Vor 25 Jahren verübten vier Neonazis in Solingen einen Brandanschlag auf das Haus der Familie Genc - fünf Menschen starben. Bereits in der Nacht war der für das "Solinger Tageblatt" tätige Journalist Wolfgang Schreiber vor Ort. Erst Schritt für Schritt hätten die Solinger begriffen, was sich da ereignet habe. "Es war auch meine Stadt, in der ich geboren bin und lebe. Das waren Bilder, die einen auch 25 Jahre danach nicht verlassen", sagte er im Dlf.
Schreiber beklagt, dass die Stadt danach allein gelassen worden sei. Die Berichterstattung sei zum Teil sehr sensationsheischend gewesen, man habe die Stadt zum "braunen Nest" abgestempelt. Daraus sei ein Trauma entstanden, weil dieser Brandanschlag Solingen in eine Reihe mit Hoyerswerda, Mölln, Rostock gestellt habe. Nachdem der Tross der Bereichterstatter wieder abgezogen sei, hätten die Solinger erst wieder als Stadtgemeinschaft zusammenfinden müssen.
"Chemiewaffen des Sprachgebrauchs werden herausgeholt"
Als alarmierend bezeichnete Schreiber die aktuelle Verrohung der Sprache, die im Grunde noch stärker als damals stattfinde. Das sei auch dem Einzug der AfD in den Bundestag geschuldet und insofern fatal, als dass die Politik wieder verstärkt um den rechten Rand buhle.
Das Interview in voller Länge:
Christiane Kaess: Es war der 29. Mai 1993. Bundesweit lief gerade eine Debatte um die Verschärfung des Asylrechts. Es gab viele Flüchtlinge aus dem Bosnien-Krieg. Da legten Rechtsradikale in Solingen Feuer im Eingangsbereich des Wohnhauses einer türkischstämmigen Familie. Fünf Frauen und Mädchen starben in dem Brand. Die Feuerwehr konnte sie nicht mehr retten. Mit dem Anschlag stand Solingen dann in einer Reihe mit Rostock, Mölln und Hoyerswerda. Die Stadt erlebte danach gewalttätige Demonstrationen. Viele hatten Angst, vor allem die türkischen Familien. Sie bereiteten sich auf Fluchtsituationen vor, kauften Feuerlöscher oder Strickleitern, und sie überklebten ihre türkischen Familiennamen auf den Klingelschildern.
Heute zum 25jährigen Gedenken wünschen sich die Familien der Getöteten eigentlich, dass es nur um das gemeinsame Trauern geht, aber schon im Vorfeld sorgte die Teilnahme des türkischen Außenministers Cavusoglu für Diskussion und warf die Frage auf, ob er Wahlkampf für Präsident Erdogan machen würde.
Darüber möchte ich sprechen mit Wolfgang Schreiber. Er war 1993 Journalist beim "Solinger Tageblatt". Heute ist er Fraktionsgeschäftsführer der SPD-Ratsfraktion in Solingen. Guten Morgen, Herr Schreiber.
Wolfgang Schreiber: Guten Morgen!
Kaess: Herr Schreiber, wie haben Sie den Tag nach der Nacht des Brandanschlags erlebt?
"Bilder, die einen nicht mehr verlassen"
Schreiber: Wir waren, ein Kollege und ich, bereits in der Nacht draußen. Ich denke, jeder, der das gesehen hat vor Ort, den werden diese Bilder nicht verlassen. Und der Tag danach begann eigentlich auf das Dramatischste damit, dass ein Teil der Familie, die nun teilweise auch schwerverletzt weggebracht worden ist, zunächst mal zurückkehrte an diesen Ort und letztlich das gesamte Ausmaß des Furchtbaren mal erst mitbekam. Um diesen Zeitpunkt waren zwei der fünf Toten gefunden und im Laufe des Vormittags wurden Stück für Stück auch die anderen in den Trümmern entdeckt, und das war im Grunde prägend für den gesamten Tag. Die Solinger begriffen ja auch Stück für Stück, was da passiert war, und so entwickelte sich dann im Laufe des Tages die eine oder andere Spontandemonstration, wo Menschen tatsächlich mit ihren Einkaufstüten – es war ja ein Samstag, ein sehr belebter Samstag -, mit den Einkaufstüten, mit den Kindern mit über die Straße gingen. Das sind Bilder, die einen auch 25 Jahre danach – ich merke das in den letzten Tagen – einfach nicht verlassen.
Kaess: Wie ging es Ihnen da als Journalist? Sie mussten ja berichten.
Schreiber: Das ist für mich bis heute eine relativ schwierige Sache, weil natürlich mit professioneller Distanz. Ich habe das auch gerade in der Begegnung mit einem der Opfer von damals vor wenigen Tagen gemerkt, dass man selber vieles auf professioneller Distanz hält. Aber es war und ist auch meine Stadt, in der ich geboren bin und in der ich lebe, und so ist das letztlich auch eine persönliche Betroffenheit, die es übrigens auch bei anderen Berichterstattern gab, bei der man selber merkt, du kannst manche Dinge nicht voneinander trennen, auch wenn der Versuch professionell selbstverständlich sofort abläuft.
Kaess: Sie haben es schon kurz angesprochen. Sie haben vor kurzem für eine Dokumentation des WDR eine Überlebende getroffen, Güldane Incir. Die war damals ein kleines Mädchen. Die Mutter ist dem Brand zum Opfer gefallen. Wie war das für Sie, 25 Jahre später, sie wiederzutreffen?
Schreiber: Das war besonders bewegend und berührend, weil es der erste Punkt war, als ich in der Nacht nicht allzu lange nach Ausbruch des Brandes vor diesem wirklichen Fanal dort in der unteren Wernerstraße stand, dass mir die Einsatzkräfte sagten, sie hatten unmittelbar vorher die junge Frau, die Mutter von Güldane, aus einem Kellerschacht geborgen, worein sie gestürzt war, nachdem sie offensichtlich wirklich unmittelbar bevor sie hätte gerettet werden können gestürzt, gefallen, gesprungen – wir wissen es nicht – ist. Aber die Flammen waren einfach schon an ihr dran und der dichte Qualm. Man hatte sie nicht retten können und das war auch mein erster Eindruck, dieses Wissen, dort ist eine junge Frau gerade ums Leben gekommen, und das war für mich, das Gespräch mit Güldane und auch dieses Wissen, dass sie 25 Jahre letztlich mit den Schmerzen, mit den Brandverletzungen, mit den Verletzungen, der Fuß, der gebrochen ist, kompliziert, dass Menschen seit 25 Jahren noch auf ganz andere Weise mit dem Erlebten umgehen müssen, als das alle Solinger betrifft.
"Solingen war relativ schnell zum braunen Nest geworden"
Kaess: Herr Schreiber, jetzt schreiben Sie in einem Artikel, der heute in mehreren Regionalzeitungen erscheint: "In der Zeit danach wurde die Stadt alleine gelassen." – Was meinen Sie damit?
Schreiber: Mit alleine gelassen: Wenn Sie zu einem derartigen Tatort oder Schauplatz werden, dann waren in den Wochen danach, ich weiß nicht, wie viele hundert Teams aus der ganzen Welt hier in Solingen. Die haben so spotmäßig berichtet und Solingen war relativ schnell zum braunen Nest geworden, was überhaupt nicht stimmte. Aber da guckt mal kurz jemand rein. Die Berichterstattung war auch teilweise sehr sensationserheischend mit der Folge, dass auch weitere, ich sage mal, Zaungäste nach Solingen gelockt wurden. Die Gewalttaten danach spielten ja eben auch im Bericht eine Rolle.
Danach ist der gesamte Tross wieder weg. Die Folgen sind aber, auch von teilweise skandalöser Berichterstattung, in der Stadtgesellschaft vorhanden.
Kaess: Wie denn?
Schreiber: Damit waren wir letztlich alleine mit der Fragestellung, wie finden wir als Stadtgesellschaft, als "Ursolinger", als zugewanderte Solinger wieder zusammen. Das war letztlich die Aufgabe der letzten 25 Jahre.
Kaess: Wie, würden Sie denn sagen, hat das die Stadt geprägt? Sie schreiben in Ihrem Artikel ja sogar von der Wiederkehr eines Traumas bei diesen Gedenktagen. Was heißt das genau?
Schreiber: Das Trauma der Solinger bis heute ist, dass dieser Brandanschlag letztlich nicht, sage ich mal, die Meinung der Menschen traf. Das ist anders, als wir es erlebt haben seinerzeit in Rostock-Lichtenhagen oder Hoyerswerda. Niemand hätte es für möglich gehalten. Selbst sehr kritische Menschen räumen das heute ein. Niemand hätte am Abend des 28. sozusagen für möglich gehalten, dass in der Nacht in Solingen ausgerechnet etwas passiert. Das heißt, die Solinger leben mit einer Tat, die sie nicht verstehen, die sie nicht akzeptieren. Sie sind danach zum braunen Nest gestempelt worden, teilweise bis heute, und es hat sehr starke Gewalttaten gegeben, und das nenne ich das Trauma der Solinger, dass letztlich ihre Stadt zu einer Art Bühne geworden ist. Das ist 25 Jahre so gut wie nicht gewesen bei den Gedenktagen. Es war immer ein stilles, ruhiges Gedenken. Und ausgerechnet zum 25. ist letztlich das alles zurückgekehrt, obwohl die Feierlichkeiten in Solingen völlig anders geplant waren.
Kaess: Jetzt haben Sie aber selber schon gesagt, es war damals eine ziemlich aufgeheizte Stimmung. Es gab diese Asyldebatte, es gab diesen Satz, das Boot ist voll. Es wird jetzt im Nachhinein von einer Verrohung der Sprache in der Öffentlichkeit gesprochen. Also es gab Anzeichen und es waren nicht die ersten rassistischen Vorfälle. Es gab Anzeichen, dass so was natürlich letztendlich überall im Land hätte passieren können, oder?
Schreiber: So ist das. Auch das gehört zur Rückkehr dieses Traumas, dass wenn man nüchtern sich überlegt, wo standen wir damals, wo stehen wir heute, dass sich in diesen Teilen, was die Verrohung von Sprache angeht – übrigens vor 25 Jahren war genauso Wahlkampf, Landtagswahlkampf in Bayern wie heute -, dass diese Verrohung der Sprache im Grunde noch deutlich stärker heute stattfindet und dass man das Gefühl hat, ja, es gibt diesen klaren Zusammenhang zwischen Worten, die im parlamentarischen, im politischen Raum stattfinden, und irgendwelchen zur Not auch Hohlköpfen, die hinterher meinen, diesen Worten mal endlich Taten folgen zu lassen.
"Chemiewaffen des Spracharsenals werden herausgeholt"
Kaess: Ich nehme an, Sie spielen damit auch irgendwo auf die AfD an, wo ja tatsächlich die Wortwahl zum Teil noch viel schärfer ist, wenn wir zum Beispiel an Alexander Gauland denken, den Fraktionsvorsitzenden der AfD im Bundestag, der über die frühere Integrationsbeauftragte Aydan Özoguz sagt, man werde sie in Anatolien entsorgen. Was denken Sie, wenn Sie so was hören?
Schreiber: Das ist eine völlig neue Qualität. Ich habe mir natürlich die Frage gestellt, warum das Gedenken vor fünf Jahren – das war das 20jährige; diese Feier ist in Solingen relativ groß gewesen, die Gedenkfeier und eine große lange Veranstaltungsreihe. Ich habe mir schon überlegt, wo ist der Unterschied, warum war es damals ein Gedenken wie all die Jahre vorher auch, nur tatsächlich auch in einem größeren gesamtgesellschaftlichen Rahmen? Warum ist das heute so anders? Warum ist das nach fünf Jahren, die ja wenig sind im Vergleich zu der restlichen Zeit seither, warum ist das so viel schwieriger geworden?
Dieses Klima, dass wir auf der einen Seite eine neue Fraktion im Bundestag haben, die, was die Sprache angeht, was den Umgang angeht, ganz andere Maßstäbe setzt als frühere Diskussionen, gleichzeitig aber viele auch dazu verführt, um den rechten Rand sozusagen zu buhlen, und das zu einer Art sprachlichen Wettlauf. Ich habe das in dem Beitrag genannt, dass wieder mal die sozusagen die Chemiewaffen des Spracharsenals herausgeholt werden, nämlich Ressentiments oder blanker Ausländerhass.
"Solinger werden sich das stille Gedenken nicht nehmen lassen"
Kaess: Und wir haben ein komplizierteres Verhältnis zur Türkei. Deshalb auch diese Diskussion um den geplanten Auftritt des türkischen Außenministers Cavusoglu.
Schreiber: Ja.
Kaess: Was halten Sie davon?
Schreiber: Ich denke, nach allem, was wir inzwischen hören – ich kenne den Redetext noch nicht, der auf Deutsch heute verteilt werden soll am Mahnmal bei der Gedenkfeier -, ich gehe aber davon aus, dass nach allen Äußerungen hier zumindest kein Wahlkampf stattfinden wird. Aber natürlich ist es für viele eine Belastung, hier den Vertreter einer Regierung sprechen zu hören, die Rechtsstaatlichkeit alles andere als so empfindet, wie wir sie empfinden. Und das ist natürlich auch eine Belastung. Aber trotzdem: Ich denke, die Solinger werden sich das stille würdige Gedenken nicht nehmen lassen.
Kaess: … sagt Wolfgang Schreiber. 1993 war er Journalist beim Solinger Tageblatt und heute ist er Fraktionsgeschäftsführer der SPD-Ratsfraktion in Solingen. Danke für Ihre Zeit heute Morgen, Herr Schreiber.
Schreiber: Gerne.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.