Als die Mauer fällt, bin ich gerade ein Jahr alt. Meine Eltern haben mir später erzählt, dass sie meine älteren Schwestern und mich zuhause vor dem Fernseher versammelt haben, damit wir diesen historischen Moment nicht verpassen. Das ist natürlich Quatsch bei einem Kleinkind, aber ich sollte trotzdem dabei sein und so schlief ich auf dem Schoß meiner Mutter, als im Fernsehen diese Nachrichten liefen:
"Guten Abend, meine Damen und Herren. Ausreiswillige DDR-Bürger müssen nach den Worten von SED-Politbüro Mitglied Schabowski nicht mehr den Umweg über die Tschechoslowakei nehmen."
Aufgewachsen in Rheinland-Pfalz
Ich bin in Rheinland-Pfalz aufgewachsen, ich kannte zahlreiche Witze über Holländer, aber keinen über Ossis. In meiner Wahrnehmung gab es keinen Osten, keinen Westen – sondern nur ein Deutschland. Das hat sich erst viel später verändert.
Inzwischen wohne ich in Bremen, meine Freunde hier sind alle nach der Wende aufgewachsen. Aber sie kommen aus unterschiedlichen Orten der Republik. An diesem Nachmittag trinken wir zusammen Kaffee und reden über Ost- und West. Ich will wissen, ob sie auch erst so spät verinnerlicht haben, was die deutsche Teilung bedeutet hat. Marlene aus Aachen geht es genauso wie es mir:
"Ich glaube, ich war so 15, 16, da hatten wir das so in der Schule, davor war es aber nicht so richtig ein Thema, aber wir haben das auch nicht so richtig groß durchgenommen, also wir haben 'Das Leben der Anderen' gesehen und 'Goodbye Lenin' und das war es irgendwie, also wir haben nicht so richtig darüber gesprochen. Und ich hab das meiste Wissen mir dann irgendwie mehr zufällig durch Dokus angeeignet."
Erst in den vergangenen Jahren, als das Thema auch in Medien immer präsenter wurde, habe sie angefangen sich intensiver mit der Wende und ihren Folgen auseinander zu setzen. Ganz anders als meine Freunde André und Laura, die beide in Schwerin aufgewachsen sind.
"Bei mir war es so, dass zum Beispiel auch mein Onkel vom Osten in den Westen gegangen ist nach der Wende und da wurde dann zum Beispiel auch immer gesagt, der Westonkel, das ist der Westonkel, oder auch, wenn er was geschickt hat, dann hieß es auch immer noch das Westpacket. Das ist dann alles humorvoll gemeint, aber es war schon irgendwie krass, dass man dann diese Begriffe noch verwendet auch wenn es nicht mehr zeitgemäß war."
Für Lauras Eltern spielt die Popkultur der DDR bis heute eine große Rolle, sie ist mit Ostrockbands, DDR-Filmen und Schriftstellern aufgewachsen. Eine Kultur die jedenfalls Marlene und mir vollkommen unbekannt ist.
Tobias - Produkt der Wende
In unserer Runde sitzt auch Tobias, er nennt sich selbst ein Produkt der Wende, hat eine Ost-Mutter und einen West-Vater, aufgewachsen ist er in Bremen. Die unterschiedliche Biografie seiner Eltern wurde ihm spätestens bei seiner Einschulung bewusst, erzählt er:
"Weil es dann darum ging, dass man am Montag erst zur dritten Stunde in die Schule musste in der ersten Klasse. Und meine Mutter war es aus der DDR so gewohnt, dass es für jedes Kind dann Betreuung gibt und deshalb war sie sehr verzweifelt und überfordert, dass es halt keine komplette Kindesbetreuung gibt."
Auch Laura und André berichten von ähnlichen Diskussionen. Andrés Mutter, die als Lehrerin weniger verdiente als ihre Kolleginnen in Holstein. Witze unter den ostdeutschen Verwandten darüber, dass doch jeder ein IM gewesen sei, waren so normal, wie die Vorurteile, die sie bis heute begleiten:
"Als ich zum Studium nach Bremen gezogen bin, hat meine Nachbarin zum Beispiel gesagt, ja, schon wieder ein Kind an den Westen verloren. Das sind so Sachen, die werden halt humorvoll gesagt, aber ist ja irgendwie schon so, dass die eben sehr, sehr schwer beeinflusst worden, eben durch diese Biografie und klar, man hört das so und lacht darüber, aber irgendwie ist es ja doch ernst gemeint."
Aus Schwerin kommen und hochdeutsch sprechen
Gleichzeitig erzählen André und Laura auch Geschichten von Westdeutschen, die nicht glauben können, dass man Hochdeutsch sprechen kann, wenn man aus Schwerin kommt. Oder dass ein Praktikum bei einer Firma in Chemnitz weniger ernst genommen wird, als eins in Bremen.
"Das gibt’s glaub ich immer noch, diese Barriere, diese Mauer in den Köpfen ist glaub ich noch da und wird dann halt weiter gegeben an die jüngere Generation und ich glaube die Generation nach uns wird dann vielleicht die erste sein, die ohne Mauer aufwächst, hoffe ich zumindest."
Ob sie die Ost-Biografie ihrer Eltern sehr geprägt hat, darüber müssen die beiden länger nachdenken. Sie sind zwar mit den Geschichten ihrer Familien groß geworden, in ihrem Alltag spielen sie aber keine Rolle mehr. Das läge vielleicht auch daran, dass sie in Schwerin, also in einer Landeshauptstadt aufgewachsen sind, überlegt Laura:
"Ich bin mal mit dem ehemaligen Freund von meiner Oma in Sachsen rumgefahren und hat mir so alte stillgelegte Fabriken und sowas gezeigt und hat gesagt: ‚Hier war damals das und das und hier haben 800 Leute gearbeitet und dies und das. Und hat auch gezeigt, wie verwahrlost jetzt alles ist und dass die Leute danach keine Perspektive mehr hatten. Dann sieht man das mal bildlich wirklich, was sonst eigentlich auch total fern von mir eigentlich war. Aber so, dass sich jemand beschwert, dass er ungerecht behandelt wird. Ja, das gibt es vielleicht unterschwellig, aber nichts was mich betrifft, oder so."
Reden dank des Radio-Beitrags
In unserem Alltag in Bremen ist die Ost-Westvergangenheit jedenfalls nicht wichtig. Außer ich befrage meine Freunde danach.
"Ich glaube, wir unterhalten uns gerade zum ersten Mal eigentlich darüber, das finde ich ganz erschreckend auch irgendwie, dass das eigentlich so gar kein Thema ist, obwohl es ja doch bei uns irgendwie ziemlich präsent ist, so in den Köpfen auf jeden Fall."
Wir reden an diesem Nachmittag lange über die unterschiedlichen Perspektiven auf die Wende. Komisch, dass es dazu einen Beitrag fürs Radio gebraucht hat.