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25 Jahre Genscher-Rede in Prag
Meilenstein auf dem Weg zur Wiedervereinigung

Prag im September 1989: Wochenlang campierten Tausende Flüchtlinge aus der DDR im Garten der Deutschen Botschaft in Prag. Nach Jahren der Bevormundung im SED-Staat träumen sie von einem freien Leben, auf der anderen Seite der Mauer. Doch die Zukunft war ungewiss – bis Bundesaußenminister Genscher auf dem Balkon des Botschaftsgebäudes erschien.

Von Stefan Heinlein |
    Der ehemalige Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) steht am Mittwoch (30.09.2009) auf dem berühmten Balkon der Deutschen Botschaft im tschechischen Prag.
    Der ehemalige Bundesaußenminister Hand-Dietrich Genscher (FDP) auf dem berühmten Balkon der Deutschen Botschaft in Prag. (picture alliance/dpa/ZB/Ralf Hirschberger)
    Mitte September '89 ist der Garten der deutschen Botschaft eine Schlammwüste. Ein Feldlager unter offenem Himmel. Seit dem Sommer steigt unaufhörlich Tag für Tag die Zahl der Flüchtlinge. Nach der Schließung der Botschaftstore klettern die Familien über den meterhohen Zaun in die Freiheit. Der damalige ARD-Korrespondent Walter Tauber schildert die dramatischen Ereignisse:
    "Am Nachmittag haben DDR-Bürger ein von der Polizei aufgestelltes Gitter einfach überrannt. Und sind so zum Garten der Botschaft gelangt. Dort wo in den vergangenen Wochen hunderte DDR-Bürger den Zaun überstiegen haben, um auf das Botschaftsgelände zu gelangen fand heute so eine Art Massenflucht statt."
    Der Ansturm der DDR-Flüchtlinge ist für die Diplomaten eine gewaltige logistische Herausforderung. Mit LKWs werden Zelte, Decken und Nahrungsmittel der Bundeswehr über die Grenze aus Bayern nach Prag transportiert. Ehrenamtliche Mitarbeiter des Roten Kreuzes sind für Koordination der Hilfe zuständig. 25 Jahre danach erinnert sich die damalige Einsatzleiterin Waltraud Schröder:
    "So und nun stellen sie sich das vor – das hier waren alles Zelte - überall Zelte. Und von da strömten die Menschen zum Essen, zur Toilette und zur Information. Es war alles hier ein ständiger Menschenstrom hier in dieser Gegend."
    Marion und Rolf Mahlke sind mit ihrem dreijährigen Kind aus der Nähe von Magdeburg in die Botschaft geflüchtet. Die Reise in die CSSR ist für DDR-Bürger ohne Visum möglich. Aus Sorge vor einer Schließung auch dieser Grenze machen sie sich nur mit einer kleinen Reisetasche auf den Weg nach Prag.
    "Zu essen war hier haufenweise da"
    "Zu essen war hier haufenweise da. Für die Kinder war das hier wie so ein riesengroßer Spielplatz. Die fanden das gar nicht so schlimm wie wir Erwachsene. Wir haben uns immer nur gefragt, was passiert jetzt, wie lange müssen wir drin bleiben. Geschlafen haben wir auf den Treppenstufen, manchmal auch in den Zelten. Das schwierigste waren eigentlich die Toiletten, die hygienischen Verhältnisse."
    Die dramatischen Bilder von den Prager Botschaftsflüchtlingen gehen um die Welt. Seit Wochen verhandelt der damalige Kanzleramtsminister Rudolf Seiters mit der DDR-Regierung über eine Lösung. Die SED-Führung weigert sich beharrlich, ihre Bürger in den Westen ausreisen zu lassen.
    "Und ich weiß auch noch wie es dem Bundeskanzler gegangen ist und den anderen Politikern. Es gab keinen Tag, wo wir nicht über diese Dinge gesprochen haben und die Alternativen abgewogen haben aber wir waren der festen Überzeugung, dass wir nichts unternehmen dürfen, was den Menschen die Hoffnung nehmen kann, dass sie doch noch in die Freiheit kommen. Das heißt, wir bauen keine Mauern um die Botschaften."
    Erst die Verhandlungen am Rande der UN-Vollversammlung in New York bringen schließlich den Durchbruch. Außenminister Genscher bekommt Unterstützung nicht nur von den Westmächten, sondern auch von seinem damaligen sowjetischen Amtskollegen Schewardnase. Auch die Hoffnungen auf Devisenzahlungen aus Bonn steigern die Kompromissbereitschaft in Ost-Berlin, so Rudolf Seiters:
    "Je näher der 6. und 7. Oktober kam, je mehr man auch die Nervosität der DDR-Verhandlungspartner spürte – also diese große Feierlichkeit des 40. Geburtstages -, umso mehr wuchs bei uns die Hoffnung, dass wir zu einem guten Ende kommen."
    Ausreisewillige DDR-Bürger steigen am 29.9.1989 mit ihren Kindern über den Zaun der bundesdeutschen Botschaft in der tschechoslowakischen Hauptstadt Prag.
    Ausreisewillige DDR-Bürger steigen am 29.9.1989 mit ihren Kindern über den Zaun der bundesdeutschen Botschaft in der tschechoslowakischen Hauptstadt Prag. (dpa/picture alliance/Kemmether)
    Rückreise durch die DDR
    Das gute Ende folgt am späten Abend des 30. September. Im Schein einer hastig herbeigeschafften Stehlampe tritt kurz vor 19 Uhr Hans-Dietrich Genscher auf den Balkon der Prager Botschaft und verkündet per Megafon den über 5.000 Flüchtlingen das Ergebnis der Verhandlungen:
    "Wir sind heute zu Ihnen gekommen, um ihnen mitzuteilen, dass heute ihre Ausreise..."
    Noch in der Nacht fahren mehrere Züge der Reichsbahn über Dresden nach Hof im bayerischen Oberfranken. Staats- und Parteichef Erich Honecker hatte darauf bestanden, die Ausreiseroute über das DDR-Territorium führen zu lassen um die Souveränität seines Regimes zu dokumentieren. In der Nachrichtensendung "Aktuelle Kamera" wird die offizielle Lesart der SED-Führung verkündet:
    "Angesichts der unhaltbaren Situation in den Botschaften der BRD in Prag und Warschau hat die Regierung der DDR einen humanitären Akt unternommen, um die Lage, die nicht von ihr herbeigeführt wurde, zu beenden. Die Personen aus der DDR, die sich rechtswidrig in diesen Botschaften aufhielten, wurden in der vergangenen Nacht in die BRD ausgewiesen."
    Doch mit der glücklichen Ausreise in die Bundesrepublik ist die Flüchtlingswelle noch nicht beendet. In den folgenden Tagen und Wochen strömen erneut die Menschen in Massen in die Prager Botschaft. Bis zur Öffnung der Grenze der CSSR zur Bundesrepublik Anfang November gelangen rund 20.000 DDR-Bürger auf diesem Weg in den Westen. Der eiserne Vorhang ist endgültig Geschichte. Prag, die Flüchtlinge und die bundesdeutsche Botschaft sind damit - so Rudolf Seiters - ein Meilenstein auf dem Weg zur deutschen Wiedervereinigung.
    "Ich denke, dass der 30. September den Beginn des Untergangs der DDR markiert. Die Ausreise brachte für die DDR keine Entlastung, sondern war die Vorstufe zum Bruch aller Dämme, die die DDR jahrzehntelange um ihre Bürger errichtet hatte."