Um 1:22 Uhr in der Nacht auf den 28. September 1994 setzte die Estonia den ersten Notruf ab.
Die Autofähre kämpfte auf dem Weg von Tallinn nach Stockholm in schwerer See. Die Bugklappe riss ab, Wasser strömte ins Autodeck; in Minuten sank das Schiff und riss 852 Menschen in den Tod, darunter 501 Schweden und 284 Esten.
Die Ursache der Katastrophe wurde Jahre lang untersucht. Wahrscheinlich war das Bugvisier, dessen Scharniere der schweren See nicht standhielten, der Grund des Untergangs. Oder war der Kapitän im Sturm zu schnell gefahren? Oder war das Schiff für das raue Seegebiet der östlichen Ostsee gar nicht geeignet? Oder war es eine Kombination von allem? Ein Verantwortlicher oder Schuldiger für den Untergang konnte nie festgestellt werden.
Wahrscheinich war Bugvisier Auslöser der Katastrophe
Die Stockholmer Staatsanwaltschaft stellte 1998 ihre Ermittlungen ein. 2009 wies der zuständige schwedische Verteidigungsminister Sten Tolgfors die Forderung nach neuen Ermittlungen zurück.
"Wir hatten zwei voneinander unabhängige Expertengruppen, die den Unglückverlauf übereinstimmend bewertet haben. Wir hatten Computersimulationen, Modelltests. Internationale Forschergruppen hatten sich damit beschäftigt und wir haben die Taucher befragt, die sich in der Nähe des Wracks befanden. Und alle bestätigten die Ergebnisse der internationalen Havariekommission."
Und das heißt: Wahrscheinich war das Bugvisier der Auslöser der Katastrophe. Überlebende und Opferangehörige gaben sich mit diesem "Wahrscheinlich" nie zufrieden. Schon 1996 verklagten sie die Meyer Werft in Papenburg, die das Schiff gebaut hatte, und den französischen Schiffs-TÜV Bureau Veritas auf Schadensersatz vor einem französischen Gericht in Nanterre bei Paris am Firmensitz des Bureau Veritas. Das Klassifizierungsunternehmen hatte der Estonia die Seetauglichkeit bescheinigt.
Viele Verzögerungen im Prozess
Der Prozess kam nicht in Gang, weil die französischen Richter auf den Ausgang schwedischer Prozesse warteten. In Schweden hatten die meisten Betroffenen zunächst auf Schadensersatzklagen verzichtet, weil sie von einer Versicherung entschädigt werden sollten.
Doch schwedische Gerichte urteilten über zwei Instanzen, dass dies nach schwedischem Recht unzulässig ist.
Weiter verzögert wurde der Prozess, weil die klagenden Opferverbände mit ihren eigenen Rechtsanwälten wegen angeblicher Veruntreuung von Spendengeldern stritten. Und einer der Anwälte beschuldigte die estnische Vorsitzende des Opferverbands sogar, sie sei Teil einer gigantischen Konspiration westlicher Geheimdienste, die die Wahrheit über den Untergang der Estonia, nämlich Sabotage, vertuschen wollten. Der Anwalt wurde schließlich gefeuert.
Nun klagen 1.100 Opfer und Hinterbliebene auf 41 Millionen Euro Schadensersatz. Ob das französische Gericht zu einem Urteil kommt, ist unsicher. Denn es gibt ja keinen offiziell Schuldigen. Die beklagte Meyer Werft hat bereits vorab mitgeteilt, sie werde sich nicht zum Prozessausgang äußern.
Und Mart Raudsepp, heute Sprecher der estnischen Angehörigenvereinigung Memento Mare, weiß nicht, welche Erfolgsaussichten die Klage hat. "Wir haben keine Informationen, was in Frankreich vor sich geht und wie die Verhandlungen verlaufen werden", teilt er mit.