Im Osten nannte man ihn "Sportverräter": DDR-Spitzensportler Claus Tuchscherer, einer der besten Nordischen Kombinierer der Welt, setzte sich bei den Olympischen Spielen in Innsbruck nach Österreich ab. Im vorangegangen Trainingslager auf dem Dachsteingletscher hatte er sich in die Österreicherin Anni verliebt. Die organisierte die Flucht: per Taxi vom DDR-Olympia-Quartier in Mösern nach Bischofshofen. 30 Jahre nach der Flucht kehrte er für das Dlf-Sportgespräch am 9. April 2006 an den Ort der Flucht zurück.
"Hier saßen die Bonzen und hier die Sportler"
Beim Besuch des ehemaligen DDR-Mannschaftshotels kamen die Erinnerungen sehr intensiv wieder hoch. "Vom Gefühl her, als wenn es vor Kurzem geschehen wäre. Das ist alles jetzt noch so von den Eindrücken, Räumlichkeiten unverändert. Hier saßen alles Bonzen, Trainer und Funktionäre und hier die Sportler. Und ein Großteil IMs, Staatssicherheit. Hier siehst Du den Blick zur Garage wo der Koffer platziert war."
Der Koffer wurde unmittelbar vor dem ersten Wertungsdurchgang von der Großschanze platziert, darin befanden sich die nötigsten Sachen. Die Garage diente damals zum Abstellen und Wachsen von Skiern und war gut einsehbar. Aber zum Fluchtzeitpunkt war niemand da: Die damalige DDR-Mannschaft verfolgte das Springen von der Großschanze vor dem Fernseher.
Taxifahrer war ahnungslos
Der Taxifahrer habe nicht Bescheid gewusst, berichtete Tuchscherer. "Für den war das eine normale Fahrt. Ich war normaler Gast, ob der das während der Fahrt vernommen hatte, dass sich hier jemand von einem Ort entfernt, das nach DDR-Recht rechtswidrig war, soweit hat er glaube ich nicht gedacht."
Das Taxi fuhr laut Tuchscherer rücklings an die Garage. "Den Kofferraum hat die damalige Freundin aufgemacht. Ich hatte ihr erklärt, welchen Koffer sie in den Kofferraum zu laden hatte, das hat sie gemacht. Kofferraum ist geschlossen worden. Dann habe ich von der gegenüberliegenden Haupteingangstür die Tür verlassen, bin Richtung Taxi gelaufen, eingestiegen und dann sind wir hier in Richtung Telfs runtergefahren und dann nach Bischofshofen." Von dort aus ging es die Steiermark, Annis Heimat.
Als Fluchtgrund hatte Tuchscherer später seine Liebe zu Anni genannt und keine politischen Gründe. "Das war die Strategie, die ich gegenüber den DDR-Behörden sagen musste, um den Eindruck zu vermitteln, dass tatsächlich nur Liebe im Spiel war. Die war es auch. Ich war in die damalige Freundin verliebt, hatte auch über ein halbes Jahr Kontakt, den ich geheim halten konnte, aber immer damit rechnen musste, dass diese Aktivitäten hätten aufgedeckt werden können. Und das Anlass gewesen wäre, dass die mich nicht hätten zu den Olympischen Spielen mitnehmen können."
"Für mich war das eine Abenteuerreise"
Tuchscherer berichtete von seinem neuen Lebensabschnitt in Freiheit, von dem Gefühl, über sich selbst bestimmen zu können und dürfen. Auch von der Möglichkeit, als Sportspion eingeschätzt zu werden. "Tatsächlich hatte ich nichts zu spionieren. Für mich war das eine Abenteuerreise."
Österreich gilt seit jeher als Skisprungnation, daher wechselte Tuchscherer zu den Springern. Angenehm fiel ihm der Unterschied in der Beziehung von Sportler und Trainer auf: "Diese war in Österreich wesentlich entspannter und kameradschaftlicher als in der DDR, wo doch der Sportler in einer Position war, der weitestgehend Befehlsempfänger gewesen ist, der ein Subjekt gewesen ist, der Trainingsaufgaben zu erfüllen hatte. Und dann Erfolge für die damalige Deutsche angeblich Demokratische Republik einzufahren hatte."
Bespitzelt von ehemaligen Teamkollegen
Für seine Ex-Kollegen aus der damaligen DDR wurde Tuchscherer schon zwei Jahre später zum ernstzunehmenden sportlichen Konkurrenten. Nicht nur das - wie Tuchscherer nach dem Fall der Mauer aus seiner Stasiakte erfuhr, wurde er überwacht. "Da sind die natürlichen Namen erschienen mit denen ich kalkuliert hatte, dass die bei der Stasi gewesen sind mit Auftrag und eigenem Interesse mich dann permanent beobachtet haben im Ausland, wo sie zugegen waren zu Wettkämpfen und Lehrgängen".
So sei es ein Gefühl der Genugtuung, einem System die Stirn geboten zu haben, "wo Unrecht permanent auf der Tagesordnung stand, wo Menschen unterdrückt worden sind, wo Menschen gequält worden sind, wo Menschen eingesperrt worden sind. Das bestärkt mich immer wieder darin, das Richtige gemacht zu haben. Es ist des Menschen ureigenstes Interesse, seine eigenen Freiheiten solange behalten oder auszubauen, wie es nur möglich ist. Und ich bin einfach und bleibe Anhänger dieses Grundsatzes."
Aus Anlass von 30 Jahren Mauerfall bietet der Deutschlandfunk das Sportgespräch mit Claus Tuchscherer vom 09. April 2006 noch einmal zum Anhören an.