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25 Jahre Wiedervereinigung
"Die Freiheit des Westens war nur eine halbe Freiheit"

Für Roland Jahn war der Tag der Deutschen Einheit der "Tag der Auflösung der inneren Zerrissenheit". 1983 war der heutige Leiter der Stasi-Unterlagen-Behörde aus der DDR zwangsausgebürgert worden und lebte seitdem im Westen. Die Einheit sieht Jahn heute auf gutem Wege: Es gebe in beiden Teilen Deutschlands das Recht auf Freiheit und Selbstbestimmung, sagte er im DLF.

Roland Jahn im Gespräch mit Christoph Heinemann |
    Roland Jahn, Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU).
    Roland Jahn, Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU). (picture alliance / dpa / Jörg Carstensen)
    "Wir haben die Möglichkeit, uns gut einzubringen in diese gesellschaftliche Diskussion, wie wird die Gesellschaft gestaltet, und das ist das Entscheidende," so Jahn. Dass mit Angela Merkel und Joachim Gauck zwei Ostdeutsche and er Spitze des Staates stehen, sei toll, sagte Jahn: "Das symbolisiert die neue Freiheit. Das symbolisiert die Möglichkeiten, die Ostdeutsche haben in dieser Gesellschaft."
    In einigen Bereichen zeige sich jedoch immer noch, dass die Bedingungen für Entwicklung im Osten Deutschlands manchmal ganz anders seien. Beispielsweise im Vereinsfußball: Die ostdeutschen Vereine spielten alle nicht in den höheren Ligen. Deshalb müsse weiterhin ein Augenmerk darauf gerichtet bleiben, dass in den verschiedenen Teilen Deutschlands gleiche Bedingungen geschaffen werden.

    Das Interview in voller Länge:
    Christoph Heinemann: Der 9. November 1989 war natürlich der spannendere Tag. Dass die Mauer offen sein könnte, das war im politischen Stammhirn einer ganzen Generation nicht hinterlegt. Dennoch: Den 3. Oktober nur als Vollzug zu beschreiben, hieße vermutlich, dieses Datum in seiner Bedeutung zu verringern. Viel Arbeit, viel politisches Fingerspitzengefühl waren notwendig, um die Einheit vertraglich zu vollenden. Und viele Wunden lagen jetzt offen. Der Unterdrückungsapparat konnte auf einmal besichtigt werden. Die Stasi ist einst wegen Menschen wie Roland Jahn gegründet worden, gegen Bürger, die nicht nachplappern wollten, was die obersten Erichs und ihr Restregime ihnen jahrzehntelang vorstammelten. Jahn wurde 1983 gegen seinen Willen aus der DDR ausgebürgert und manchmal schmunzelt die Geschichte uns ja zu, denn heute arbeitet Roland Jahn als Bundesbeauftragter eben für die Stasi-Unterlagen, als Chef der Gauck-, Birthler- oder jetzt Jahn-Behörde. Guten Morgen!
    Roland Jahn: Schönen guten Morgen!
    Heinemann: Herr Jahn, wie haben Sie den 3. Oktober 1990 erlebt?
    Jahn: Ja. Der 3. Oktober war natürlich ein wichtiger Tag für mich ganz persönlich. Einmal habe ich gearbeitet als Journalist für die ARD. Wir haben eine Sondersendung gestaltet, gemeinsam mit den doch bekannten Moderatoren Fritz Pleitgen und Jürgen Engert. Ich erinnere mich noch genau, wie sie vorgefahren sind am Brandenburger Tor. Der eine stieg aus dem Mercedes aus und der andere aus dem Trabi, Symbole für die beiden Teile Deutschlands. Es war ein Festtag, es war ein großer Abend und wir saßen noch lange mit der Redaktion gemeinsam in einer Bar in Berlin und haben gefeiert.
    "Das hat mich innerlich sehr befreit"
    Heinemann: Ob Sie es wollten oder nicht, Ihr Leben und diese DDR hingen ja zusammen. Wie fühlte sich das an, als sich diese drei Buchstaben in Geschichte auflösten?
    Jahn: Für mich war das natürlich von ganz besonderer Bedeutung, auch persönlich. Ich war ja sechs Jahre zuvor im Jahre 1983 gewaltsam aus der DDR ausgebürgert worden, gegen meinen Willen, und das war natürlich ein Einschnitt in mein Leben. Damals, als diese Stasi-Aktion durchgeführt wurde, sprach ich von Westberlin aus dann mit meiner Mutter am Telefon und sie sagte mir, man hat uns unseren Sohn gestohlen, und da wusste ich, dass solange diese Mauer steht, die Freiheit des Westens nur eine halbe Freiheit ist. Und dann im Westen lebend in den 80er-Jahren, da war ich hin und hergerissen: Was bin ich denn jetzt, Ostler oder Westler? So war für mich dann der Tag der Deutschen Einheit, das Ende der DDR eine Auflösung der inneren Zerrissenheit. Ich hatte das, was jetzt eintrat, schon angefangen, in Westberlin zu leben, nämlich die Deutsche Einheit, und jetzt war das staatlich vollzogen, und das hat natürlich auch mich innerlich sehr befreit.
    Heinemann: Herr Jahn, 25 Jahre später: Ist zusammengewachsen, was zusammen gehört?
    Jahn: Natürlich entwickelt sich eine Gesellschaft immer weiter. Ich denke, dass die Deutsche Einheit auf einem guten Weg ist. Wir haben ja wirklich gerade das, worum es eigentlich geht, die Grundrechte, und wir haben die Möglichkeit, uns gut einzubringen in diese gesellschaftliche Diskussion, wie wird die Gesellschaft gestaltet, und das ist das Entscheidende. Freiheit und Selbstbestimmung sind in beiden Teilen Deutschlands vorhanden und es kommt darauf an, dass wir gemeinsam was daraus machen.
    "In den verschiedenen Teilen Deutschlands gleiche Bedingungen schaffen"
    Heinemann: Wie wichtig sind die gelernten DDR-Bürger Angela Merkel und Joachim Gauck für die innere Einheit?
    Jahn: Ich denke, es ist erst mal toll, dass hier auch deutlich wird, dass Ostdeutsche den Weg auch an die Spitze dieses Staates geschafft haben, und das symbolisiert die neue Freiheit. Das symbolisiert die Möglichkeiten, die Ostdeutsche haben in dieser Gesellschaft. Da haben sich ja nicht nur in der Politik hier Menschen profiliert, sondern auch in der Wirtschaft, im Sport. In vielen Bereichen sind Ostdeutsche an wichtigen Schaltstellen. Auch wenn ich natürlich untröstlich bin, dass manche Fußballvereine nur in der dritten und vierten Liga spielen.
    Heinemann: Oh! Welcher Fußballverein fällt Ihnen da ein?
    Jahn: Natürlich Carl Zeiss Jena! Carl Zeiss Jena ist der ewige Spitzenreiter der DDR-Oberliga-Tabelle und in dem Sinne war es wahrscheinlich auch gut, dass die DDR zu Ende ging. Aber heute spielen sie in der vierten Liga und das zeigt, dass natürlich schon die Bedingungen für Entwicklung im Osten Deutschlands doch manchmal ganz anders sind und natürlich auch das, was gewachsen ist an Vereinsstruktur, an auch Professionalität im gerade bezahlten Fußball, hier im Westen Deutschlands sich durchaus anders entwickelt hat. Dieses Beispiel Fußball zeigt auch, wie wichtig es ist, dass wir noch ein Augenmerk darauf richten, dass in den verschiedenen Teilen Deutschlands doch gleiche Bedingungen geschaffen werden, damit alles sich gleich auch entwickeln kann.
    Heinemann: Sie richten aus beruflichen Gründen Ihr Augenmerk noch auf ganz andere Dinge. Ehemalige Bürgerrechtler schließen nicht aus, wenn man mit ihnen spricht, dass selbst heute noch Seilschaften der ehemaligen Stasi aktiv sind. Gehen Sie auch davon aus?
    Jahn: Natürlich gibt es Seilschaften, aber das ist doch ganz normal. Menschen, die 40 Jahre lang zusammengearbeitet haben, getragen waren von einer gemeinsamen Ideologie, dass die noch irgendwo verbunden sind. Und wenn sie das tun im Rahmen der Gesetze, dann ist das ja auch nichts Verwerfliches.
    Heinemann: Im Rahmen der Gesetze, wenn, passiert so was?
    Jahn: Im Rahmen der Gesetze. Das ist sozusagen das, was natürlich die Norm ist, die sie einzuhalten haben. Ich denke, dass überall dort, wo das nicht geschieht, deutlich Grenzen gesetzt werden müssen. Das ist aber eine Frage von Polizei und Staatsanwaltschaft.
    Serie "Weißensee": "Ein wichtiger Beitrag zur Aufklärung"
    Heinemann: Helfen Fernsehserien wie "Weißensee" - war jetzt in diesen Tagen zu sehen -, die Vergiftungen, für die totalitäre Regime stehen, zu veranschaulichen?
    Jahn: Ich denke schon. Gerade die Fiktion, gerade der Spielfilm hat ja eine Riesenchance, auch eine emotionale Brücke zum Zuschauer zu schlagen. Ich muss sagen, mich hat die Serie sehr beeindruckt, weil auch hier deutlich gemacht worden ist, dass die Stasi nicht nur ein Apparat war, sondern handelnde Menschen. Die haben eine individuelle Verantwortung und die Darstellung hat auch deutlich gemacht, dass es immer um Menschen und ihre Ansichten und ihre Gefühle geht. Das, glaube ich, ist ein wichtiger Beitrag zur Aufklärung, gerade auch, wie die Mechanismen in der DDR gewirkt haben.
    Heinemann: Der Historiker Harry Waibel hat darauf hingewiesen, dass bei den Montagsdemonstrationen relativ früh auch schon extrem rechte Positionen zu hören waren. "Wir sind das Volk" oder "Wir sind ein Volk in den Grenzen von 1939" und so was. Sehen Sie da eine Kontinuität von diesen Demonstrationen zu den Pegida-Veranstaltungen?
    Jahn: Das Wichtige war ja damals im Herbst 1989, dass die Menschen erst mal ihre Angst überwunden haben, auf die Straße gegangen sind und das gesagt haben, was sie dachten. In dem Sinne findet das auch jetzt statt mit Pegida-Demonstrationen. Sie machen ihre Meinung deutlich, und das ist auch gut so. Wir haben freie Meinungsäußerung, wir haben Versammlungsfreiheit und da muss auch jeder seine Meinung sagen können. Aber wenn natürlich Menschen Grundrechte von anderen Menschen ablehnen, wenn wirklich Rassenhass verkündet wird, dann muss natürlich der Staat auch die Grenzen ziehen und ganz besonders dann die Gesetze anwenden, damit das nicht umhertreibt.
    "Man kann Probleme schaffen, wenn man es will und gemeinsam anpackt"
    Heinemann: 25 Jahre später steht Deutschland vor einer weiteren Vereinigungsaufgabe. Kann man bei allen Unterschieden aus den Erfahrungen von vor 25 Jahren Lehren für die Aufnahme der Menschen ziehen, die in diesem Jahr hier hergekommen sind?
    Jahn: Natürlich lernen wir immer aus der Vergangenheit. Natürlich können wir immer die Erfahrung der Vergangenheit nutzen, um gegenwärtige Probleme anzupacken. In diesem Sinne ist es natürlich eine ganz andere Situation. Aber was wir da mitnehmen können ist, vor allen Dingen die Inspiration, die Kraft daraus schöpfen, dass wir in Deutschland etwas geschafft haben, was scheinbar unmöglich war. Eine friedliche Revolution hat die Mauer zu Fall gebracht. Die Menschen waren es, die die Angst überwunden haben und gehandelt haben, und das ist das entscheidende Signal. Man kann Probleme schaffen, wenn man es will und gemeinsam anpackt.
    Heinemann: Sollte es eines Tages in Deutschland eine Michail-Gorbatschow-Straße geben?
    Jahn: Ich denke, dass Michail Gorbatschow große Verdienste hat in der Entwicklung in Europa und auch eine große Bedeutung für die deutsche Einheit hat. Aber man muss auch wissen, dass Michail Gorbatschow ein Kommunist war, der Verantwortung trägt für Repressionen gerade von Sowjetbürgern. Auch das muss immer wieder genannt werden. Und ob es eine Straße gibt, das müssen die Menschen vor Ort entscheiden. Das müssen die entscheiden, die zuständig sind für das Benennen von Straßen. Ich finde, dass gerade Straßennamen natürlich immer wieder zur Auseinandersetzung mit Geschichte anregen, und in der Hinsicht ist vieles möglich. Aber entscheiden tun die Leute das vor Ort.
    Heinemann: Roland Jahn, der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.
    Jahn: ich danke auch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.