"Guten Morgen nochmal alle zusammen, Micha macht die Blattkritik."
Redaktionskonferenz im Foyer der "jungen Welt" in Berlin Mitte. An den Wänden hängt DDR-Kunst, in den Auslagen Sonderbände von Lenin. Auch bei der Blattkritik fällt auf: Wir sind bei einer linken, sehr linken Zeitung.
"Das Thema hab ich auch angefangen, ist immer sehr marxistisch orthodox."
In der aktuellen Ausgabe nimmt sich die Rubrik "Thema" das Kurzarbeitergeld vor. Titel: "Der Staat rettet dem Kapital die Kommandogewalt über die Arbeit". Im Politikteil dann ein Stück über die negativen Auswirkungen von Wirtschafts-Sanktionen – gegen Kuba und Venezuela.
"Die ökonomischen, die politischen Grundlagen der Gesellschaft hinterfragen wir, stellen sie infrage in radikaler Weise. Wir denken auch immer an den Aspekt der Veränderbarkeit, an andere Gesellschaftssysteme, an gesellschaftliche Alternativen, also jenseits des Kapitalismus", sagt Chefredakteur Stephan Huth. Die "junge Welt" verhehlt nicht, woher sie kommt – nämlich aus der DDR – und mit welchem Blick sie die Welt sortiert.
"Marxismus jetzt nicht als Dogma oder Religionsersatz, sondern wie ein Welterklärungs- und Veränderungsmodell. Wir tasten uns auf Grundlage dieser Klassiker Marx, Engels, Lenin heran an die Wirklichkeit."
Grundsätzlich "systemkritisch"
Vor mehr als 70 Jahren wurde die Zeitung als Zentralorgan der FDJ gegründet und wie zunächst sieben weitere DDR-Zeitungen im geeinten Deutschland weitergeführt. Vor 25 Jahren stand die Zeitung dann vor dem Aus, sollte eingestellt werden, erzählt Verlags-Geschäftsführer Dietmar Koschmieder.
"Damals gab es eine Pressekonferenz, wo das verkündet wurde. Und ich hab' mich aufs Podium gesetzt und verkündet, dass die Belegschaft in Eigenregie weitermachen will. Und uns war klar, wenn es weitergehen soll, müssen wir einen Verlag gründen, den Verlag 8. Mai. Wir aber alle hatten kein Geld, und eine Tageszeitung zu machen ist nichts, was man aus der Westentasche bezahlt, und mussten deswegen auch klar sofort eine Genossenschaft mitkonzipieren."
In dieser Zeit habe sich die Zeitung, die nach der Wende eher linksliberal ausgerichtet gewesen sei, ein schärferes, linkeres Profil gegeben, sagt Koschmieder.
"Dahinter steckte sehr wohl dieses grundsätzliche systemkritische Herangehen. Und eine Zeitung, die bewusst konsequent systemkritisch gegen Kriege auch opponierte, die gab es eben nicht. Nach dem Markt-Sprech wäre das die Marktlücke, mit der man auch in einem kapitalistischen Markt existieren kann, weil eben so ein Produkt von anderen Verlagshäusern nicht gemacht wird."
Enge Verbundenheit zum DDR-Staat
Dieses systemkritische Denken geht aus Sicht von Klaus Schröder bei der Zeitung sehr weit. Der Politologe leitet an der FU-Berlin die Forschungsstelle SED-Staat.
"Sie lehnt nicht nur den Kapitalismus ab, sondern sie hält auch das politische System, was wir haben, nur für eine Agentur des Kapitals, ist also der Meinung, die Gesellschaft muss in Gänze geändert werden. Sie ist ein Periodikum für DDR-Nostalgiker, die freuen sich dann, wenn der Mauerbau gelobt wird."
Koschmieder und Huth sehen die "junge Welt" in der Tradition ihrer DDR-Vergangenheit. Am "allgemeinen DDR-Bashing" will sich die Zeitung nicht beteiligen, im Gegenteil.
"Es ist so, dass wir dieses Herabtun des ersten Versuchs, einen Sozialismus auf deutschem Boden aufzubauen, dem widerstehen wir. Und das ist unser Bezug als Zeitung: Wir sind ein Medium, das sich eben diesen Prinzipien des Antikapitalismus und der internationalen Solidarität sich sehr, sehr stark verbunden und verpflichtet fühlt."
Wie weit die Verbundenheit zum ersten sozialistischen deutschen Staat geht, offenbart der Verlag immer mal wieder. Mehrere Redakteure waren hauptamtliche oder inoffizielle Stasi-Mitarbeiter, darunter der ehemalige Chefredakteur Arnold Schölzel.
Zum 50. Jahrestag des Mauerbaus vor neun Jahren titelte man zu einem Bild der DDR-Kampfgruppen: "Wir sagen an dieser Stelle einfach mal: Danke!" für 28 Jahre "Friedenssicherung in Europa", "Club Cola und FKK", "Hohenschönhausen ohne Hubertus Knabe". Koschmieder bereut das bis heute nicht.
"Überhaupt nicht. Wir hätten niemals gedacht, dass diese Provokation dermaßen stark ankommt."
Im Visier der Verfassungsschützer
Wohl auch wegen solcher Titel beobachtet das Bundesamt für Verfassungsschutz die Zeitung. Begründung: Sie pflege "eine traditionskommunistische Ausrichtung" und propagiere "die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft.
"Das ist aktiv geschäftsschädigend und ein Skandal, das würde es in keiner anderen bürgerlichen Demokratie in Westeuropa oder sonstwo in der Welt geben."
Die Leserschaft scheint sich daran nur bedingt zu stören. Mit der klaren linken Ausrichtung hat die Redaktion Erfolg, offenbar nicht nur bei ein paar DDR-Nostalgikern.
"Wir haben bis ins bürgerliche und konservative Milieu hinein Leser, die dann sagen: Ich teile viele eurer Ansichten nicht und Schlussfolgerungen nicht, aber ich finde es spannend, weil ich von euch Informationen kriege, die ich woanders nicht kriege und auch Denkansätze und Überlegungen, die in meinem Bekanntenkreis undenkbar wären."
Seit Mitte der 90er-Jahre steigt die Auflage gegen den allgemeinen Trend in der Zeitungslandschaft. 20.000 zahlende Leser hat die "junge Welt" inzwischen. Tendenz weiter steigend.