Abend für Abend drückt sich ein junger Mann am Theatereingang herum. Schließlich fasst er sich ein Herz und fragt den Pförtner nach einer Schauspielschule. Das hört durch Zufall jemand mit – und so beginnt eine Legende. Der da mitgehört hat, ist Leopold Jessner, Intendant des preußischen Staatstheaters und Leiter der staatlichen Berliner Schauspielschule. Der junge Mann heißt Martin Held, ist – noch - Lehrling bei Siemens und ab sofort Jessners Schützling.1931 hat Held die Schauspielschule abgeschlossen und einen Vertrag mit der Berliner Volksbühne in der Tasche – aber:
"Vier Wochen später traf ich auf einen Intendanten einer Wanderbühne, der mir sagte, was wollen Sie in dem Ensemble der Volksbühne, das ist ein riesiges Ensemble, es sind großartige, hervorragende Schauspieler im Ensemble, was werden Sie als blutjunger Schauspieler da spielen. Sie werden mal ein Tablett über die Bühne tragen müssen, also in ‚Don Carlos‘ den Prinzen von Parma mit dem schönen Satz: ‚Das fragen Sie nicht eher als nach dem Ausgang meiner ersten Schlacht‘ – aber würde Sie das befriedigen? Und ich sah das natürlich ein, und da er mir zugleich drei herrliche Rollen anbot, so bin ich an diese Wanderbühne in Ostpreußen gegangen …"
Auf Ochsentour durch die Provinz
Held geht also auf Ochsentour durch die Provinz. Fast die komplette Nazizeit spielt er erst in Ostpreußen, später in Darmstadt und Frankfurt. Vor der Zumutung, in die NSDAP einzutreten, duckt er sich erfolgreich weg. Lange glaubt er, noch nicht reif genug zu sein für die Rollen, die ihm wirklich am Herzen liegen. In Frankfurt allerdings erregt er 1947 überregionale Aufmerksamkeit: als Harras in der deutschen Erstaufführung von Carl Zuckmayers "Des Teufels General".
"Da gab mir Hilpert ein Buch mit und sagte, lesen Sie das mal, das sei ein interessantes Stück, das wird Sie sicherlich interessieren. In diesem Stück waren aber so viele interessante Rollen drin, Möglichkeiten für mich, dass ich eigentlich gar nicht recht wusste, für welche Rolle ich mich da entscheiden sollte. Und das hab ich ihm gesagt, und da hat er den schönen Ausspruch getan, Bescheidenheit ist eine Zier, aber sie darf nicht in Dusseligkeit ausarten – das war die Hauptrolle in dem Stück 'Des Teufels General'."
1951 ruft noch einmal Berlin. Die Stadt ist nach dem Krieg am Boden, ihr Glanz verweht - und diesmal nimmt Held das Angebot an. Unter Boleslaw Barlog wird er schnell zum gefeierten Star. Obwohl Kritiker Friedrich Luft sein Debüt in Beaumarchais‘ "Der tollste Tag" ein "Debakel" nennt, und obwohl er immer bestreiten wird, ein Star zu sein.
"Ich habe mich immer als Arbeiter im Weinberg Thaliens gehalten, nicht für mehr."
Zum Publikumsliebling avanciert Martin Held nicht als strahlender Held oder Liebhaber. Der Kuchen- und Zigarrenfan ist ein Schwergewicht, beeindruckend schon von Stimme und Statur her. Aber er kann die Schwere in Leichtigkeit verwandeln, im Massigen die Bruchlinien erahnen lassen, mit Witz, Ironie und notfalls satirischer Schärfe. Die Traumrollen fliegen ihm zu, er arbeitet mit den ganz Großen zusammen. Fritz Kortner bringt ihn in Max Frischs "Andorra" als Säufer zum Glänzen, unter Hans Lietzau gibt er in Sternheims "Die Hose" den Spießer-Pascha, er ist Shakespeares Prospero und Molières Don Juan.
"Europas größter Darsteller"
Unter seinen vielen, oft humoristischen und von ihm selbst nicht sonderlich hoch geschätzten Filmrollen ragt eine besonders heraus: der Nazi-Jurist in der Nachkriegs-Justizsatire "Rosen für den Staatsanwalt". Und unvergessen bleibt Martin Held als Krapp in der von Samuel Beckett selbst inszenierten deutschen Erstaufführung von "Das letzte Band". Hier ein Hörspielausschnitt:
"Kaum zu glauben, dass ich jemals dieser junge Dachs war. Diese Stimme, mein Gott. Und die Sehnsüchte. Haha. Und die Vorsätze. Haha. Vor allem weniger zu trinken. Statistiken. 1700 Stunden von den 8000 und soundsoviel verflossenen ausschließlich in Kneipen verplempert, mehr als 20 Prozent sagen wir 40 Prozent seines Lebens, im wachen Zustand."
Als Martin Held am 31. Januar 1992 starb, war er für seine nuancierten Charakterzeichnungen vielfach ausgezeichnet worden. Er selber schätzte die Lebensrettungsmedaille am höchsten, die er in jungen Jahren erhielt, als er einen Mann aus der Weser zog. Das schönste Kompliment von allen aber kam von der britischen "Times". Sie nannte Martin Held kurz und neidlos "Europas größten Darsteller".