Archiv

25 Jahre Tafeln
"Wir sind ein guter seismografischer Faktor, um zu erkennen, was schiefläuft"

Die inzwischen 900 Tafeln in Deutschland seien nicht nur stille Ausgeber von Lebensmitteln, sondern sie legten auch "die Finger in die Wunde", um auf Probleme aufmerksam zu machen, sagte Jochen Brühl vom Bundesverband der Tafeln im Dlf. Sie verstünden sich als Bürgerbewegung, die Veränderungen einfordere.

Jochen Brühl im Gespräch mit Sandro Schroeder |
    Brot verteilen ehrenamtliche Helferinnen in Wiesbaden (Hessen) am 13.12.2012 in der Tafel der Stephanusgemeinde an Bedürftige. Zur Klientel der ausschliesslich spendenfinanzierten Tafel gehören unter anderem Rentner, Arbeitslose, Alleinerziehende und Geringverdiener. Foto: Boris Roessler dpa (Zu dpa-lhe Blickpunkt "Wenn es nicht reicht: Tafeln in Hessen haben grossen Zulauf" vom 16.12.2012) | Verwendung weltweit
    Ehrenamtliche Helferinnen verteilen in Wiesbaden in der Tafel der Stephanusgemeinde Brot an Bedürftige (dpa)
    Sandro Schroeder: Die erste Tafel in Deutschland wurde 1993 gegründet und die Idee war damals, die Lebensmittel, die im Verkauf übrig bleiben, die sollen nicht im Müll landen, sondern stattdessen bei Bedürftigen. Seitdem hat sich diese Idee in ganz Deutschland ziemlich etabliert. Die Maßstäbe sind heute ganz andere. Es gibt über 900 Tafeln deutschlandweit und laut eigenen Angaben helfen sie 1,5 Millionen Menschen.
    Am Telefon ist jetzt Jochen Brühl. Er ist Vorsitzender des Bundesverbands der Tafeln. Guten Tag, Herr Brühl.
    Jochen Brühl: Hallo, Herr Schroeder. Ich grüße Sie.
    Schroeder: Die Supermärkte, die optimieren ja heute ihren Vertrieb ganz anders als vor 25 Jahren. Merken Sie das denn schon an dem Angebot an Lebensmitteln, das Sie bekommen?
    Brühl: Die Anzahl der Lebensmittel in Deutschland, die übrig bleiben, die ist immer noch sehr, sehr groß. Wir sind ja auch Partner in der Aktion Lebensmittelrettung, und deswegen ist es für uns ganz wichtig zu entdecken: Es gibt immer noch diese unglaublichen Lebensmittelüberschüsse. Allerdings steigt natürlich auch die Anzahl derer, die zu den Tafeln kommen. Hatten wir 2007 700.000 Tafelnutzer, waren wir 2016 bei 1,5 Millionen. Wir geben das ab, was übrig ist, an die, die zu uns kommen.
    Schroeder: Und wie gehen Sie damit um, wenn die Nachfrage steigt, aber das Angebot eigentlich ziemlich ähnlich bleibt? Haben Sie eine Strategie, wie Sie immer mehr Menschen bei den Tafeln bedienen können?
    "Wir kriegen das, was übrig ist, und das verteilen wir"
    Brühl: Nein. Wir haben ja nicht den Anspruch, dass alle Menschen ausreichend bei uns bekommen können, sondern nur das bekommen, was wir haben. Wir versorgen Menschen ja nicht mit Lebensmitteln, sondern unterstützen sie, und wir können nur das weitergeben, was wir zuvor gespendet bekommen haben. Es gibt ja keinen Zukauf von Lebensmitteln bei uns, wir sind auch kein Supermarkt, sondern wir kriegen das, was übrig ist, und das verteilen wir.
    Schroeder: In den letzten 25 Jahren haben sich ja nicht nur die Tafeln verändert, sondern eigentlich auch die Menschen, die zu den Tafeln kommen. Was würden Sie denn sagen, was ist denn die Entwicklung, die sie erkennen können?
    Brühl: Ich glaube, dass die Tafeln ein guter seismografischer Faktor sind, um zu erkennen, was in unserer Gesellschaft schiefläuft. Wir sind ja auch nicht nur stille Ausgeber von Lebensmitteln, sondern wir sind auch Menschen, die die Finger in die Wunde legen, um zu sagen, Alleinerziehende oder Menschen mit Fluchthintergrund. Das haben wir sehr früh erkannt und sehr früh gesagt und Ende letzten Jahres haben wir auch die Regierung und die Parteien, die Gesellschaft darauf hingewiesen, dass wir erwarten, dass viele Rentnerinnen und Rentner zukünftig auf Unterstützung angewiesen sind, weil deren Rente nicht ausreicht. Ich denke, das ist das, was wir bei den Tafeln dann auch erleben.
    Schroeder: Trotzdem ist ja immer wieder die Kritik an den Tafeln, dass sie so eine unzureichende Sozialpolitik ausgleichen und damit irgendwie mittragen. Was entgegnen Sie denn dieser Kritik?
    "Ich bin wütend, dass Armut immer noch zur Seite geschoben wird"
    Brühl: Die Gesellschaft ist nicht nur die Politik. Die Gesellschaft ist auch bürgerschaftliches Engagement. Wir würden ja heute kein Interview führen, wenn dieses Thema Armut nicht endlich auch in den Nachrichten oder in den Berichten vorkommen würde. Ich denke, dass die Tafeln es geschafft haben, dass dieses Thema skandalisiert wird. Wir wollen aber nicht nur fordern, sondern auch praktisch helfen. So verstehen wir uns auch als Bürgerbewegung. Wir fordern Dinge, damit sich Dinge auch ändern können, aber es wäre natürlich blöd, wenn man den Bock zum Gärtner macht. Das hilft auch den Menschen nicht. Ich freue mich heute an diesem Tag über das Engagement von über 60.000 Helferinnen und Helfern. Ich bin verärgert über die Millionen Tonnen achtlos weggeworfener Lebensmittel. Und ich bin wütend über die unzureichende gesellschaftspolitische Bedingung, dass Armut immer noch zur Seite geschoben wird, und daran müssen wir was ändern und das sehen wir als Aufgabe.
    Schroeder: Ich habe gelesen, mittlerweile ist jeder vierte Kunde bei den Tafeln im Rentenalter. Der Anteil der Leute, die in Rente sind und zu den Tafeln gehen, der hat sich in den letzten zehn Jahren fast verdoppelt. Wie erklären Sie sich das?
    Brühl: Das liegt daran, dass Menschen im Niedriglohnsektor beschäftigt waren, die Rente nicht ausreicht und die dann zu den Tafeln kommen. Das sagen wir Politik, das sagen wir Gesellschaft. Es ist natürlich einfach zu sagen, Tafeln kompensieren da was weg, aber die andere Seite der Tafel ist, dieses Problem zu benennen. Deswegen wünschen wir uns auch an diesem Tag, in diesem Jahr, wo wir 25 Jahre alt werden, dass wir nicht jedes Mal immer darauf hinweisen müssen, dass sich etwas verändern muss, und wir Schulterklopfer bekommen, weil wir gute Arbeit machen, sondern wir wollen, dass sich durch die Tafeln und ihre Aktionen Dinge auch verändern und dass Rentnerinnen und Rentner von ihrer Rente leben können und nicht zu den Tafeln kommen müssen.
    Schroeder: Wie schaffen Sie denn den Generationenwechsel aufseiten der Helfer? Ich habe nämlich auch gehört, dass Sie ja auch Nachwuchsprobleme haben bei den Freiwilligen.
    "Das Ehrenamt muss attraktiver werden"
    Brühl: Das ist auch ein gesellschaftliches Problem, dass Ehrenamt natürlich auch attraktiver gestaltet werden muss. Wir reden ja auch alle vom demografischen Wandel und wir reden auch davon, dass sich die Lebensarbeitszeit verändert, und da fordern die Tafeln auch ganz massiv, wenn sich die Lebensarbeitszeit zum Beispiel verlängert, dann muss natürlich für all die Organisationen, auf die wir gucken, die ehrenamtlich tätig sind, auch was passieren. Ehrenamt wird sich ändern. Wir versuchen, junge Leute, andere Leute zu gewinnen, aber auch die Gesellschaft in die Pflicht zu nehmen zu sagen, nicht mehr nur schwarz-weiß denken, sondern an der Stelle, wo Ehrenamt abgebaut wird, weil die Lebensarbeitszeit sich beispielsweise verlängert, muss die Gesellschaft auch Alternativen bieten.
    Schroeder: Das sagt Jochen Brühl vom Bundesverband der Tafeln. Vielen Dank für das Interview, Herr Brühl.
    Brühl: Sehr gerne.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.