"Knut, du erinnerst dich noch. Ich war arbeiten komme nach Hause. Und irgendwann später klopft es an meiner Tür. Und sagst: 'Hey komm, die Mauer ist gefallen. Wir müssen nach Berlin fahren." Und ich sage: "Hey, das können wir nicht so einfach tun. Das ist nicht prickelnd. Ich bin abgehauen, hab die Armee total verweigert.' Und wusste nicht, was mir passieren würde an der Grenze. Du hast aber gesagt: "Müssen wir trotzdem machen." Warum eigentlich?"
"Ich hab den Mauerfall zuerst mit dir verbunden, weil du von da gekommen warst und der Bote aus dem anderen Universum warst."
Knut Ebeling ist heute Professor für Medientheorie an der Kunsthochschule in Berlin-Weißensee. Damals lebten wir in Hamburg. Er war Gymnasiast, ich habe als Buchhändler gearbeitet.
Knut treffe ich - nach Jahren - an der Bernauer Straße in Berlin-Prenzlauer Berg wieder. Dort wo noch ein Stück der Mauer steht, dort wo die Teilung Berlins – wenigstens museal – noch erhalten ist. Berühmt geworden ist die Bernauer Straße durch das Foto eines Volkspolizisten, der am 15. August 1961 - kurz nach dem Mauerbau – in voller Montur mit einem Sprung in den Westen flieht.
"Es ist natürlich so ein Ort, wie jetzt die Bernauer Straße irgendwie immer noch berührt. Auch anders berührt, wenn man diesen Moment miterlebt hat: Nämlich den Wegfall der Mauer."
Kennengelernt habe ich Knut noch in Ostberlin über eine westdeutsche Kirchengemeinde. Später, nachdem ich in Hamburg gestrandet bin, war es Knuts Familie, die mir Unterschlupf bot. Daraus entstand eine Freundschaft und Verbundenheit.
Aus der DDR nach Hamburg geflohen
Aufgrund meiner Flucht und der Tatsache, dass ich Mitte der 1980er-Jahre in der DDR die Armee total verweigert hatte, war ich in der DDR – wenn man so will - zum "Staatsfeind" geworden. Ein Besuch in der Ex-Heimat war daher unmöglich. Und wenn ich von Hamburg nach West-Berlin wollte, konnte ich nur per Flugzeug reisen. Jetzt im November 1989 einfach mal mit dem Auto auf der Transitautobahn durch die DDR zu fahren, um beim Mauerfall in Berlin mit dabei zu sein: Undenkbar. Doch Knut überredete mich.
"Ich erinnere mich sehr gut daran, dass wir dann schlussendlich gefahren sind. Ich dich wohl schlussendlich überzeugt habe, dass es eine ungefährliche Aktion ist. Die man einfach so machen kann. Und die wir jetzt unbedingt machen müssen."
"Aber wissen konntest du es auch nicht!"
"Ich sage mal, als Wessi, hatte man nicht die Idee, dass es gefährlich sein könnte. Was soll daran schon gefährlich sein, nach Berlin zu fahren und sich da die Ereignisse anzuschauen. Aus der West-Perspektive hatte man gar nicht die Idee, dass es ein Problem sein könnte."
Zurück ins Staatsgebiet der DDR
Eingeklemmt sitze ich am 9. November spätabends in einem klapprigen Auto. Je näher wir uns aber auf der A24 von Hamburg kommend - dem früheren Grenzübergang Gudow/Zarrenthin nähern - um so nervöser bin ich. Mein Zustand pendelt anfangs zwischen Trance und Panik, später rast mein Herz nur noch. Es kreisen die Gedanken wirr im Kopf: Lässt man mich passieren, schickt man mich zurück oder werde ich mich am Ende in einer Zelle wiederfinden, während andere in Berlin den Mauerfall feiern? Aber:
"Die haben dich da einfach durchgelassen, die haben uns alle durchgelassen. Wir waren ja so fünf Leute in einem kleinen Wagen, glaub ich. In einem Fiat Panda oder sowas."
Nach nur drei Stunden stehen wir – mein Kumpel Knut Ebeling und ich - nachts am Brandenburger Tor und oben auf der Mauer. Mit Blick in Richtung Ost-Berlin, in der Ferne schimmert das Rote Rathaus und der Fernsehturm. Von der Mauer herab konnten wir in den Todesstreifen und den Grenzern – die nur noch hilflos waren – süffisant überlegen lächelnd in die Augen schauen.
Der Blick von der Berliner Mauer
"Die Stimmung war bedeutsam. Aber man konnte auch nicht so richtig einschätzen. Ich konnte es nicht. Ich war Abiturient, der nichts Historisches erlebt hatte, der mal guckt, was da so los ist. Und der nicht über seinen Tellerrand gucken konnte. Man hat nur gesehen: da war irgendetwas großes los."
In den Osten gegangen bin ich in der Nacht des Mauerfalls jedoch nicht. Zu groß war die Angst, dass sich die Mauer hinter mir wieder plötzlich hermetisch schließt.
Mit der DDR hatte ich persönlich abgeschlossen, damit wollte ich damals nichts mehr zu tun haben: Von dem System, das mir die Zukunft komplett verbaut und verrammelt hatte. Das Abitur konnte ich nur auf dem Zweiten Bildungsweg machen, zum Studium hat man mich erst gar nicht zugelassen. Wegen der Armee-Totalverweigerung, wegen Renitenz, weshalb die Staatssicherheit auch einen Operativvorgang über mich angelegt hatte. Titel: "Aussteiger".
Die DDR war für mich der Inbegriff von Spießertum: "Draußen gibt’s nur Kännchen", "Sie werden platziert" und "Plaste und Elaste aus Schkopau", das Leben war am Ende nur noch Stillstand. Ende der 1980er Jahre bin ich deshalb aus der DDR abgehauen. Wollte das Leben in vollen Zügen genießen. Und landete in Hamburg:
Mensch vom anderen Stern
"Das Einzige was ich da sagen kann, dass du eine wichtige Person für mich warst. Du warst der Freund, der aus der DDR weggegangen war, bei uns gelandet war, dann hat man sich begleitet. Aber du warst der Mensch aus dem anderen System, wie ein Außerirdischer, dessen Existenz man gar nicht so richtig fassen konnte. Als die Mauer dann fiel hattest du die paradoxe Situation, ..."
"Weil ich beide Seiten kannte?"
"Weil du beide Seiten kanntest, weil du die beiden Dimensionen der Mauer in dir hattest. Weil, du die Paradoxie der Mauer gelebt hattest, die dann fiel."
Der 9. November 1989: Mit dem Mauerfall sofort zurück in den Osten. Aus heutiger Sicht schon eine verrückte Reise. Und es war eine Nacht des Lächelns, der Freude und des Umarmens, so wie es Berlin und das Land nie wieder erlebt hat. Eine Party, ein historischer Moment, den ich niemals missen will.