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25 Jahre VIVA
Das langsame Ende eines Lebensgefühls

Ein "Jugend- und Musiksender für Pop und Fun" wollte VIVA beim Sendestart am 1. Dezember 1993 sein. Die Moderatoren waren jung, bunt und schrill, und sie hatten was zu sagen. Doch die Krise hat auch VIVA erreicht. Ende des Jahres wird der wichtigste deutsche Musikfernsehkanal eingestellt.

Von Christoph Möller |
    Viva -Moderatorin Charlotte Roche im Jahr 2000 im Studio
    Viva -Moderatorin Charlotte Roche im Jahr 2000 im Studio (imago stock&people)
    1. Dezember 1993, 12 Uhr. Ein Fernsehstudio in Köln-Ossendorf. VIVA geht auf Sendung: "Es ist so weit! VIVA ist da! - Mein Name ist Heike. Ich bin der Nils. Und ich bin der einzige und wahre Mola. Kurz: Wir sind VIVA. Und wir sind mehr als nur ein Fernsehsender, denn wir sind euer Sprachrohr, und euer Freund. Und ab heute bleiben wir für immer zusammen, okay?"
    Der frühere VIVA-Moderator Mola Adebisi hält das Logo des Musiksenders in Händen.
    Der ehemalige Viva-Moderator Mola Adebisi mit dem Logo des Musiksenders (picture alliance /dpa /Roland Scheidemann)
    "Na, da hast du gar keinen Bezug zu", erinnert sich der damals 17-jährige Mola Adebisi an die erste Sendung. "Du machst dir gar keine Gedanken darüber, dass das, was du da gesagt hast, oder was du anziehst, gesendet wird."
    Von Beginn an gibt sich VIVA als cooler, kumpelhafter Jugendsender. Heike Makatsch, Nils Bokelberg und Mola Adebisi moderieren die erste Sendung. Sie waren jung, trugen schräge Klamotten und hatten was zu sagen: "Alles, was euch angeht, geht uns genauso an. Wir sind euer Fernsehen, eure Sprache, eure Farben und vor allem: eure Musik!"
    Mola Adebisi: "VIVA war die Jugend. Wenn du damals gelebt hast, und in dem Alter warst, wenn du VIVA nicht geguckt hast, dann brauchtest du auch nicht zur Schule zu gehen, weil dann hast du einfach verpasst, worum es geht. Das war so wie wenn heute jemand keinen Instagram- oder Facebook-Account hat. Dann bist du einfach raus, gehörst nicht dazu. So war das halt."
    "Und jetzt kommen wir zur Sache." Das erste gesendete Musikvideo. "Ganz klar, dass wir uns für eine Band entschieden haben, die so ist wie wir: 'Zu Geil Für Diese Welt', Die Fantastischen Vier!"
    Thomas D. (v. l.), Smudo und Michael Beck (alias DJ Hausmarke) von der Stuttgarter Hip-Hop-Band "Die Fantastischen Vier", aufgenommen 2003 im Kölner Tanzbrunnen
    Thomas D. (v. l.), Smudo und Michael Beck (alias DJ Hausmarke) von der Stuttgarter Hip-Hop-Band "Die Fantastischen Vier", aufgenommen 2003 (picture alliance / dpa / Jörg Carstensen)
    "Ich habe damals immer die Losung ausgegeben, wir brauchen die Unterstützung und die Zuneigung von allen Teens und allen Twens", erinnert sich Christoph Post, Mitbegründer und erster Programmdirektor von VIVA. Die Teens bekamen Chart- und Popmusik am Nachmittag, die Twens Genresendungen am Abend. Etwa "Wah Wah", ein Indie-Rock-Magazin, das teilweise aus einem alten Proberaum sendete, oder die Hip-Hop-Sendung "Freestyle":
    "Wir sind hier bei Freestyle und chillen ab. Und heute haben wir die Absoluten Beginner hier live im Studio. Außerdem haben wir für euch einen Beitrag über Jungle-Musik mit DJ Bleed, später in der Sendung zeigen wir noch einen Arrested-Development-Beitrag, und jetzt sehen wir erstmal Derek B. mit 'We've Got The Juice'".
    Ein Dammbruch für die junge, popkulturelle kreative Szene
    Christoph Post: "Da hat sich auch ein bisschen mehr Musikjournalismus abgespielt, klar, weil da gab es eine ganz andere Auseinandersetzung mit der Musik als bei den Kids am Nachmittag." VIVA rumste in die deutsche Fernsehlandschaft. Innerhalb weniger Monate wurde der Sender zur popkulturellen Instanz. Christoph Post sagt, Anfang der 90er-Jahre war der Markt für deutsche Popmusik extrem überschaubar. Für kleinere Bands und noch unbekannte Musikvideoproduzenten war es fast unmöglich, ins Fernsehen zu kommen:
    "Das hat sich durch VIVA nachhaltig verändert. Das war wirklich wie so ein Dammbruch für die junge, popkulturelle kreative Szene Deutschlands, von der man, ehrlich gesagt, gar nicht wusste, dass sie da ist. Aber die war da. Und die hat in VIVA eine Plattform vorgefunden, die dann auch fantastisch ausgenutzt werden konnte."
    Das Pop-Feuilleton sah das natürlich etwas anders. Die großen Majorlabels hatten Anteile am Sender. Entsprechend hoch war die Zahl der gespielten Majorlabel-Musikvideos. Zwar war VIVA in den ersten Jahren nah dran an der deutschen Musikszene und ein Vertreter für die Interessen junger Menschen. Doch als das Unternehmen 1996 profitabel wurde, wurden redaktionell aufwändige Sendungen wie "Freestyle" eingestellt. Kein Wunder, sagt Barbara Hornberger, Professorin für die Didaktik populärer Musik an der Hochschule Osnabrück: "Erstmal ist natürlich VIVA ein Privatsender - und ein Privatsender hat kommerzielle Interessen."
    Eine Art kulturelles Jugendzimmer
    VIVA wollte Geld machen und musste etwa keinen öffentlich-rechtlichen Auftrag erfüllen.
    Barbara Hornberger: "Auf der anderen Seite ist jede clevere Kulturindustrie gut beraten, immer auch Nischen abzubilden. Und das machen sie genau so lange, bis sie ziemlich sicher das Gefühl haben, das will keiner hören. Oder nicht genug. Das heißt, sie versuchen, immer möglichst viel auszuprobieren, und das, was durchkommt, kommt durch, und alles andere wird irgendwann wieder eingestellt. Und so hat VIVA vermutlich auch gearbeitet."
    VIVA als eine Art "kulturelles Jugendzimmer" - das war schneller vorbei als gedacht. Trotzdem: VIVA hat Jugendkultur ins Fernsehen gebracht. Der Musiksender begleitete die Auflösung von Take That, ..."Unfortunately, the rumors are true. From today, it’s no more"... ebenso wie den Selbstmord von Kurt Cobain ...
    Der 1994 verstorbene Nirvana-Sänger Kurt Cobain.
    Der 1994 verstorbene Nirvana-Sänger Kurt Cobain. (imago / LFI)
    "Ihr könnt euch, glaube ich, vorstellen, wie hart es mich getroffen hat, als ich davon gehört habe, dass Kurt Cobain, der Frontmann von Nirvana, Selbstmord begangen hat"
    Boyband Tokio Hotel
    Boyband Tokio Hotel (AP Archiv)
    ... oder den Aufstieg der jungen Gruppe Tokio Hotel .... "Ich glaube jeder, oder viele in unserem Alter, träumen davon, irgendwann mal ein Video auf VIVA laufen zu haben. Wenn man das zum ersten Mal sieht, das ist kaum zu glauben".
    Talentschmiede vor und hinter der Kamera
    Zudem gilt der kleine Spartenkanal als Talentschmiede: Stefan Raab, Heike Makatsch, Oliver Pocher, Sarah Kuttner, Charlotte Roche: sie sind heute bekannte Persönlichkeiten und haben alle bei VIVA quasi live im Fernsehen das Fernsehmachen gelernt.
    "Wir wurden ja ohne irgendeine Vorerfahrung, ohne dass man uns irgendwas beigebracht hat, einfach vor die Kamera gelassen", sagt Collien Ulmen-Fernandes, die von 2003 bis 2015 bei VIVA moderierte. Und auch die allerletzte VIVA-Sendung dieses Jahr moderieren wird. "Es war wie so eine Übungsfläche. Man muss ja sagen, dass es hinter der Kamera ähnlich aussah. Da gab es auch Redakteure, die überhaupt keine Ahnung hatten, von dem, was sie machen. Man hatte hinter der Kamera Leute, die das erst lernen müssen, und dementsprechend sahen einige Sendungen aus. Aber das hat auch den Charme von VIVA ausgemacht."
    Szenen aus VIVA-Sendungen:
    "Ist das echt? Ist das alles echt? Ist das keine Perücke? Nein, das ist keine Perücke, das ist alles echt."
    "Ist VIVA deiner Meinung nach wichtig, um die Leute auf so eine gewisse Grund-Doofheit im Fernsehen einzuschießen, oder?"
    "Du hast wohl mal in einem Interview gesagt, dass es sehr schwer für dich ist – wie soll ich sagen? – passende Kondome zu finden, weil dein Ding so klein ist."
    Der Anfang vom Ende
    2004 wird VIVA vom US-amerikanischen Medienkonzern Viacom übernommen, zu dem auch MTV gehört. VIVA, der ehemaligen "Jugend- und Musiksender für Pop und Fun" wird kulturell immer flacher. Heute teilt sich VIVA die Frequenz mit dem Comedysender Comedy Central und sendet nur noch morgens und in der Nacht Musikvideo-Strecken. VIVA-Gründer Christoph Post glaubt, die Übernahme durch Viacom war ein Faktor des langsamen Bedeutungsverlusts:
    "Und das Zweite war sicherlich das Aufkommen von YouTube, also die Tatsache, dass man nicht mehr irgendwo im Fernsehen minuten-, stundenlang warten musste, bis das Video kam, das man gerne sehen wollte. Sondern man konnte es dann sehen, wenn man es sehen wollte. Das hat natürlich alles verändert. Und die Musikindustrie im Generellen, aber eben auch Musikfernsehen, das waren die ersten Unterhaltungszweige, die davon in voller Wucht erwischt wurden."
    Das Logo des Video-Portals YouTube wird auf dem Display eines Smartphones angezeigt. Im Hintergrund ist auf einem Bildschirm die YouTube Homepage zu sehen. 
    YouTube - Logo (picture-alliance / dpa / Monika Skolimowska)
    "Und dann gibt es schon überhaupt kein Grund mehr, von einem linear und analog arbeitenden Gerät zu sitzen und zu warten, bis sie den Lieblingstitel vielleicht mal spielen", meint auch Pop-Professorin Barbara Hornberger. "Und als dann die Smartphones kamen und man das auf jeder Busfahrt, bei jedem Einkaufen, bei jedem Joggen, sozusagen ständig nach Wahl dabeihatte, dann brauchte man tatsächlich auch dieses Medium nicht mehr. Sie haben auch nichts Anderes erfunden, das sie dagegensetzen konnten, sondern das gemacht, was dann viele machen: Erst spart man, dann spart man am Personal, und dann bleibt nichts über, als ein Produkt, das längst woanders viel attraktiver ist."
    Das Konzept von VIVA ist heute nicht mehr zeitgemäß: YouTube ist die modernere, selbstbestimmtere Version des Musikfernsehens. Neue Musik wird auf Streamingdiensten entdeckt. Jetzt treffen User oder Algorithmen die Entscheidungen, was, wann läuft. VIVA hat kein Konzept gefunden, um auch in der neuen Medienwelt ein "Sprachrohr für die Jugend" zu bleiben, wie es Heike Makatsch in der allerersten Sendung sagte.
    Barbara Hornberger: "Es hat schon auch was damit zu tun, dass Musik, glaube ich, den Status als Leitmedium von Generationen und Jugendkultur verloren hat. Wenn man heute in einem Schulbus mitfährt, die streiten über Games, die streiten über Serien. Diese Idee, dass Musik das ist, was Generationen ausmacht, bündelt, sprechfähig macht, ich glaube, die ist einfach vorbei."
    Am 31. Dezember dieses Jahres wird VIVA eingestellt. Nach einem Vierteljahrhundert endet die Geschichte des wichtigsten deutschen Musikfernsehkanals.
    Mola Adebisi: "Es war schon eine Zeit, die man nicht mehr wiederholen kann."
    Ulmen-Fernandes: "Ich habe nach der Schule immer als erstes VIVA eingeschaltet und habe dann bis zum Abend VIVA geguckt. Deswegen bedeutet mir der Sender auch so viel, weil ich mit diesem Sender aufgewachsen bin."