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28.6.1979 - Vor 25 Jahren

Ich glaube, man muss als politischer Mensch beim Schreiben daran denken, dass die Menschen müde sind. Man kann einem müden Menschen nicht was vormachen, das ihn veranlasst das Radio abzustellen oder den Konzertsaal zu verlassen.

Von Georg-Friedrich Kühn |
    Paul Dessau 1973 im Gespräch mit dem Komponisten Luca Lombardi zu der Frage, wie "anstrengend" zeitgenössische Musik sein dürfe, damit sie die arbeitenden Menschen in der damaligen DDR noch erreiche. Dessau war zwar grundsätzlich optimistisch, zugleich aber auch skeptisch über die Methoden. Selber unterrichtete er regelmäßig eine Schulklasse an seinem Wohnort.

    Das Thema Müdigkeit war freilich auch eines im übertragenen Sinn, das gegen Ende seines Lebens immer mehr auf ihm lastete. Seine letzte Oper Leonce und Lena, uraufgeführt postum Ende 1979 – drei Jahre nach dem Biermann-Ausschluss, der Vereisung des kulturpolitischen Klimas –, handelte vom Müdewerden am Leben, an der Zukunft, an dem verheißenen Fortschritt.

    Geboren wurde Paul Dessau 1894 in Hamburg als Sohn eines jüdischen Tabakhändlers. Noch der Großvater und der Urgroßvater waren Kantoren. Eigentlich wollte Dessau Geiger werden, aber physiologische Gegebenheiten verhinderten die Solistenkarriere. Nach dem Kriegsdienst in einer Militärkapelle und dem Studium in Berlin wird er Kapellmeister.

    Hamburg, Köln, Mainz, Berlin sind die ersten Stationen. Er arbeitet mit Otto Klemperer, Bruno Walter. Nach einem Konflikt mit Walter zieht er sich zurück aufs Komponieren. Für 30 Stumm- und 17 Tonfilme schreibt er die Musik, lernt Ernst Udet und Leni Riefenstahl kennen. Bei Aufnahmen zu dem Film S.O.S. Eisberg 1933 kommt es zum Eklat. Dessau flieht über die Schweiz und Frankreich 1939 nach Amerika.

    Dass die Mutter in Deutschland zurück bleibt und im KZ stirbt, ist ihm ein ewiger Stachel.

    Das Exil ist ihm eine besondere Schule. Er besinnt sich auf seine jüdischen Wurzeln. Bei René Leibowitz in Paris vertieft er sich in Schönbergs 12-Ton-Kompositions-Methode. Schönberg selber und auch Brecht und Eisler begegnet er in Amerika. Zeitweise muss er sich seinen Lebensunterhalt auf einer Hühnerfarm verdienen, bis er Zugang zu den Studios in Hollywood findet und erwägt, in Amerika zu bleiben.

    Aber das Kaltekriegs-Klima der McCarthy-Ära befördert seine Rückorientierung auf Europa. Politisiert im spanischen Bürgerkrieg 1936, als er für die sozialistischen Brigaden das berühmteste seiner Lieder, die Thälmann-Kolonne, komponierte, war er zum Kommunisten geworden. Im Juli ’48 kehrt Dessau über Paris zurück nach Deutschland.

    "Die Sache", wie hier im Melodram über die Kämpferin Lilo Hermann - das war für ihn die Hoffnung. Für die FDJ schreibt er das Aufbaulied. Am produktivsten ist die Zusammenarbeit mit Brecht, auch wenn nach dem Parteieinspruch gegen die erste gemeinsame Oper Lukullus die Warnsirenen aufheulen.

    Brecht sagte mir mal, wenn ich Verse schreibe, dann "murmele" ich sie vor mich hin. D.h. für einen Musiker, er sang sie.

    Für die jüngere Komponistengeneration der DDR war Dessau die Identifikationsfigur. Sein Haus in Zeuthen bei Berlin, das er mit seiner vierten Frau, Ruth Berghaus, bewohnte, wurde zum Treffpunkt. Berghaus’ bahnbrechend neuen, an Brecht und Palucca orientierten Inszenierungen verdankte er viel vom Erfolg seiner weiteren Opern Puntila, Lanzelot, Einstein und eben Leonce und Lena.

    Das jüdische Erbe, das er in den frühen DDR-Jahren aus politischen Gründen verleugnete, pflegte er zuletzt wieder. Testamentarisch legte er fest, wie er beerdigt werden wollte: im schlichten Holzsarg, nur mit der roten Fahne bedeckt, ohne die Genossen der Partei. Am 28.Juni 1979 ist Paul Dessau, 74jährig, gestorben. Freunde trugen den Sarg vor Sonnenaufgang zum Grab auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof.