Ich schwebe. Es ist dunkel.
"Die Mauer, die Mauer, Frau Götz, ist weg!" - "Das muss Sie doch interessieren!" - "Wachen Sie auf, Deutschland steht Kopf!"
Dämonen umgeben mich. Immer kommen sie zu mir, stecken ihre Köpfe zusammen und rufen mir etwas zu, das ich nicht verstehe. Oder sind das Ärzte? Liege ich auf einer Intensivstation? Ohne Mauern?
Ich schlafe wieder - schwebe, schlafe im Dunkeln - während sich die Welt draußen verändert.
"Und jetzt erleben wir, und das ist etwas Großes, und ich bin dem Herrgott dankbar dafür, dass ich dies miterleben darf: Wir erleben, dass die Teile Europas wieder zusammenwachsen."
"Na, jetzt müssen Sie aber mal die Augen aufmachen, sonst kriegen Sie ja diese Sternstunden gar nicht mit."
Mauerfall auf der Intensivstation
Ich liege in einem Bett, das sich durch lange Gänge bewegt. Eine Frau läuft vorne draus, Schwester Caroline.
"Sie sind wach, wie schön! Sie erinnern sich sicher an nichts mehr, richtig? Na ja, da war ein Unfall und Sie sind danach hier bei uns in der Klinik gelandet."
Die schwäbische Frohnatur fährt mich in ein Krankenzimmer. Von dort aus sehe ich direkt auf einen großen Berg. Draußen regnet es in Strömen. Plötzlich wird die Tür aufgerissen, ein junger Mann steuert direkt auf mich zu:
"Ich bin Frank, Zivildienstleistender und dafür zuständig, Sie wieder ins Hier und Jetzt zu holen. Waren Sie schon einmal in Berlin, Klassenfahrt oder so? Die Mauer, die Mauer ist weg! Die DDR gibt es nicht mehr. Das ist alles passiert während Sie bewusstlos waren."
Welche Mauer? Was sagt der Mensch? Die DDR gibt es nicht mehr? Das ist eine Falle! Sie wollen mich testen. "Lügen Sie nicht!", höre ich mich zu Frank sagen und schlafe wieder ein.
Ich bin fast 25 Jahre alt, lebe in Baden-Württemberg; ich bin Volontärin, im Ressort Politik. Jetzt liege ich im Krankenhaus und es geht mir besser. Viele Menschen helfen mir, die Lücken in meinem Gedächtnis zu schließen.
Aufwachen auf einem anderen Planeten
Nur die Sache mit der Mauer, das nehme ich ihnen nicht ab. Vier Tage nach meinem Erwachen auf der Intensivstation sitzt eine Kollegin an meinem Bett und liest mir vor. Fernsehschauen kann und darf ich noch nicht.
"So heute, 13.11., gibt es eine Lektion aus dem 'Spiegel':
"Überschrift: 'Die Katastrophe ist da': Nach Öffnung der deutsch-deutschen Grenzübergänge kommen zu den DDR-Übersiedlern täglich nun noch Tausende Besucher aus dem Osten. Die Städte und Gemeinden können den neuen Massenansturm kaum mehr verkraften - die Republik ist voll. Manche Politiker sehen schon den 'sozialen Frieden' bedroht."
Bin ich auf einem anderen Planten gelandet? Immer neue Informationen, und ich verstehe das alles nicht. Noch nicht. Im Dezember 1989 werde ich entlassen.
"Sie werden noch eine Weile ein paar Lücken haben, auch das mit der Konzentration dauert noch ein bisschen, aber in einem Jahr ist alles vergessen. Versprochen."
Zig Ärzte und das ganze Pflegeteam stehen um mein Bett. Zum Schluss sagt der Chefarzt:
"Am 9. November ist die Mauer gefallen, und an diesem Tag wussten wir: Sie haben das Schlimmste überstanden."
Der Sound von Trabis in Stuttgart
Kurz darauf sitze ich mit einem halben Dutzend Mitpatienten im Fernsehraum einer Reha-Klinik. Die meisten haben wie ich eine Kopfverletzung erlitten. Gemeinsam dämmern wir langsam zurück ins Leben. Stumm schauen wir auf den Bildschirm:
Tagesschau: "In Berlin und entlang der innerdeutschen Grenze werden Millionen Deutsche erstmals seit 28 Jahren Silvester wieder gemeinsam feiern."
"An der Mauer vor dem Brandenburger Tor Großeinsatz der Mauerspechte am letzten Tag des Jahres."
Ich sehe zum ersten Mal Bilder aus Berlin, von der früheren Grenze. Der Mann neben mir hat einen dicken Kopfverband, energisch ruft er:
"Das glaubt doch kein Mensch, was die uns da erzählen."
Mein Kopf ist schon etwas abgeschwollen, ich glaube es jetzt: Die Mauer ist Geschichte! Langsam begreife ich die Dimension. Kaum bin ich entlassen, zieht es mich in die Stuttgarter Innenstadt. Sofort fallen mir einige Trabis ins Auge, jahrelang wird mich der Anblick und Sound eines Trabis an den Beginn meines zweiten Lebens erinnern.