In diesem Jahr gibt es viele Bücher über den Sommer 1914. Mit dem Ersten Weltkrieg begann in Europa eine dreißigjährige Phase voller Konflikte. Das Ende dieser düsteren Epoche jährt sich im kommenden Jahr zum 70. Mal. Der Publizist und Filmemacher Alexander Kluge greift nun voraus und präsentiert ein Buch über 30. April 1945. Er nennt ihn den „Tag, an dem Hitler sich erschoss und die Westbindung der Deutschen begann". In seinem Buch geht er der Frage nach, was alles geschehen ist an diesem – wie er sagt – letzten Werktag des Deutschen Reiches. Teils auf Tatsachen beruhend, teils anhand fiktiver Geschichten hat Kluge zusammengetragen, wie die Menschen diesen 30. April erlebt haben oder erlebt haben könnten: von deutschen Zivilisten über alliierte Politiker bis hin zu den Soldaten an den Fronten. Etliche Dutzend Einzelschicksale, die das Chaos der letzten Kriegswochen spiegeln, aber für Kluge auch schon auf den Neuanfang hindeuten. Michael Kuhlmann hat sein Buch gelesen.
Zum 30. April 1945 weiß der "Große Ploetz" vor allem eines zu berichten: Adolf Hitler beging Selbstmord. Aber es geschah noch weit mehr, befindet Buchautor Alexander Kluge. An diesem Tage hatte das Leben des Tyrannen aus Kluges Sicht gar keine Bedeutung mehr.
"Je länger ich mich mit dem 30. April 1945 beschäftige, desto weniger spielt für mich Hitlers Tod an diesem Tage eine Rolle. Seine Existenz im Umkreis des Bunkers, im Weltmaßstab ein einzelner Punkt, ist unwirklich geworden. Das Markante an diesem Tag scheint mir dagegen eine fast vollständige Wandlung in den Köpfen der Überlebenden. Es entsteht hier eine Öffnung zur westlichen Welt, die später das Wirtschaftswunder ausmachen wird. Die Orientierung geht räumlich mit Entschiedenheit nach Westen. Das beendet zeitlich deutsche Sonderwege – die sich über mehr als 200, vielleicht auch 1.000 Jahre hinziehen."
Die zeitliche wie auch die räumliche Neuorientierung konstatiert Kluge auch auf der Grundlage vieler seiner Episoden. Wenn versprengte deutsche Soldaten glücklich waren, in westalliierte Gefangenschaft zu geraten, statt in die der Sowjets, ist das nur ein besonders plakatives Beispiel. Für seine eigene Person schickt Kluge eine Bemerkung voraus.
"Ich habe diesen Tag in einer Stadt nördlich des Harzgebirges erlebt. Mit 13 Jahren. Unsere Stadt ist seit dem 11. April von den Amerikanern besetzt. Vom Rest der Welt weiß ich zu diesem Zeitpunkt aus unmittelbarer Erfahrung nichts. Niemand hat einen Überblick über das Ganze, sagt der Architekt Uri Bircher in Zürich. Es gibt ja dieses Ganze auch gar nicht, entgegnet ihm ein Arzt. Sie sitzen in einem Café. Der Zusammenbruch einer Großorganisation wie Deutschland schafft Trümmerstücke. Und das sind nicht nur, fügt der Architekt hinzu, die Gebäude, Bahnen und Straßen, die zerstört sind. Sondern im Seelensack eines jeden dortigen Menschen liegen Stücke unterschiedlicher Realitäten durcheinander."
Von diesen vielen Realitäten handelt das Buch: Wenn etwa ein Bankbeamter im sowjetisch besetzten Pommern telegraphisch 300.000 Reichsmark nach Westfalen überwies – dort lagen schon britische Truppen, dazwischen durchlief der Telegrafendraht siebenmal Frontlinien zwischen Deutschen und Alliierten. Oder wenn untergetauchte Juden im Berliner Scheunenviertel sich vor den Nazis retten konnten, dann aber Mühe hatten, der Roten Armee klarzumachen, dass sie Verfolgte waren – Angehörige der örtlichen Halbwelt und russischsprechende Prostituierte mussten die Sowjets besänftigen.
Im Zentrum steht die Kapitulation
Die von Kluge in seinem Untertitel zitierte Westbindung der Deutschen äußert sich in den meisten Episoden zunächst nur im Bruch mit der Diktatur, dem ersten Schritt zurück zur Zivilisation: Etwa wenn das Lokomotivpersonal eines Güterzuges sich bereit erklärt, an der Schweizer Grenze seine Loyalität zum Reich niederzulegen und in schweizerischen Dienst zu treten. Ein Kapitel des Buches handelt davon, wie der Philosoph Martin Heidegger dieses Frühjahr mit seinen Studenten auf der südbadischen Burg Wildenstein verbrachte: In einem geistigen Niemandsland, das Kluge weder Vergangenheit, Gegenwart noch Zukunft zuordnen möchte. Freilich ein Kapitel, das nicht recht auf den Punkt kommt. So setzt sich eher die Geschichte fest, die Kluge aus Sicht eines imaginären Berliner Lazarettsoldaten erzählt:
"Wir hatten uns in den Kellern der Wilhelmstraße eingerichtet. Da erreichte uns der Befehl, bei den Fahrbereitschaften und bei den Sturmgeschützen, die Richtung Spreeufer in Stellung gebracht waren, einen Benzinvorrat einzusammeln und zum Führerbunker am Sockel der Reichskanzlei zu bringen. Es drängte uns, einen Blick auf das Geschehen zu werfen. Wir wurden aber von den Wachen abgedrängt – gerade dass wir eine Ahnung davon erhielten, dass in Decken gehüllte Gegenstände durch die Bunkertür nach draußen getragen worden waren. Mir war feierlich zumute."
Weiter kommt der Tod des Diktators nicht zur Sprache. Wichtiger ist da schon die Kapitulation an sich. Kluge zieht Parallelen zu Beobachtungen, die der französische Philosoph Michel de Montaigne in Kriegen der frühen Neuzeit machte:
"In dieser Hinsicht ist Kapitulation nicht die Unterwerfungshandlung des Besiegten. Sondern die Generosität, mit welcher der Sieger den Gegner, der seine Wirklichkeit an sich bereits verloren hat, in die neue Realität, die seiner Seite aufnimmt. Nicht aus der Abgabe der Waffen, sondern aus diesem 'gemeinsamen Vergessen' folgt der Frieden. Es geht um Realitätsauswechslung – um die Chance für ein zweites Leben. Erworben, zu Recht oder zu Unrecht, durch das Verdienst des Feindes."
Man mag darüber streiten, ob nun jenes geistige „zweite Leben" der Deutschen wirklich exakt mit dem 30. April 1945 begann. Mancher hatte sich innerlich schon vorher von der Diktatur abgewandt, viele andere brauchten noch sehr viel länger. Mit seinen Episoden aber leistet Kluge einen lesenswerten Beitrag zur Geschichte von unten: Er zeigt, wie vielfältig die Schicksale waren in diesem Frühjahr 1945. An Kluges Darstellung knüpfen schließlich noch sechs Gastbeiträge des Büchner-Preisträgers Reinhard Jirgl an: Jirgl verarbeitet die Tagebuchnotizen eines verschollenen deutschen Feldwebels. Von wirklich elementarem Stellenwert im Gesamtinhalt des Buches sind diese Kapitel aber nicht unbedingt. Darüber hinaus gibt es in Kluges eigenem Text Episoden, bei denen man sich fragen mag, was sie mit dem 30. April 1945 zu tun haben. Wenn etwa Astrologie ins Spiel kommt – oder wenn über die Panzerglasscheibe bei Barack Obamas letzter Rede in Berlin räsoniert wird. Dank der vorbildlichen Gliederung kann man diese Abschnitte aber rasch überschlagen. Denn Kluge hat weit überzeugendere Gegenwartsbezüge zu bieten:
"Über einem Grundstück in Stuttgart, das im April 1945 zerstört dalag und dessen Tiefkeller einst vier Stockwerke umfassten – die auch noch erhalten sind, aber zur Erdoberfläche hin verschlossen und überbaut wurden – ist ein technisches Gebäude entstanden, von dem aus US-Experten Drohneneinsätze planen und steuern. Die in Afrika vermutlich Terroristen gezielt umbringen. In dem Kellergewölbe lagern noch jetzt – aber unerreichbar – Vorräte an Kolonialwaren aus der Zeit, bevor das ursprüngliche Gebäude abbrannte. Es handelte sich um ein Geschäftshaus, das sich mit der Einfuhr afrikanischer Produkte befasste."
Eine Miszelle, die daran erinnert, wie verstörend das 20. Jahrhundert ins 21. hineinwirkt – und wie auch die Weltpolitik dieses jungen 21. Jahrhunderts bereits verstörende Elemente bereithält.
Alexander Kluge: "30. April 1945. Der Tag, an dem Hitler sich erschoß und die Westbindung der Deutschen begann"
Suhrkamp Verlag, 316 Seiten, 24,95 Euro.
Suhrkamp Verlag, 316 Seiten, 24,95 Euro.