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2500 Meter unter dem Meer

Die Polarstern ist auf Forschungsfahrt in der Arktis, genauer: in der Framstrasse, zwischen Spitzbergen und Grönland. Zum Nordpol sind es von hier aus gerade noch 1000 Kilometer. Der Forschungseisbrecher des Alfred-Wegener-Instituts in Bremerhaven besucht dann seine nördlichen "Einsatzgebiete", und dazu zählt auch der "Hausgarten", ein mit zahlreichen Forschungsstationen besetzten Tiefseeareal. Denn die Tiefsee umfasst zwar fast 90 Prozent der Meere, und ist damit der größte Lebensraum auf unserem Planeten, aber wir wissen weniger über sie als über die Rückseite des Mondes und erst recht als über den Mars. Es ist eine schwarze, lichtlose Welt, eine kalte Welt mit Temperaturen um den Gefrierpunkt: die Tiefsee. Auf jedem Quadratzentimeter Tiefsee lastet ein Gewicht von bis zu einer Tonne. Dort unten ist das Reich der Tiere. Pflanzen können in der lichtlosen Tiefen nicht existieren. "2500 Meter unter dem Meer - Mit der Polarstern in das Reich der Finsternis" gibt Einblicke in diese fremdartige Welt und beobachtet die Forscher an Bord der "Polarstern" bei ihrer Arbeit.

Von Dagmar Röhrlich | 19.09.2004
    Der Tag ist grau, das dicke, schneebedeckte Eis wirkt stumpf. Unter der Polarstern schießt eine Eisscholle hervor, springt polternd zwei, drei Meter an der Bordwand hoch, ehe sie nach hinten überkippt, ins Meer taucht. Mit aller Kraft wirft sich das Schiff nach vorn, rammt das Eis, schiebt sich weit hinauf, neigt sich mehr und immer mehr – ehe das Eis unter ihrem Gewicht bricht.

    Wieder zieht sich das Schiff zurück, nimmt Anlauf, um sich dann erneut nach vorn zu werfen. Vielleicht 20, 30 Meter entfernt, schläft eine Robbe auf dem Eis. Sie hebt erstaunt den Kopf, betrachtet das Schauspiel, kratzt sich genüsslich den Bauch.

    Die Polarstern ist auf Forschungsfahrt in der Arktis, genauer: in der Framstrasse, zwischen Spitzbergen und Grönland. Zum Nordpol sind es von hier aus gerade noch 1000 Kilometer. Vor uns liegt der Rand der polaren Eiskappe – und zwei-einhalb Kilometer unter uns der Tiefseeboden. Seinetwegen sind wir hier. Westlich von Spitzbergen hat das Alfred-Wegener-Institut seinen "Hausgarten" eingerichtet: ein mit wissenschaftlichen Stationen versehenes Tiefseeareal. Jeden Sommer kommt die Polarstern für ein paar Wochen her, um zu sehen, was sich getan hat.

    Die Tiefsee ist der größte und unbekannteste Lebensraum der Erde. Aber es ist ein Lebensraum ohne Licht, eine kalte Welt. Selbst am Äquator steigt die Temperatur kaum über vier Grad. Hier im Norden werden sogar Minusgrade gemessen. Das Tiefseewasser gefriert nur deshalb nicht, weil ein ungeheurer Druck von mehrere Zentnern auf jedem Quadratzentimeter lastet.

    Tiefsee, ja da gehen die Definitionen auseinander, es gibt keine einheitliche Definition, wo die Tiefsee beginnt.

    Thomas Soltwedel vom Alfred Wegener-Institut. Irgendwo zwischen 200 und 1000 Metern beginnt die Tiefsee, das Reich der Finsterlinge. Wer hier lebt, ist an ein Leben ohne Licht angepasst, an eines wie im Hochdruckkessel, bei Kälte und Hunger.

    Über die Tiefsee wissen wir immer noch sehr wenig. Auf jeder Fahrt finden wir neue Arten, die der Wissenschaft unbekannt sind, und das ist ein interessanter Teil der Geschichte.

    Claude de Broer von der Universität Ghent. Noch vor 30, 40 Jahren schien die Tiefsee eine sehr arme Welt zu sein. Schließlich wirkt sie auf den ersten Blick wenig einladend:

    In den letzten, intensiveren Untersuchungen hat sich gezeigt, dass das nicht stimmt, sondern im Gegenteil, dass die Tiefsee sehr reich ist, nicht unbedingt reich an Biomasse, sondern reich an Arten.

    Dieter Piepenburg vom Institut für Polarökologie der Universität Kiel. In der Tiefsee gibt es keine Pflanzen, denn unterhalb von 200 Metern reicht das Licht nicht mehr zur Photosynthese. Damit hängen 90 Prozent der Meere von dem ab, was an der Oberfläche produziert wird. Die Biologin Karen von Juterzenka vom Alfred Wegener Institut:

    Das Plankton, es stirbt ab, sinkt ab, bildet Partikel, wird umgesetzt, von Bakterien besiedelt, trifft irgendwann auf den Meeresboden und steht dort als Nahrung zur Verfügung. Das kann relativ schnell gehen, wenn Algenblüten auftreten, die dann relativ schnell absinken und dann relativ schnell den Meersboden erreichen.

    Aber innerhalb des Schlamms gibt es sehr große Unterschiede, der Eintrag von Nahrung kann sehr unterschiedlich sein, in Raum und Zeit – und das führt dazu, dass der Lebensraum Tiefsee sehr inhomogen ist.

    So sorgt ein einzelner Stein für eine Nische im grauen Tiefseeschlamm, weil im Luv und Lee unterschiedliche Bedingungen herrschen. Es gibt zahllose solcher meist kleiner Strukturen, die für Abwechslung im Schlamm sorgen:

    Sehr oft steht die Artenvielfalt im Verhältnis zur Vielfalt der Lebensräume. Die Tiefsee mit ihren Schlammebenen erscheint auf den ersten Blick sehr einförmig. Aber wenn man näher hinschaut, kann man überall Mikrohabitate erkennen. So können Löcher im Schlick, die von Würmern oder Krebsen gebohrt werden, die Lebensräume mit sehr speziellen Bedingungen für andere kleine Lebewesen bilden. Solche Veränderungen scheinen die Grundlage für die Artenvielfalt zu bilden – so weit wir es wissen.

    An Bord der Polarstern ist Victor 6000, ein ferngesteuertes U-Boot des französischen Meeresforschungsinstituts Ifremer, das noch in 6000 Metern Tiefe und damit in 97 Prozent aller Meeresgebiete arbeiten kann. Gerade wird Victor aus seinem Container auf dem Arbeitsdeck gefahren und für den nächsten Tauchgang vorbereitet. Silbern schimmert sein Skelett aus Aluminium und Titan in der Sonne.

    Die Piloten überprüfen die technischen Systeme des Vier-Tonnen-Koloss´: Die Steuerdüsen sind okay, ebenso die Kameras, die Lampen, die Elektronik. Die beiden Metallarme werden ausgefahren, gedreht, wieder angewinkelt. Auch die Mechanik der beiden Schubladen, in denen an Victors Unterseite die Arbeitsgeräte verstaut und die Proben gesammelt werden, funktioniert.

    Eine Stunde später senkt sich der "Wackelmast" am Heck der Polarstern langsam über das Meer. Das Tauchboot wird ins Wasser gelassen, ausgeklinkt. Das Schiff entfernt sich vorsichtig und legt dabei Meter für Meter das Kabel aus, das Victor am Meeresboden mit Strom und Befehlen versorgt und das im Gegenzug Bilder in den Kontroll-Container an Bord liefert. Von hier aus steuern drei Piloten pro Schicht das lieferwagengroßen Hightech-Gefährt.

    Das sind alles Aalmuttern, in ziemlich großen Mengen eigentlich. Was verwundert ist, dass da nur Aalmutter sitzen und keine kleinen Krebse, im Boden lebende Krebse, so genannte Tiefsee-Amphipoden, die normalerweise solche großen Nahrungsbrocken auch in großen Massen anfallen ähnlich wie Ameisen das mit einem toten Tier tun würden.

    Thomas Soltwedel vom Alfred-Wegener-Institut. Victor hat bereits vor Stunden mit seiner Arbeit in der Finsternis begonnen. Die Kameras fangen die Bilder von Dutzenden Fischen ein, die sich um die ausgesetzten Köder versammelt haben. 2500 Meter höher, in dem engen Kontroll-Container, herrscht Gedränge: die 13 Quadratmeter sind vollgestopft mit Technik, und wenn zu den "diensthabenden" drei Piloten und zwei Wissenschaftlern noch ein Zuschauer kommt, muss der sich eng an die Wand drücken. Der Raum ist dunkel. Lediglich die Bildschirme spenden schummriges Licht.

    Es kann durchaus sein, dass diese großen Fische einfach die kleinen Krebse verdrängen und die kleinen Krebse einfach nicht kommen, also es ist schwer zu sagen, warum das so ist.

    Gerade wird am Meeresboden ein Experiment beendet. Victor hatte Fischköder ausgelegt, um Bodenorganismen anzulocken. Die Frage ist, wie sie auf ein in der Tiefsee seltenes Ereignis reagieren: satt zu essen. Jetzt ist Zeit, die Köder einzusammeln und Bodenproben zu ziehen. Mit einem Knopfdruck aktiviert der Pilot die Fernsteuerung des Greifarms und angelt nach dem Draht, an dem der Köder hängt.

    Die weißen, aalartigen Fische mit den großen, schwarzen Augen wollen nicht von ihrem Festmahl lassen: Sie verbeißen sich im Köder, attackieren sogar tapfer den Räuber aus Metall. Vergeblich – die Köder landen in der Sammelschublade, und die Probennahme beginnt.

    Am nächsten Tag ist das ferngesteuerte Tauchboot wieder an Bord. Während Victor gewartet wird, läuft die Arbeit im Labortrakt auf Hochtouren. In einem Labor sichern Michael Schmid von der Akademie der Wissenschaften und Literatur in Mainz und Dieter Piepenburg gerade eine unverhoffte Beute:

    Das sind die Anathurien und zwar wie Sand am Meer – das sind doch diese widerlichen Aasfresser – die waren doch da an dem Fischköder – ja – in Mengen, Du – Die waren unter den Fischködern drunter, die hat der Ingo entdeckt und die mal angesaugt. So. – okay – reiche Beute, das sind bestimmt 15 Stück und noch ein Stück Schwamm.

    Ein paar der Tiefseeasseln zucken noch. Also kommen sie erst einmal ein Deck tiefer in den mit Aquarien vollgestopften, tiefseekalten Überseecontainer der beiden Forscher. Vielleicht erholen sich die Asseln, und man kann später ihren Sauerstoffverbrauch messen.

    Ich tu die einfach hier rein, hier haben wir schon lange nichts mehr– jetzt sind die erst einmal alle im Aquarium, das Wasser hat die richtige Temperatur und den richtigen Salzgehalt, und dann müssen wir sehen, ob sie den Transport überstanden haben.

    Tiefseewesen kennen den Hunger. Denn auf dem Schlick landet nur ein Prozent der Biomasse, die an der Meeresoberfläche produziert wird – und von diesem einen Prozent zehrt der größte Lebensraum der Erde. Nur wenn ein toter Wal, ein Hai oder eine verendete Robbe herunterfallen, beginnt das große Fressen. Meilenweit lockt ihr feiner Geruchssinn die Aasfresser zu dem verrottenden Körper. Nach wenigen Stunden wimmelt es auf ihm von dünnen Schleimaalen, die sich in die Haut bohren und sich verknoten, um beim Herausrupfen der Fleischbrocken besseren Halt zu finden. Später erscheinen die Schläferhaie, beißen große Stücke aus dem Kadaver. Dann beginnt der Körper zu pulsieren. Die Amphipoden sind da. Diese Verwandten der Flohkrebse sind die Hyänen der Tiefsee. Mit ihren messerscharfen Kiefern schneiden sie den größten Wal auseinander. Wird das Fleisch knapp, wird es ungemütlich, denn dann beginnt die Schlacht um die Reste.

    Eine Woche später, Victor ist wieder auf einem neuen Tauchgang. Geschätzte zehn Millionen Tierarten sollen in der Tiefsee leben – so viel wie in einem tropischen Regenwald. Kaum zu glauben, denn so vielfältig belebt wirkt die Szene auf dem Bildschirm nun auch wieder nicht. Im Scheinwerferlicht tauchen ein paar weiße Tiefseeschwämme auf, die von Roten Garnelen als Ansitz genutzt werden. Auf einigen der Schwämme wachsen grazile Haarsterne – wohl, weil es sich erhöht besser nach den Schwebteilchen im Wasser angelt. Dann passiert etwas Besonderes: Ein Tiefseeoktopus erscheint: Rosa schimmert er, und mit der aufgespannten Haut zwischen seinen Fangarmen erinnert er an eine Tänzerin. Elegant schwebt er über eine Seeanemone hinweg, die – durch den Wasserwirbel gewarnt – schnell ihre Tentakel einzieht.

    Konzentriert bewegt ein Victor-Pilot den Manipulator – und 2500 Meter tiefer packt der Maschinenarm in die geöffnete Schublade an der Unterseite des Tauchboots und zieht ein mit einem Drehverschluss versehenes Plastikrohr heraus, einen Pushcorer. Mit ihm werden Proben aus dem Tiefseeboden gezogen.

    Die drei Piloten beraten, wie sie die Aufgabe am besten angehen. Für ein Experiment sind vor zwei Jahren kleine Plastikbälle ins Sediment gedrückt worden.

    Diese Plastikbälle haben in etwa die Form von Tiefseeschwämmen und stellen Hindernisse auf dem Meeresboden dar. Die bodennahe Strömung wird sich an diesen Hindernissen verfangen, das heißt, es wird sich so etwas wie Luv und Lee geben um diese so genannten Mimiks herum. Wir werden diese Mimiks jetzt ausstechen mit Pushcorerern und werden dann um diese Mimiks herum im cm-Bereich Unterproben nehmen, um ein Gefühl dafür zu bekommen, ob es eben kleinskalig um diese Hindernisse auf dem Meeresboden herum Unterschiede in der Besiedlung gibt durch kleine Sedimentorganismen.

    Tiefseeschwämme sind in den monotonen Schlammflächen ein beliebter Treffpunkt. Sie strukturieren den Lebensraum, weil sie die Strömungsmuster verändern. Deshalb hat man sie im Verdacht, eine der Grundlagen für die Artenvielfalt zu sein. Bei der Probennahme mischen sich wieder die Fische ein, denn in der Sammelschublade liegen für ein anderes Experiment noch ein paar Köder – und dieser Duft betört die Aalmuttern.

    Es dauert Stunden, ehe alle Pushcorer mit Tiefseeschlamm gefüllt und wieder in der Schublade verstaut sind. Als nächstes stehen Strömungsmessungen auf dem Programm. Aber der Wind treibt das Eis in Richtung Polarstern. Die Arbeit muss unterbrochen werden. Eberhard Sauter vom Alfred-Wegener-Institut.

    Wir haben jetzt hier Probleme mit dem Eis. Wir können uns nicht so frei bewegen, wie wir es uns wünschen, aber auf der anderen Seite bestätigt diese Situation gerade, dass der Hausgarten an der richtigen Stelle liegt, weil wir Langzeitobservation durchführen wollen, die auch im Zusammenhang mit Klimaveränderungen steht. Wir sind an den Einflüssen dieser Klimaveränderungen in der Tiefsee interessiert, und können eben jetzt gucken, wie diese Verhältnisse sich durchpausen bis zum Meeresboden.

    Einen Tag später ist Victor wieder an Bord. Auf diesen Moment haben die Forscher ungeduldig gewartet. Die Sammelschubladen werden geöffnet. Das Ganze hat etwas von einer weihnachtlichen Bescherung. Jeder der Biologen nimmt freudig seine Proben in Empfang und verschwindet damit in seinem Labor. Für Claude deBroer sind Flohkrebse dabei.

    Diese Tiere hier sind mit beköderten Fischfallen gefangen worden. Sie dringen schnell in die toten Fische ein und können sie sehr schnell bis aufs Skelett abnagen, das ist sehr beeindruckend. Diese Tiere kommen in den tiefsten Lebensräumen vor. Selbst im Marianengraben, dem tiefsten Punkt auf der Erde, leben sie und erfüllen ihre Rolle als Aasfresser auf dem Boden.

    Genetische Untersuchungen zeigen, dass die Ahnen der meisten Tiefseebewohner aus dem Flachwasser zugewandert sind. Dabei mussten sie sich an den tödlichen Druck dort unten anpassen: Das ist die größte Herausforderung.

    Die Einwanderer steigen in den Polregionen ab, wo im Winter schweres, kaltes Oberflächenwasser hinabsinkt. So erobert gerade in einem norwegischen Fjord eine Seegurke die Tiefsee – oder besser: ihre Larven, denn die vertragen höhere Drücke als die erwachsenen Tiere. Das kalte Winterwasser spült sie den Kontinentalhang hinab, sie kommen in Bereiche, wo der Druck höher ist. Ein paar Larven überleben, werden erwachsen, pflanzen sich fort, und diese neuen Larven nehmen die nächste Etappe. Über Tausende von Jahren laufen zahllose, kleine genetische Veränderungen – und schließlich ist die Einwanderung geschafft.

    Die Polarstern hat ihre nächste Messstation erreicht. Dort steht das Standardprogramm der Meeresforscher an: Zuerst der Bodenwasserschöpfer, ein Gestell aus waagerechten Kunststoffröhren, die sich über dem Meeresgrund öffnen und Wasserproben nach oben bringen. Danach ist der Kastengreifer dran. Der sieht aus wie ein großer Baggergreifer im Stahlkasten. 2500 Meter wird er herabfallen, auf den Grund schlagen, ein Stück Meeresboden "herausbeißen" und dann am Stahlseil wieder hochgeholt werden. Gerät Nummer 3 ist der Multicorer, eine Art überdimensionaler Spinne mit acht Plexiglasröhren unter sich. Auch er soll sich in den Schlamm bohren, dann die so gefüllten Röhren verschließen und als Proben an Bord bringen.

    Am späten Vormittag ist ein Besiedlungsexperiment wieder an Deck geholt worden, das die Wissenschaftler vor drei Monaten auf dem Meeresgrund ausgesetzt hatten. Es ist ein Stahlgestell, in dem den Bodentieren in großen Schüsseln künstliche Lebensräume angeboten worden sind:

    Wir haben als Sedimente benutzt: Normales Tiefseesediment, also ganz weiches, toniges Sediment, dann so etwas, was man im Baumarkt als Spielkastensand bekommt, dann haben wir feine Glasperlen als ganz künstliches Sediment verwendet und eine Mischung aus Tiefseesediment und Spielkastensand hergestellt. Diese haben wir auch noch mit unterschiedlichen Arten von Nahrung versetzt. Bei diesem Besiedlungsgestell haben wir nur pflanzliche, zersetzte Abfallstoffe den Sedimenten untergemischt, um auf dese Weise dann testen zu können, wie diese Sedimente von kleinsten Lebewesen am Meeresboden besiedelt werden.

    Die nummerierten Spritzen, bei denen man die Spitze abgeschnitten hat, werden dicht an dicht in die Schüsseln gesteckt und vorsichtig aufgezogen. Unter anderem wird der Chlorophyllgehalt bestimmt – und damit, wie viel Plankton von oben herab rieselt und als Nahrung zur Verfügung steht.

    Wir untersuchen, wie hoch der Biomassegehalt ist, Biomasse an Organismen, die im Sediment leben. Wir untersuchen die Sediemte auf die Bakterien hin, die darin leben und auch auf Würmer, kleine Krebse oder auch anderes.

    Die ersten Analysen laufen an Bord, das meiste wird eingefroren oder mit Formalin fixiert und später an Land untersucht.

    Das Besondere an der arktischen Tiefsee, ist die Tatsache, dass sie mit einer Eisschicht abgedeckelt ist, so dass die normale Primärproduktion, wie man sie kennt vom atlantischen Ozean, vom Indischen Ozean, vom Pazifik, nicht in dem Maße ablaufen kann, wie man es kennt.

    Durch das Eis am Nordpol dringt kaum Licht, weshalb darunter die Algen schlecht gedeihen. Von dem, was unter der Polareiskappe an Biomasse entsteht, könnten nur wenige leben. Trotzdem rieselt auf den Bildern, die Victor bei jedem Tauchgang überträgt, das Plankton wie Schnee. Zumindest also am Rand der Eiskappe, sitzt und krabbelt und schwimmt doch einiges in der Tiefsee.

    Es gibt die Hypothese, dass die Tiere der arktischen Tiefsee sehr stark von einem Lateraleintrag abhängig sind, der kommen kann zum Beispiel über den Eintrag durch die großen sibirischen Flüsse, aber auch hier im Bereich unseres Hausgartens aus dem Atlantik.

    Auch die Meeresströmungen schleppen einiges an Organischem in Richtung Pol. So viel, dass eine Regel der Tiefsee hier im Hausgarten nicht so recht passt. Eigentlich sollte das Leben mit zunehmender Wassertiefe immer ärmer werden, weil immer weniger Fressbares unten ankommt. Aber im Molloy Deep, einem Trichter, der mit 5500 Metern die tiefste Stelle des Hausgartens markiert, krabbeln pro Quadratmeter 20, 30 Exemplare von kaulquappengroßen Seegurken über den Schlick.

    Wenn man das hochrechnet auf die Fläche vom Molloy Deep, da kommt eine ungeheure Biomasse heraus. Das ist zunächst einmal verwunderlich, denn wir haben dort eine Wassertiefe von 5500 m, und normalerweise sollte dort nur noch ganz wenig organisches Material ankommen, was verwertet werden kann von den Organismen der Tiefsee.

    Das Molloy Deep wird dank der Strömungen zur Speisekammer – zumindest für Seegurken.
    Die Tiefsee ist kein isoliertes System. Das zeigen – weitab von der polaren Framstrasse – Beobachtungen in der Porcupine-Tiefsee-Ebene vor der irischen Küste. Dort lebt Amperima rosea, eine fingerlange, durchsichtige, rosa Tiefseegurke. 1996 explodierte der Bestand der bis dahin sehr seltenen Tiere auf 6000 Exemplare pro Hektar – wohl als Folge des globalen Klimawandels. Weil sich die Irische See erwärmt, gedeiht die Leibspeise Amperimas besser. Diese Planktongruppe aber enthält reichlich Karotinoide – und Karotinoide machen Seegurken fruchtbarer. Also pflanzt sich Amperima rosea in ungeheurer Zahl fort. So entlegen das Reich der Tiefsee scheint – es ist doch unmittelbar mit der Welt an der Oberfläche verbunden.

    Victor taucht zum letzten Mal auf dieser Forschungsfahrt. Diesmal können die Biologen mit der slurp-gun, einer Art Unterwasser-Staubsauger, einige Tiefseewesen einzusaugen. Als erstes soll ein weißer Tiefseeschwamm eingesammelt werden. Aber er sitzt auch nach drei Saugversuchen fest im Boden – erst dann kann er sich nicht mehr halten.

    Bei so viel Jagdglück ist die Stimmung im Kontrollcontainer ausgelassen. Das Jagdfieber hat sie alle gepackt. Die Biologen strahlen, scherzen, reden durcheinander.

    Dann klärt sich, wer in den zahllosen "Kratern" wohnt, die den Tiefseeboden übersäen und ihn wie eine Mondlandschaft aussehen lassen. Schon beim ersten Tauchgang waren diese Krater aufgefallen. Bis heute war nie genug Zeit geblieben, einmal einen näheren Blick in die Löcher zu werfen:

    Das Krustentier soll eingesaugt werden, das ist schwieriger als gedacht.

    Es ist geschafft, das Tier sitzt in der Falle. Dieses Exemplar hat zusammen mit seinen Artgenossen die zahllosen Löcher gegraben, die vielleicht alle verbunden sind wie die Röhren eines Kaninchenbaus.

    Die Tiefsee ist nicht so stabil, wie es die eintönigen Schlickflächen suggerieren. Sie reagiert empfindlich auf Veränderungen, etwa der Meeresströme. Heute ist die Tiefsee der größte Lebensraum der Erde, weil sie gut durchlüftet ist. Im Winter sinkt in den Polregionen kaltes, schweres Oberflächenwasser ab, das von da aus die gesamten Weltmeere mit Sauerstoff versorgt. Ohne diesen Nachschub gäbe es in der ganzen Tiefsee nach wenigen hundert Jahren nur noch anaerobe Bakterienmatten. Im Lauf der Erdgeschichte ist das mehrfach passiert. Werden also die Meeresströmungen durch den Klimawandel sehr viel langsamer, könnte die Tiefsee ersticken. Zwar gibt es dafür keine Anzeichen. Aber die Tiefseegurke Amperima rosea zeigt, wie schnell Veränderungen passieren.

    Der letzte Tauchgang ist zu Ende, der letzte Kastengreifer beprobt. Die Polarstern dreht ab, nimmt Kurs auf Richtung Tromsö. Für diesmal endet der Besuch im AWI-Hausgarten – und damit der Blick in den größten und ungewöhnlichsten Lebensraum der Erde, das Reich der Finsterlinge. Für die Forscher herrscht jetzt noch einmal Hochbetrieb an Bord. Alles muss verpackt und geputzt werden. Es ist hektischer, als während der gesamten Fahrt. Im nächsten Sommer wird die Polarstern in den Hausgarten zurückkehren. Die Tiefsee, sie ist die letzte große Unbekannte auf der Erde.