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30 Jahre Deutsche Einheit
"Bei den Löhnen ist heute noch die alte Grenze sichtbar"

Die wirtschaftliche Ungleichheit zwischen dem Osten und dem Westen Deutschlands sei nach wie vor groß, sagte der Linken-Politiker Dietmar Bartsch im Dlf. Die gefühlte Ungleichheit lasse sich durch Fakten belegen: So gebe es noch immer keinen einzigen Universitäts-Rektor oder obersten Richter aus dem Osten.

Dietmar Bartsch im Gespräch mit Dirk Müller |
Zu sehen ist Dietmar Bartsch, Fraktionsvorsitzender der Partei Die Linke im Bundestag.
Dietmar Bartsch, Fraktionsvorsitzender der Partei Die Linke im Bundestag. (dpa / picture alliance / Britta Pedersen)
Dirk Müller: Das hat jetzt jüngst der Bericht zur deutschen Einheit ergeben: Viele Ostdeutsche sehen sich als Bürger zweiter Klasse - immer noch, nach 30 Jahren Einheit, nach 30 Jahren gemeinsamer Wirtschafts- und Finanzpolitik, nach einer Rentenversorgung, nach überproportionalen Lohn- und Gehaltssteigerungen, nach Hunderten von Milliarden Mark und Hunderten Milliarden Euro an Investitionen in die Straßen, in die Häuser, in die Marktplätze, in Kindergärten, Schulen und Universitäten. Die Diskrepanz zwischen Ost und West ist immer noch da, die Unzufriedenheit, das Unbehagen ist auch immer noch da in den neuen Bundesländern. Dabei gibt es zahlreiche Regionen und Landstriche im alten Westen, denen es in Teilen inzwischen wesentlich schlechter geht und die so gut wie keine Förderung bekommen haben in all den Jahren. Unser Thema mit Dietmar Bartsch, Linken-Fraktionschef im Bundestag. Guten Morgen!
Dietmar Bartsch: Guten Morgen! – Ich grüße Sie!
Ein Passant geht an einem Wandbild mit der deutschen Nationalflagge und dem Schriftzug "Ossi oder Wessi?" vorbei.
Verhaltener Optimismus im Jahresbericht zur Deutschen Einheit
Jedes Jahr bietet der Bericht zur Deutschen Einheit eine Bestandsaufnahme der Regierung zur Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West. Die aktuelle Bilanz fällt grundsätzlich positiv aus.
Müller: Herr Bartsch, hört das Jammern nie auf?
Bartsch: Das ist überhaupt keine Frage des Jammerns. Ich glaube auch, dass es ein unendliches Vorurteil ist, dass Ossis etwa nur jammern. Das trägt mit zur Spaltung bei, wenn man dieses Klischee immer wieder befördert. – Nein! Wir Ostdeutschen sind sehr selbstbewusst. Wir haben gemeinsam auch mit Unterstützung aus dem Westen viel erreicht. Das ist doch völlig unstrittig. Trotzdem muss man die Fakten zur Kenntnis nehmen, dass vieles von dem, was A versprochen worden ist, und B, was immer erzählt wird, so nicht eingetreten ist. Deswegen ist der Fakt, den Sie formuliert haben, der im Bericht zum Stand der deutschen Einheit festgehalten ist, dass die Mehrheit – und das muss man sich mal vorstellen -, die Mehrheit ist unzufrieden mit der Einheit. Das habe ich mir niemals vorstellen können. Und wenn man aus einer solchen Feststellung keine Schlussfolgerung zieht, dann weiß ich nicht, dann weiß ich nicht, wann dann.
In 25 Jahren nur zehn Prozent Angleichung
Müller: Sie haben sich das nicht vorstellen können, ist jetzt meine Frage, weil Sie die Fakten auch kennen, den Gesamtüberblick auch haben, vielleicht mehr als der eine oder andere und sagt, das kann ja eigentlich nicht wahr sein, dazu gibt es keinen Grund?
Bartsch: Das teile ich nun wiederum nicht. Schauen Sie, es ist ja von Angleichung gesprochen worden. Wenn man sich mal die Bezugspunkte rausnimmt: Wir haben heute 75 Prozent der Wirtschaftskraft im Osten im Vergleich zum Westen. Nun klingt diese Zahl ja erst mal durchaus angemessen. Da sind andere Länder Europas weit weg. Aber wenn man sich dann anschaut, dass es vor einem viertel Jahrhundert 65 Prozent waren und in 25 Jahren es zehn Prozent Angleichung gegeben hat, dann heißt das übersetzt: Wenn wir in diesem Tempo weitermachen, dann ist die wirtschaftliche Einheit im Jahre 2081 erzielt, und das ist natürlich inakzeptabel.
Ich kann ähnliche Zahlen für die Lohnentwicklung sagen. Lassen Sie mich ein Beispiel nur mit Zahlen sagen: Ich komme aus Mecklenburg-Vorpommern und wir liegen im Bruttolohn glatt tausend Euro unter den alten Ländern. Aber weil der Vergleich vielleicht wichtig ist: Jemand in Mecklenburg-Vorpommern mit einem anerkannten Berufsabschluss, der bekommt circa 2.400 Euro, und jemand ohne Berufsabschluss in Hamburg, der bekommt 100 Euro mehr. Da darf man sich nicht wundern, dass die Autobahn, die A20, jeden Morgen voll ist, dass es eine riesige Abwanderung gibt und dass die Menschen, die da bleiben, dann ein höheres Frustpotenzial haben. Das ist Wahrheit!
"Zentral ist doch eine gefühlte Ungleichheit"
Müller: Ja, ja. – Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die Löhne in München auch höher sind als in Grevenbroich zum Beispiel.
Bartsch: Gar keine Frage! Das wird auch immer so sein, dass es Unterschiede gibt. Auch in den ostdeutschen Ländern gibt es Unterschiede. Das ist ja völlig unbestritten. Nur wenn man die gesamte Linie sich anschaut bei Löhnen, sieht man heute die alte Grenze. Und es ist ja nicht nur diese Frage. Zentral ist doch eine gefühlte Ungleichheit, und da darf ich zumindest noch mal einige Fakten erwähnen. Wenn es so ist, dass in allen Universitäten Deutschlands, alle, Ost und West, nicht ein Rektor aus dem Osten kommt, das kann nicht sein. Wenn es so ist, dass kein einziger oberster Richter in Deutschland aus dem Osten kommt, dann ist das ein Problem. Oder wenn Sie sich hier die Bundesministerien anschauen: Drei von 120 Beamten sind aus dem Osten. Da ist was schräg, das kann nicht so weitergehen. Da fordert niemand irgendwie eine Extrawurst, sondern wir fordern nur, dass das, was im Grundgesetz steht, eingehalten wird.
Müller: Herr Bartsch, das ist ein gutes Stichwort. Wir haben einen O-Ton vorbereitet von Joachim Gauck, der bei uns im Deutschlandfunk zu Gast war im "Zeitzeugen"-Gespräch. Das war gestern Abend zu hören. Da ging es auch um diese gefühlte Ungerechtigkeit, von der Sie gerade gesprochen haben, und auch um eine "Verklärung der Vergangenheit", wenn dem denn so gewesen ist. Wir hören mal Joachim Gauck:
O-Ton Joachim Gauck: "Ich möchte mir nicht vorstellen, dass wir diese Umgestaltung damals '90/'91 nur mit Ostdeutschen hätten machen können. Wissen Sie, unsere Richter, die hatten wir satt. Das waren Leute, die sich ihre Urteile zum Teil haben von der Partei vorschreiben lassen. Unsere Staatsanwälte haben wir gehasst. Das waren doch Leute, die wir nicht brauchen konnten bei der Errichtung einer Demokratie."
Altbundespräsident Joachim Gauck: "Demokraten müssen agieren"
Evangelischer Pfarrer, Bürgerrechtler in der DDR, Leiter der Gauck-Behörde und schließlich Bundespräsident: Joachim Gauck blickt auf eine erstaunliche politische Karriere zurück. Die aktuellen Entwicklungen beobachtet er mit leichter Sorge.
Müller: Joachim Gauck bei uns im "Zeitzeugen"-Gespräch im Deutschlandfunk. – Hängt man immer noch ein bisschen der alten Zeit nach und sagt, jetzt gerade in der Verklärung, das war nicht so schlecht?
Bartsch: Nein, das hat doch damit gar nichts zu tun. Sagen Sie genau das, was Joachim Gauck eben gesagt hat, mal einem heute 40-Jährigen. Der war im Jahr 1989 vielleicht zehn. Oder einem 50-Jährigen. Der hat genauso eine kritische Sicht wie Herr Gauck vielleicht zu der Vergangenheit, und trotzdem bekommt er keine Chance. Wir Ostdeutschen, wir sind nicht dümmer, sondern es ist überall gleich verteilt, in Bayern, in NRW und genauso in Mecklenburg-Vorpommern. Deswegen ist der Verweis darauf nicht zielführend, weil eine heutige Generation - Schauen Sie, es gibt im Osten jetzt eine Initiative, die sich "Aufbruch Ost" nennt. Das sind 30-Jährige, noch jünger, die mit dieser Ungleichheit nicht zufrieden sind, die das Thema Treuhand aufrufen. Das ist die reale Situation.
Auch die Dinge ansprechen, die gut gelaufen sind
Müller: Negativer Gründungsmythos, sagt da Christian Hirte, der Ostbeauftragte der Bundesregierung. Immer wieder die Treuhand, die alles falsch gemacht haben soll.
Bartsch: Na ja. Alles falsch gemacht, das wäre wieder pauschal und so natürlich überhaupt nicht richtig. Aber zweifellos geht auf die Politik der Treuhand vieles zurück. Dass der damals freie Hand gelassen worden ist, war einer der schwersten Fehler der deutschen Einheit. Schauen Sie, diese Art der Privatisierung, da hat doch niemand gesagt, wir wollen jetzt Staatsbetriebe weiter erhalten. Aber dass es so war, dass auch missliebige Konkurrenz totgemacht worden ist, dass Ostdeutschland vielfach nur ein Absatzmarkt war, das ist nicht das Versagen der Treuhand, sondern der Aufsicht im Finanzministerium in Bonn. Da ist das so gewollt gewesen. Aber wissen Sie, da geht es jetzt gar nicht drum. Das ist vergossene Milch. Wir müssen wirklich nach vorne schauen und da stört mich ein bisschen, wenn der Ostbeauftragte – Sie haben ihn eben zitiert – sich ausschließlich als Verteidiger der Bundesregierung sieht. Sondern es muss darum gehen, die Dinge, die gut gelaufen sind, anzusprechen. Und ich will das noch mal ausdrücklich sagen: Unendlich viele Kommunalpolitiker, ehrenamtliche, auch viele, viele Parlamentarier, viele Menschen in diesem Land haben sich unendlich engagiert und man kann auf vieles stolz sein, um das klar zu sagen.
Pressekonferenz der Treuhandanstalt 
Umstrittene Treuhand-Bilanz - Zwischen Dichtung und Wahrheit
Auch 30 Jahre nach dem Mauerfall ist das Trauma um die Treuhand noch nicht vorbei. Die Behörde, die volkseigene DDR-Betriebe in gut funktionierende private Unternehmen umwandeln sollte, sorgt bis heute für Debatten. Sogar ein erneuter Untersuchungsausschuss wird gefordert.
Müller: Das hat Christian Hirte ja auch durchaus eingeräumt.
Bartsch: Das will ich vorwegstellen, um dann zu sagen. Dann muss man aber auch die Dinge ansprechen, die nicht in Ordnung sind, wo es dringenden Verbesserungsbedarf gibt. Wir können diese mentale Spaltung und auch die wirtschaftliche Spaltung, die können wir nicht fortführen. Denn Sie sehen ja anhand auch von Wahlergebnissen, anhand der gesamten Situation in den neuen Ländern, dass dringender Veränderungsbedarf notwendig ist.
"Es ist zu allererst immer noch ein Oben gegen Unten"
Müller: Reden wir, Herr Bartsch, bitte noch mal über die Lebenshaltungskosten. Sie haben das eben auch gesagt. Lohnspreizung und so weiter. Da haben wir festgestellt, das gibt es auch im Westen, im alten Westen. Lohnhöhe 84 Prozent des Westens ist erreicht, im Schnitt jedenfalls. Das stand jetzt so im Bericht der deutschen Einheit. Diese Spreizung gibt es im Westen zwischen Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein und Bayern selbstverständlich auch. Die Lebenshaltungskosten sind auf der anderen Seite - Sie haben gerade Mecklenburg-Vorpommern genannt, wo Sie sich ja auch besonders gut auskennen - sind ja viel, viel, viel geringer, und da sagt Christian Hirte, deswegen ist es nicht so "schlimm", dass die Löhne dort geringer sind, weil es gleicht sich aus. Ist das nicht so?
Bartsch: Ehrlich gesagt ist das eine Ansicht, die ich überhaupt nicht teilen kann. Es muss doch gelten, gleicher Lohn für gleiche Arbeit, egal an welchem Ort. Und dann zu sagen, ihr kriegt weniger, weil es eventuell billiger ist. Natürlich sind die Lebenshaltungskosten in München ganz andere als in Ostbayern und natürlich sind sie in Rostock ganz anders als in Vorpommern. Das ist doch normal! Nur wir vergleichen jetzt Ost-West in Gänze. Da sind die Regionen des Westens – und auch da stimme ich Ihnen zu. Man kann blühende Landschaften im Osten versprechen und stattdessen ist jetzt Gelsenkirchen genauso bitter arm wie Bitterfeld. Das ist nicht zu akzeptieren. Die Spreizung geht auseinander. Und dann kommen wir in eine Grundfrage: Warum gibt es dann in unserem Land so einen obszönen Reichtum von wenigen, der immer größer wird, mit riesigen Steigerungsraten, und dann – und das ist auch Ergebnis der deutschen Einheit -, dass das Armutsrisiko überall gestiegen ist? Wir müssen an diese Grundfragen und ich will mir auch kein Ost gegen West einreden lassen, sondern es ist zu allererst immer noch ein Oben gegen Unten. Und dass der Osten ein Experimentierfeld teilweise geworden ist, das ist ein Problem.
Digitalisierung und Klimaschutz als Chance nutzen
Müller: Ist genug Bereitschaft vorhanden, die Ärmel nach wie vor hochzukrempeln?
Bartsch: Die Bereitschaft ist da. Wir sehen immer wieder, wie das im Praktischen läuft. Es gibt wunderbare Beispiele auch in Regionen. Aber es gibt zu viele Fehler. Ich sage noch mal: Wir können dort mit einem Neuaufbruch es schaffen, dass der Osten Aufholprozesse anders gestaltet. Wir haben jetzt die Chance, zum Beispiel mit der Digitalisierung. Dann darf man aber nicht mit solchen Sätzen "nicht an jeder Milchkanne" kommen, sondern überall muss es schnelles Internet geben. Wir haben die Chance, gerade wo jetzt das Thema Klima so eine Rolle spielt, dass Strecken der Bahn wieder instandgesetzt werden, wo im Osten am meisten eingestellt wurden. Diese Chance, diese Chance, die es jetzt gibt, bei Innovation Spitze zu sein, die sollte man befördern. Da gibt es auch eine Aufgabe der Bundesregierung. Da gibt es eine Aufgabe der Länder, wo viel gemacht worden ist. Und Sie werden sich überhaupt nicht wundern, dass ich natürlich eine Eloge auf Thüringen singen könnte. Mache ich jetzt nicht. Aber ich sage: Chancen nutzen, aber klar analysieren, wie die Situation jetzt ist. Weil wenn man den Menschen Sand in die Augen streut, dann werden sie verbitterter. Dann steigt die Höhe der mentalen Mauer, und das können wir alle gemeinsam nicht wollen.
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