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28 Jahre mit und ohne Berliner Mauer
"Dieser Riss, der geht weiterhin durch viele"

Die Berliner Mauer stand genauso lange wie sie jetzt verschwunden ist. Immer noch gäbe es an vielen Stellen der deutschen Gesellschaft eine Fremdheit, sagte Lyriker Durs Grünbein im Dlf. Daher plädiert er dafür, dass sich die Menschen mit den jeweiligen Lebensgeschichten besser vertraut machten.

Durs Grünbein im Gespräch mit Birgid Becker |
    Ein Passant läuft am 09.11.2017 an einem original erhaltenem Stück der Berliner Mauer an der ehemaligen Zonengrenze entlang. Am Abend des 9. November 1989 hatte das damalige Mitglied des SED-Politbüros, Günter Schabowski, fast beiläufig in Ost-Berlin verkündet, dass ab sofort Reisen in den Westen möglich sind. In dieser Nacht fiel die Mauer. Allein in Berlin starben nach dem Mauerbau vom 13. August 1961 nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen mindestens 140 Menschen durch das DDR-Grenzregime. An der deutsch-deutschen Grenze kamen laut einem Forschungsprojekt mindestens 327 Menschen aus Ost und West um Leben.
    Die Berliner Mauer stand genauso lange, wie sie weg ist: 28 Jahre (dpa / picture alliance / Ralf Hirschberger)
    Birgid Becker: Der 5. Februar 2018, morgen, der Montag, ist der Tag, an dem die Berliner Mauer genauso lange stand, wie sie weg ist: Genau 28 Jahre, zwei Monate und 26 Tage. Rund eine Generation lebte mit der Mauer, rund eine Generation lebt nun ohne sie.
    Mit Durs Grünbein, dem Lyriker und Essayisten, habe ich über diese Wegscheide gesprochen. Grünbein, der 1962 in Dresden geboren wurde und dessen Biographie die beiden historischen Zonen umfasst, die Zeit mit der Mauer, die Zeit ohne die Mauer.
    Sind das zwei Leben, oder fließt das doch alles ineinander und man fragt sich nur, wo eigentlich die Zeit geblieben ist? Das habe ich ihn vor der Sendung gefragt.
    Durs Grünbein: Das sind schon zwei Leben. So sehe ich das heute. Ich sehe diese Zäsur sehr deutlich. Ich bin im Oktober 1962 geboren, da stand die Mauer genau ein Jahr, und damit waren gewisse vollendete Tatsachen geschaffen, zum Beispiel in meiner Familie. Meine jungen Eltern, die hatten noch andere Pläne. Der Vater wollte gerne das Studium in Westberlin fortsetzen, das ging dann nicht mehr. Plötzlich war da was dazwischen und man wurde sozusagen ausgebremst. So kann man sich das jetzt mal nur aus der Sicht einer solchen Familie vorstellen. Ich selber als Kind habe das dann so wie jeder irgendwie erst mal die Kindheit als gegeben genommen. Erst allmählich, mit Beginn der Schulzeit kamen gewisse Zwänge auf, die mich störten.
    Becker: Das heißt, die Mauer war doch da in Ihrem Leben?
    Grünbein: Die Mauer war nicht nur da – vielleicht muss man das ganz generell mal sagen -, es war mit der Mauer ja auch ein ganz anderer Staat, ein ganz anderes System, politisches System, eine andere Weltanschauung gegeben. Mir hat vor allen Dingen immer eine Anekdote imponiert, die mir mal der Dramatiker Heiner Müller, mit dem ich befreundet war, erzählt hatte zum Mauerbau. "Die Mauer wird gebaut und nun haben viele im Osten, Künstler, Intellektuelle und so weiter, auch Kommunisten gedacht, nun können wir eine Diskussion führen über die Gerechtigkeit in diesem System, über das, was man hier aufbauen will und so weiter. Dann stand so ein alter Kommunist auf, Otto Gotsche, und sagte: Nein, nein, die Mauer haben wir gebaut, um unsere inneren Feinde daran zerquetschen zu können".
    "Das war das Experiment"
    Becker: Nicht der Schutzwall, sondern der Wall gegen die Feinde im Inneren.
    Grünbein: Sicher! Wenn man von Utopien hört, dann gehen die immer nur in einem gehegten Gelände. Eine der ältesten, Thomas Morus, "Utopia", spielt auf einer Insel. Also es wurde eine Insel geschaffen, eine Insel, die dann zum sozialen Labor wurde. Dieses Wort habe ich irgendwo mal gehört: Ja, die DDR sei ein soziales Laboratorium. So haben die Idealisten geredet. Geschützt vor den Winden der Welt, von mir aus auch der Weltwirtschaft, abgeschirmt unter dem Schutzschirm der Sowjetunion, mit Waffen bewährt nach dem Westen hin, wollte man jetzt versuchen, nach innen hin eine Gesellschaft komplett anders aufzubauen und zu reformieren. Das war das Experiment.
    Becker: Und der Zeitpunkt jetzt? Stefan Kornelius hat das in der Süddeutschen so genannt: "Tag und Nacht gleiche der Geschichte." Schöner Ausdruck oder?
    Grünbein: Ja, komisch! Ich bin dieser Tage auch darauf gekommen, als ich davon hörte. So ein Äquinoktium ist das jetzt, ja. Ich meine, was heißt das? Die Mauer ist jetzt genauso lange wieder verschwunden, wie sie damals gestanden hat. Das heißt, zunächst muss man sich zum Beispiel fragen, wer hat sie wie erlebt, wie lange. Damals war mir klar, als die Mauer fiel, gab es zum Beispiel ein, zwei Generationen, die hatten jetzt, sagen wir mal, ihre längere Lebenszeit nun da unter diesen Bedingungen verbracht. Für die war das jetzt, was jetzt kam nach 89, natürlich eine große Umstellung, in manchen Fällen eine große Enttäuschung. Und man darf auch nie vergessen: Ein Teil der Gesellschaft hat das ja genau so gewollt. Für die begann dann ab 89 die Konterrevolution oder der Rückschritt, wie auch immer.
    Die Jüngeren, die davongekommen sind oder gerade erst in der Zeit geboren, die konnten sich jetzt natürlich nach ein paar Jahren fragen, wenn sie jetzt im Osten wie gesagt groß geworden sind, wie sie zu dem Ganzen stehen. Das war zunächst eine familiäre Geschichte, was hatten sie von ihren Eltern da überliefert bekommen und so weiter, und dann aber eventuell auch eine des eigenen Geschichtsbildes und Geschichtssinns. Und es hat sogar dann komischerweise Nostalgie unter Jüngsten gegeben. So was hat mich dann gewundert. Die nostalgischen Gefühle der Generation _89, die da geboren wurden und die anscheinend Verlustgefühle dann der nachher 20jährigen Ostler, die habe ich nie verstanden. Aber das ist offenbar eine Art phantomartige Nostalgie.
    Becker: Phantomschmerz vielleicht?
    Grünbein: Ja, Phantomschmerz.
    Becker: Da sind wir beim Phantomschmerz schnell in Dresden, Ihrer Geburtsstadt, die Sie in "Die Jahre im Zoo" gewürdigt haben als Ort Ihrer Kindheitserinnerungen und Ihrer Jugend. Dresden ist für viele Menschen nun die Pegida-Stadt. Auch da kann ja von Äquidistanz oder Äquinoktium gar nicht die Rede sein. Da scheint die Mauer weiter zu stehen.
    Grünbein: Na ja. Wie wir jetzt wissen, ist da anscheinend die ganze Zeit eine Fremdheit oder Entfremdung im Spiel gewesen einiger Bevölkerungsteile in den sogenannten neuen Bundesländern gegenüber dem Rest des Landes. Viele haben kurz mal rausgeschaut, sind meinetwegen im Sommer in Mallorca gewesen, was auch immer, haben vielleicht den einen oder anderen Teil des ehemaligen Westdeutschlands gesehen, sind aber eigentlich wieder zurück in ihre Welten. Das sind auch, sagen wir mal, wirtschaftliche Gesichtspunkte, existenzielle Fragen. Viele haben nicht so viel Geld und die leben jetzt praktisch in ihrer Nische und haben eine ganz andere Erfahrung und die wird nicht gewürdigt. Ihr Leben als solches ist entwertet. Das sind durchaus solche Hintergründe auch. Man hört ja jetzt zum ersten Mal, dass Politiker überlegen, vielleicht müsste man die Deutschen mit den Deutschen erst mal wieder bekannt machen.
    Der Lyriker Durs Grünbein
    Der Lyriker Durs Grünbein (imago stock&people)
    Becker: Ein Vorschlag des Präsidenten der Kultusministerkonferenz, Schüleraustausch zu installieren zwischen Schulen.
    Grünbein: Ja, nicht mit Frankreich, sondern zwischen Sachsen und dem Rheinland oder so.
    Becker: Ein irritierender Vorschlag?
    Grünbein: Gar nicht!
    Becker: Brauchen wir das wirklich?
    Grünbein: Dieses sich mit den Lebensgeschichten besser vertraut machen, nicht nur übereinander reden, sondern das besser kennenzulernen – ich kenne eigentlich fast nur westdeutsche Bekannte, die längst zum Beispiel in Sachsen leben, da seit vielen Jahren leben und die Verhältnisse sehr gut kennen. Und doch gibt es immer wieder an vielen Stellen der Gesellschaft so eine Fremdheit. Man hatte eben doch nicht die gleiche Vergangenheit und aus dieser anderen Ausgangssituation sind dann auch verschiedene Entwicklungen weitergelaufen. Das, würde ich sagen, ist so ein Hintergrund.
    Das betrifft vielleicht nicht die jüngste Generation. Die Pegida-Veranstaltungen, die ich gesehen habe, da waren die 20jährigen auch eher in der Minderzahl. Das waren ältere Menschen, auffällig zum Beispiel ältere Rentnerinnen, die da ganz erbost mit herumschrien und so weiter, die natürlich jetzt um ihre Renten fürchten oder glauben, sie sind, wie soll ich sagen, ausgebootet worden.
    "Nicht alle diese Wunschträume waren erfüllbar"
    Becker: Was die 28 Jahre nach der Mauer sicher auch zeigen: Es gab ganz viele Erwartungen an eine neue Welt, an eine neue Weltordnung, oder, um Francis Fukuyama zu bemühen, an den Sieg der Demokratie weltweit. Das sind Erwartungen gewesen, die sich vielleicht nicht alle nicht erfüllt haben, aber fast alle nicht erfüllt haben. Es gibt eine neue Sehnsucht nach Autoritäten, nach geschlossenen Landesgrenzen. Es gibt in Europa gerade im Osten einen Rückschritt an demokratischer Freiheit. Was leiten Sie daraus ab? Können wir einfach schlecht ohne Mauern leben?
    Grünbein: Wenn wir noch mal kurz über die Menschen, die empörten im Osten, in den neuen Bundesländern reden. Ich würde sagen, da war die Sehnsucht nach einer Autorität, die hat nie aufgehört. Als die Mauer weg war, hat man in Sachsen irgendwann umgeschaltet (ein großer Teil der Bevölkerung) auf CDU. Die neue Autorität war Kohl, und zwar nicht Kohl als demokratischer Politiker, sondern als neue Autorität, die quasi Führungsanspruch angemeldet hat und den Leuten Segnungen verspricht. Genauso hat Kurt Biedenkopf dann da regiert und so weiter. Das ging ein paar Legislaturperioden gut, bis dann auch die CDU in die Krise kam, weil nicht alle diese Wunschträume erfüllbar waren.
    Nur der Wähler oder ein großer Teil dieser Wählerschaft war nie demokratisch mündig geworden. Es war ein Irrtum zu glauben, dass die in dem Sinne Verfassungspatrioten wurden, wie Habermas sich das vielleicht gedacht hätte. Und jetzt, wo die Enttäuschung groß ist, suchen die auch nur weiter nach ganz anderen Führern eventuell, nach ganz anderen Wortführern und so weiter. Aber der Gedanke, dass diese Menschen irgendwie die Demokratie gewollt haben, der war ein bisschen illusorisch.
    Was die wollten war Wohlstand. Viele von denen hatten genug von dieser Misswirtschaft Ost, hatten vielleicht noch nicht mal ein großes Problem mit dem System so wie ich. Zum Beispiel das Freiheitsmotiv war gar nicht so primär für die, sondern sie wollten irgendwie jetzt nach 89 (und das unter der neuen Flagge Schwarz-Rot-Gold) eine neue Wohlstandswirtschaft haben, und das ist nicht ganz aufgegangen.
    Zum Beispiel dieses Datum bei den Oktober- und November-Demonstrationen, wo ich von Anfang an dabei war, irgendwann schaltete das um. Am Anfang waren es die Bürgerrechtler, waren es wir, waren es Künstler und so weiter, die einfach unzufrieden waren mit allem. Dann kam allmählich die große Masse dazu und schrie irgendwelche deutsch-nationalen Parolen, und da war das schon da. Das war von Anfang an da. Ich wunder mich da nicht.
    Becker: Vielleicht darf man sich auch weiter nicht wundern, dass das anhält. Also sollte man gar nicht die Erwartung hegen, dass sich West und Ost in einer besonderen demokratieoffenen Weise näher kommen?
    Grünbein: Wir reden hier über Demokratie. Das ist auch mein großer Traum. Nebenbei gesagt: Mein Bekenntnis ist eher das zu Europa, also weiter hinaus noch aus diesem Nationalstaat. Aber die Menschen, über die wir da reden, für die geht es anscheinend um einen starken Nationalstaat. Was wir heute als AfD kennen, war im Grunde schon dann 1990 mit auf den Straßen zu hören. Das waren stark nationalistische Parolen. Und dieser neue deutsche Nationalstaat soll gefälligst dafür sorgen, dass es ihnen besser geht. Er soll die Fremden draußen halten und so weiter. Er soll starke Polizei aufstellen und so weiter. Er soll für Sicherheit und Ordnung sorgen. Die Anteile gab es lange schon.
    Nun kam es praktisch durch die Flüchtlingspolitik – eine wirklich großartige Entscheidung des September 2015 der Kanzlerin -, da kam es plötzlich dann doch zu diesem Schock, erst recht in diesen Gegenden, wo man mit Ausländern überhaupt keine Erfahrung bisher hatte, dass die jetzt plötzlich dachten, und jetzt wird uns auch noch der letzte Rentencent genommen. Natürlich alles immer nur von Demagogen mit angeheizt, denn in Wirklichkeit gibt es aus diesen Gründen keine Verarmung. Die hat damit nichts zu tun.
    "Da danke ich ewig dafür"
    Becker: Einen Hölderlin-Satz will ich gerade einspeisen. Der lautet: "Ich kann kein Volk mir denken, dass zerrissener wäre wie die Deutschen." Hölderlin in Zeiten, als es nicht "Die Mauer", aber sehr viele Grenzen gab. Gilt das nicht in gewisser Weise weiterhin: andere politische Verhältnisse, ein geeinigtes Land und trotzdem Zerrissenheit?
    Grünbein: Es scheint, unter den Deutschen eine große Prädisposition zu solcher Art Streit, politischem Streit, der sich dann verfestigt, zu geben. Wir haben noch ein Beispiel auf der Welt, das wären die Koreaner. Da ist es auch noch mal so: Die zwei Systeme sind zu Staat und Stein geworden. In Deutschland ist das so, ja. Deutschland ist unter den europäischen Nationen dasjenige gewesen, wo dieser, wie es immer heißt, Weltbürgerkrieg, der ganz große Weltbürgerkrieg zwischen links und rechts, wo der dann Staat geworden ist. Oder man sagt es so: Der eine Staat, von der Sowjetunion angeleitet, das ist dann anscheinend das linke Deutschland, das von mir aus kommunistische, und das kann wie gesagt nur durch eine Mauer aufrecht erhalten werden. Und jenseits der Mauer sind alle anderen. Die aus ostdeutscher Sicht meinen, da sitzen zum Teil die Faschisten noch immer, aber natürlich auch das eine Demagogie. Auf der anderen Seite war die westliche Demokratie. Aber diese Disposition dafür, die haben anscheinend nicht viele Völker. Frankreich ist nicht so gespalten, obwohl es auch solche Weltanschauungskämpfe bis heute hat.
    Warum das so ist, das liegt tief in der Geschichte, hat vielleicht auch viel mit deutscher Geschichtsphilosophie zu tun, mit deutschen Ideologietraditionen. Wenn Sie einfach nur bedenken: Das sind ja alles Deutsche gewesen, jemand wie Hegel, jemand wie Marx und so weiter, die großen Vordenker dieser Dinge. Und was wir dann erleben als Deutsche ist: Kurz vorm Ende des Zweiten Weltkriegs gibt es, ich sage immer, diesen Federstrich in Jalta. Da sitzen jetzt die Alliierten und Stalin macht so einen Strich, um zu sagen, bis dahin gehört das uns jetzt dann, wenn die Kapitulation da ist, und das andere könnt ihr euch aufteilen. So ist es gekommen und dann ist Deutschland sozusagen weltanschaulich geographisch einmal geteilt worden. Dieser Riss, der geht weiterhin durch viele. Ich meine, der Riss geht natürlich auch latent durch viele Familien im Westen. Da gibt es ja denselben Streit oft. Aber wir sind- und da sind wir wahrscheinlich Weltmeister darin – diese Nation, die das bis zum Absoluten getrieben hat, bis zu einer waffenstarrenden Diktatur, zu einer Konfrontation, die immer hart am Weltkrieg war, zwei Armeen von Deutschen, die gegeneinander standen und das nun Gott sei Dank nicht mehr tun. Für mich ist ja diese Abrüstung 89 das große Erlebnis überhaupt. Da danke ich ewig dafür.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.