoslawen, noch die Europäer oder die Amerikaner sind damit zurechtgekommen. Wir haben damals aber auch Fragen gestellt: Ich bin in diesen Tagen nach Polen eingeladen worden zu einem Kolloquium über die Oder-Neiße-Grenze. Die Polen sind dankbar dafür, dass François Mitterrand diese Frage gestellt hatte. Übrigens hat Genscher Mitterrand in diesem Punkt unterstützt, gegen den Kanzler. In Deutschland haben einige Mitterrand als aggressiv bezeichnet, weil er diese Frage stellte oder zu früh stellte. Solche Meinungsverschiedenheiten gab es. Aber das wurde geklärt.
Heinemann: Von 1990 bis 2015: Wie fällt Ihre politische Bilanz der 25 Jahre des vereinigten Deutschland aus?
Védrine: Hervorragend. Deutschland hat diese Herausforderung außerordentlich gut bewältigt. Ich weiß, dass das im Konkreten im geografischen und sozialen Sinne vielleicht nicht ganz der Fall ist und es schwierig ist. Aber Deutschland hat sich hervorragend entwickelt. Die Reformen der Regierung Schröder haben in Deutschland eine Dynamik entwickelt, die jetzt unter Frau Merkels Amtszeiten, die Deutschland sehr geschickt führt, zum Tragen kommen. Ich habe da keinerlei Kritik an Deutschland. Als Franzose bedauere ich, dass Frankreich nicht gleiche Reformanstrengungen unternommen hat. Deutschland hat einen sehr guten Weg zurückgelegt.
"Bedaure, dass Deutschland in der Sahel-Region nicht mehr unternimmt"
Heinemann: Ist Deutschland zu dominant in Europa?
Védrine: Wirtschaftlich ist es dominant, aber dank seiner Arbeit und seiner Reformen. Die anderen haben keinen Grund, Deutschland zu kritisieren.
Heinemann: Herr Mélenchon von links und Frau Le Pen von rechts werfen Deutschland Diktat, Hegemonie, ein deutsches Europa vor. Sagen die, was viele Franzosen denken?
Védrine: Nein. Vielleicht denken das einige von denen, aber die sollte man nicht ernst nehmen. Das ist vollkommen übertrieben. Denn schauen Sie: Bei den Verhandlungen über Griechenland und die Haushaltspolitik hat Deutschland die Linie vertreten, auf die wir uns gemeinsam verständigt hatten, im Vertrag von Lissabon und nachfolgenden Texten. Hier von Diktat zu sprechen ist absurd.
Heinemann: Aber der Ton macht die Musik: Gefällt Ihnen die Tonlage aus Berlin immer?
Védrine: Ich habe da nichts zu kritisieren. Höchstens den Kurswechsel in der Energie- und Atompolitik: viel zu früh, schlecht vorbereitet und ohne Absprache. Die Folge: Deutschland wird leider über Jahre mehr Kohle einsetzen und mehr CO2 ausstoßen. Ich sage das, um Ihnen zu zeigen, dass ich auch zur Kritik fähig bin. Im geopolitischen Bereich bedauere ich, dass Deutschland in der Sahel-Region nicht mehr unternimmt. Frankreich ist dort aktiv im Sinne der Sicherheit von ganz Europa und auf Anfrage des gesamten Sicherheitsrates der Vereinten Nationen. Deutschland könnte mehr tun, und niemand würde Deutschland dafür kritisieren. Ich rate meinen deutschen Freunden, isolierten Äußerungen von extremer politischer Seite in Frankreich keine Bedeutung beizumessen. Die große Mehrheit der Franzosen hat zurecht ein positives Bild von Deutschland und erkennt an, was Deutschland geleistet hat.
"Das System von Schengen gemeinsam neu festigen"
Heinemann: Wie bewerten Sie Angela Merkels Rolle in der aktuellen Flüchtlingskrise?
Védrine: Deutschland hat manchmal allein entschieden, die anderen aber auch. Wir müssen das System von Schengen gemeinsam neu festigen. Wir müssen das Asylrecht harmonisieren. Die Reaktionen in Deutschland, auch wenn die von einem auf den anderen Tag wechselten, hielt ich insgesamt für besser als die der anderen. Selbstverständlich können die Europäer mehr asylsuchende Flüchtlinge aufnehmen. Wobei ich damit nicht die Migration aus wirtschaftlichen Gründen meine.
Heinemann: Frankreich ist in den Krieg in Syrien eingetreten. Warum allein und nicht an der Spitze einer europäischen Operation?
Védrine: Das müssen Sie nicht Frankreich, sondern die anderen Europäer fragen. Frankreich hat immer gesagt, dass das Assad-Regime ebenso schrecklich wie der IS ist. Aus Realismus und um wirksamer zu operieren, hat sich Frankreich der amerikanischen Linie angeschlossen mit dem Ziel: erst die Kräfte gegen den IS konzentrieren und danach versuchen, das syrische Regime zu wechseln. Warum die anderen Länder in Europa außer Großbritannien nicht mitmachen, weiß ich nicht. Das muss man die fragen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
* Im Audio-Mitschnitt hören Sie, dass Christoph Heinemann versehentlich von 24 Jahren gesprochen hat; er bezog sich allerdings auf das Jahr 1989, insofern sind 26 Jahre richtig.