Stefan Heinlein: Es gibt Fortschritte, doch 28 Jahre nach der Wiedervereinigung ist die wirtschaftliche Annäherung zwischen Ost- und Westdeutschland ins Stocken geraten. So lässt sich in einem Satz der Jahresbericht zum Stand der Einheit zusammenfassen. Doch die Lohnunterschiede sind nicht allein der Grund für die miese Stimmung in den neuen Ländern, so der Ostbeauftragte der Bundesregierung Christian Hirte. Viele Menschen hätten das Gefühl, dass ihre Erfahrungen und ihre Probleme nicht richtig wahrgenommen würden.
Man fühle sich abgehängt und als Bürger zweiter Klasse, so lautet sein Vorwurf. Darüber wird heute im Bundestag debattiert und darüber möchte ich jetzt reden mit der Fraktionsvorsitzenden der Grünen, Katrin Göring-Eckardt. Guten Morgen!
Katrin Göring-Eckardt: Schönen guten Morgen, Herr Heinlein.
"Hätte den Ostdeutschen zeigen können: Das war gar nicht so dumm, was ihr damals gemacht habt"
Heinlein: Frau Göring-Eckardt, Sie sind geboren im Kreis Gotha in Thüringen, haben in Leipzig studiert, sind also eine waschechte Ostdeutsche. Fühlen Sie sich ausgegrenzt und als Bürgerin zweiter Klasse?
Göring-Eckardt: Nein, ich jetzt nicht. Aber ich glaube, dass Herr Hirte einen richtigen Punkt hat, wenn er sagt, dass viele Erfahrungen, die eigene Biografie häufig nicht anerkannt wird, auch eigene Erfolge. Machen wir nur ein Beispiel: In Ostdeutschland gab es zugegebenermaßen bei medizinischer Mangelversorgung Polikliniken. Man hat zusammengearbeitet, die verschiedenen Fachärzte an einem Ort. Das haben wir heute auch wieder. Das heißt jetzt medizinisches Versorgungszentrum.
Wenigstens den Namen zu übernehmen und zu zeigen, ja, wir knüpfen an was an, was es in Ostdeutschland schon mal gegeben hat, wäre nicht schlecht gewesen. Es wäre auch nicht schlecht gewesen, damit nicht so lange zu warten. Man hätte den Ostdeutschen zeigen können, das war gar nicht so dumm, was ihr damals gemacht habt.
"In Ostdeutschland erbt kein Mensch"
Heinlein: Ich würde dennoch gerne eine persönliche Frage stellen, Frau Göring-Eckardt. Was unterscheidet Ihr Denken, Ihr Handeln von dem Ihres Co-Fraktionsvorsitzenden Anton Hofreiter, der ja in Bayern seine Heimat hat?
Göring-Eckardt: Okay, dann machen wir jetzt den Unterschied zwischen Bayern und Thüringen, weil das gehört auch dazu, dass es "die Ostdeutschen" ja gar nicht gibt. Aber in der Tat: Wenn wir darüber reden, was Gerechtigkeit ist, wieder an einem Beispiel, dann sage ich: Das mit der Erbschaftssteuer, das ist wichtig und das muss man auch bedenken, aber in Ostdeutschland erbt kein Mensch oder nur ganz, ganz wenige.
Wenn ich darüber nachdenke, was ist eigentlich mit unserer Geschichte, und Toni Hofreiter redet über '68 und was das bedeutet hat in seiner Generation - er ist ja selbst kein 68er -, aber was das in der Nachfolge bedeutet, dann sage ich: Na ja, für mich ist '68 auch nicht selbst erlebt - ich war damals zwei Jahre alt -, aber das sind die Panzer in Prag.
Wir haben einfach unterschiedliche Bezüge und wir leben in einer Welt, wo Toni Hofreiter mir erzählt, bei uns wissen manche Kommunen gar nicht, wo sie hin sollen mit dem vielen Geld, was sie durch starke Unternehmen erreichen, und in Ostdeutschland ist jedes Sportfest, jedes öffentliche Event oder so was, was in Westdeutschland von fünf Firmen gesponsert wird, oder in Bayern von fünf Firmen gesponsert wird, nur unterstützt von der Sparkasse, weil es diese Firmen gar nicht mehr gibt.
"Bundesbehörden in den Osten? Das ist nicht passiert"
Heinlein: Gilt das, was Sie gerade beschrieben haben, was Sie für sich empfinden, Frau Göring-Eckardt, auch für die Mehrheit der Menschen in den neuen Ländern? Prägt die Erfahrung von 40 Jahren Sozialismus und der Zeit nach '89 immer noch bis heute das Lebensgefühl in den neuen Ländern?
Göring-Eckardt: Ich glaube schon, dass es das ist. Aber das Lebensgefühl ist auch geprägt von dem, was seitdem passiert ist. Es gibt ja immer viele Beschwörungen, dass man ein Land sein will. Sie haben vorhin auf die Zahlen verwiesen, weniger Lohn, weniger Rente. Gleichzeitig sind das ja Leute, die was anpacken wollen. Die erben nichts und fangen trotzdem was an und versuchen trotzdem ein Unternehmen zu gründen, sind zum Teil übrigens auch sehr erfolgreich.
Gleichzeitig wird ihnen immer vorgehalten, sie würden nur herumjammern, und den Westdeutschen auf der anderen Seite wird vorgehalten, sie würden nur alles besser wissen. Wenn wir damit schon mal aufhören könnten, wäre viel gewonnen, und es wäre viel gewonnen, wenn die Versprechungen, die gemacht worden sind, nach 1989 auch eingehalten würden.
Ich glaube, wir haben oft gedacht, es reicht, viel Geld dahin und dann machen wir die Städte schön und alle sagen, wow. Sage ich auch, finde ich auch großartig. Meine Heimatstadt Gotha ist wahnsinnig schön geworden. Erfurt ist wahnsinnig schön geworden. Ich könnte jetzt eine lange Reihe von wunderbaren Städten aufzählen, die man unbedingt mal bereisen sollte.
Gleichzeitig ist der Osten und bleibt er strukturschwach, und wenigstens das, was die Bundesregierung selber mal beschlossen hat, nämlich alle Institutionen, Bundesbehörden, Forschungseinrichtungen in den Osten zu geben, die neu gegründet werden, das ist nicht passiert. Zwischen 2014 und 2017 sind 25 solcher Behörden neu geschaffen worden. Davon sind ganze vier nach Ostdeutschland gekommen, die restlichen nach Berlin und in den Westen.
"Was die Bayern gemacht haben, das war sehr klug"
Heinlein: Frau Göring-Eckardt, der Osten bleibt strukturschwach, sagen Sie. Warum vergleicht man sich denn in Sachsen, Thüringen oder Mecklenburg-Vorpommern mit Bayern oder Baden-Württemberg und nicht mit Tschechien oder Polen? Das wäre doch eigentlich die richtige Vergleichsgröße.
Göring-Eckardt: Ich dachte bisher immer, dass wir über ein einiges Deutschland reden und darüber, wie wir als Land zusammengehören. Und ich sage auch nicht, dass der Osten werden muss wie der Westen, und der Vergleich geht auch nicht in Richtung Bayern oder Baden-Württemberg. Aber ich glaube, die Frage ist, ob wir genügend Aufmerksamkeit haben, ob wir genügend Anerkennung haben für das, was auf der einen oder anderen Seite passiert, und ob wir das machen - dann bleibe ich doch noch mal bei Bayern -, was die Bayern mit ihren strukturschwachen Regionen in den letzten Jahrzehnten gemacht haben, nämlich genau das: Die haben dort Institutionen angesiedelt, zum Beispiel in dem Fall Fachhochschulen, weil dafür die Länder verantwortlich sind, und das war sehr klug. Das hat dazu geführt, dass die Lebensbedingungen in diesem Bundesland sehr viel identischer geworden sind, als es vorher der Fall war. Ich finde, da darf man auch in der Tat mal von Bayern lernen.
Heinlein: Sie haben recht, das Thema Strukturwandel, Frau Göring-Eckardt, betrifft ja längst nicht nur die neuen Länder, etwa auch das Ruhrgebiet. Warum klagen die Ostdeutschen so viel lauter als die Menschen in Duisburg oder Essen, wo ja auch die Infrastruktur wahrscheinlich sogar mieser ist als im Osten und viele Menschen, sehr viele Menschen keine Jobs haben?
Göring-Eckardt: Erstens, da mache ich jede Wette mit Ihnen, dass die Ostdeutschen nicht mehr klagen als die im Ruhrgebiet.
Heinlein: Ist das ein Klischee?
Göring-Eckardt: Dafür bin ich zu lange in der Politik und habe so oft gehört, wie das Ruhrgebiet sehr deutlich einfordert, was alles zu tun ist. Ich glaube, das Klischee ist, dass sie klagen, aber natürlich sind es strukturschwache Regionen. Die gibt es nicht nur in Ostdeutschland. Und ich bin immer dafür zu sagen, wir müssen die strukturschwachen Regionen unterstützen. Da wie da geht es ja um Transformation. Das Ruhrgebiet hat von der Kohle gelebt und viel zu lange hat man daran festgehalten, und es geht um erfolgreiche Transformation.
Was macht den Osten dann besonders, das ist die Frage von Anerkennung, das was geschehen ist. Es gab einen doppelten Umbruch. Erst ist die Wirtschaft zusammengebrochen, dann der Staat. Dann ist eine Million Menschen Anfang der 90er-Jahre weggegangen. Dann gab es das Trauma Treuhand. Das kommt zu dem Thema strukturschwach dazu, und ich glaube, das macht den Unterschied aus. Aber dass die Ossis immer nur herumjammern und die Westdeutschen ganz tapfer arbeiten würden, gerade wenn wir Ruhrgebiet und Ostdeutschland vergleichen, ich glaube, das stimmt einfach nicht.
Heinlein: Schuld daran sind auch die Medien, so zumindest der Ostbeauftragte der Bundesregierung. Er hat gestern bemängelt, die Medien berichten über Ausschreitungen in Köthen oder Chemnitz größer als über etwa solche in Dortmund. Die mediale Wahrnehmung "überspitzt das Problem im Osten." Frau Göring-Eckardt, teilen Sie diese Einschätzung von Christian Hirte?
Göring-Eckardt: Er wird es hoffentlich sich genau angeschaut haben und mit Zahlen belegen können und so weiter. Wenn Sie mich fragen, was ich persönlich für einen Eindruck habe, dann sage ich: Ja, den Eindruck habe ich persönlich auch. Man ist aber natürlich als Ostdeutsche dann auch emotional damit verbunden und fragt sich: Na ja, warum tut man so, als ob "die Ostdeutschen" auf der einen Seite herumjammern und auf der anderen Seite als Nazis auf die Straße gehen. Das sind nicht die Ostdeutschen.
Ich hätte mir sehr gewünscht, wenn man sich Köthen anschaut, wenn man sich Chemnitz anschaut, dass man sehr viel mehr darüber berichtet, was die Bürgergesellschaft dort tut, was diejenigen, die für die Demokratie kämpfen, dort tun, was diejenigen, die soziale Arbeit machen, dort tun. Wir haben immer nur die Rechtsradikalen gesehen, oder nicht immer nur, aber sehr häufig, und überwiegend die Rechtsradikalen gesehen, die das andere machen. Ja, würde ich mir wünschen, habe ich aber keine Faktenbasis dazu, sondern ein Gefühl.
Heinlein: Im Deutschlandfunk heute Morgen die Fraktionsvorsitzende der Grünen, Katrin Göring-Eckardt. Ich danke für das Gespräch und auf Wiederhören.
Göring-Eckardt: Auf Wiederhören!
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