Ein Flügel steht auf der weiten Bühne und ein großer Tisch mit zwei Mikrophonen. Wie ein Oratorium inszeniert Amos Gitai seine Hommage an den 1995 ermordeten Ministerpräsidenten Israels. Am Tische in der Mitte sitzen zwei Schauspielerinnen, daneben zwei Musikerinnen. Links wartet ein Chor. Die vier Frauen stehen für Leah Rabin, die Witwe des Ermordeten.
Unterbrochen von den musikalischen Interventionen teilen sich die bekannte palästinensische Filmschauspielerin Hiam Abbas und die israelisch-französische Darstellerin Sarah Adler die Lektüre von Leah Rabins Erinnerungen:
"Il est parti confiant, l’esprit tranquille. Il n’aurait jamais accepté de porter un gilet pare-balles. Il n’avait aucune espèce d’inquiétude."
Mit einigen riesig auf die Papstpalastfassade projizierten Ausschnitten damaliger Fernsehbilder dokumentiert Gitaï auch das gefährliche politische Klima im Israel des Jahres 1995, die Massendemonstrationen des rechten, friedensunwilligen Lagers und deren Legitimierung des Mordanschlags. Amos Gitaï, der in zahllosen Filmen die Entwicklung seines Landes nachgezeichnet hat, weist in diesem Requiem zurück auf den Moment eines historischen Umbruchs in der Geschichte Israels und legt den Finger an eine Wunde, die seitdem nicht mehr verheilt.
Im modernen Theaterneubau in einem Außenbezirk der Festivalstadt, der FabricA, ist, soviel darf man jetzt schon prophezeien, das Ereignis des 70. Festival d’Avignon zu sehen. Roberto Bolanos 1200-seitiges Monstrum "2666" hat der 29 Jahre junge Julien Gosselin inszeniert.
Der Einstieg in den gewaltigen und gewalttätigen Weltroman geht im ersten "Teil der Kritiker" recht beschaulich vor sich: Die amouröse Verwicklungen von ein paar Literaturwissenschaftlern, die sich in schicken Le Corbusier–Sofas lümmeln. Ihre Ménage à trois erlebt in der hitzigen Begegnung mit einem pakistanischen Taxifahrer einen Kulturschock und landet so im Herzen des Romanthemas Gewalt: Die sonst so anständigen Wissenschaftler prügeln einen Mann krankenhausreif, nachdem der die Kollegin und gemeinsame Geliebte eine Nutte genant hatte.
Genre-Mix zwischen Schauspiel und Kino
Unheil-böse dröhnt jetzt der Soundtrack, mit dem Julien Gosselin das gesamte lange Theaterabenteuer wirkungsmächtig unterlegt. Drei Videoprojektionen sorgen für einen Genre-Mix zwischen Schauspiel und Kino.
"C’est une idée de Marcel Duchamp. Il suspendait les livres pour que le vent puisse les feuilleter"
Die fünf Teile des 2666-Zylkus sind Kriminalroman, Gesellschaftsstück, Poesie, Allegorie, absurder Alptraum und quälender Realismus gleichzeitig. Vor allem sind sie Teile eines Vexierbildes, in dem sich ein von immer mehr blutiger Gewalt geprägter Weltzustand beim Eintritt ins 21. Jahrhundert spiegelt. Es geht um Sexualität und Gewalt, Literatur und Philosophie, um Poesie, um das Gehirn und die Lösung des Welträtsels. Der narrative Sog führt immer wieder in die nordmexikanische Stadt Santa Teresa, mit der der früh verstorbene chilenische Autor wohl den mörderischsten Ort des Planeten meinte: Ciudad Juárez, wo arme Wanderarbeiterinnen für einer Hungerlohn ausgebeutet werden und in einer nicht abreißenden Vergewaltigungs- und Mordserie umkommen.
Wie der Leser, so bewegt sich auch der Zuschauer wie ein kurzsichtiges Insekt über die Oberfläche eines großen verwirrenden Wimmelbildes, folgt einzelnen Figuren und ihren Passionen, wechselt Thema und Protagonisten, und erlebt neue Überraschungen. Und er wird auf der Suche nach dem Sinn des großen Ganzen immer wieder verzaubert von den ungeheuer schön und einfach skizzierten Formen des besonderen Einzelnen. Julien Gosselin hat die Seele des Kult-Romans treu und kongenial in Bild und Spiel übersetzt. Und das bedeutet, dass er auf die große Politik verzichtet. Der Zuschauer weiß nach 12 spannenden Stunden immer noch nicht, welchem höheren Zweck die Anstrengung gedient hat und ahnt, dass in diesem literarischen Großwerk und in diesem theatralischen Glanzstück das 20. Jahrhundert und seine ideologischen Gewissheiten mit ihren politischen Parteiungen, Fraktionen und Glaubensrichtungen endgültig untergegangen ist. Die Theaterkunst findet hier zu ihrem Kern zurück – zum unverblendeten Bild des Menschen und dem Material, das zügellose Globalisierung aus ihm macht.