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30 Jahre Mauerfall
Strafversetzt im linientreuen DDR-Hörfunk

Den Mauerfall erlebte Dlf-Landeskorrespondentin Silke Hasselmann in der DDR - als Redakteurin in einer linientreuen Hörfunkredaktion. Dorthin war sie zuvor strafversetzt worden. Zum Verhängnis wurde ihr eine subtile Regimekritik während einer Livesendung beim populären DDR-Jugendsender DT 64.

Von Silke Hasselmann |
Blick ins Studio Der ostdeutsche Sender Jugendradio DT64, neben Rias 2 beliebtester Jugendsender, war zum Deutschlandtreffen der Jugend 1964 ins Leben gerufen worden. Daher die Bezeichnung DT64.
Jugendradio DT 64 gehörte in der DDR zu den beliebtesten Hörfunkprogrammen (picture alliance/dpa/Jan Bauer)
Wir schreiben den 18. Oktober 1989 und ich bin seit zehn Monaten und 18 Tagen beim Sender "Stimme der DDR" tätig. Also eigentlich weitgehend untätig, weil strafversetzt. Ich bin 24 Jahre alt und wohne mit Freund und Kind in einer Zwei-Raum-Altbauwohnung in Berlin-Friedrichshain. Ich gehöre weder einer Partei noch einer Oppositionsgruppe an. Die Staatssicherheit hat mich bis dahin nie angesprochen und wird es auch danach nicht tun. An diesem Oktoberabend also läuft der Fernseher und ich höre Egon Krenz sagen:
"Wir haben in den vergangenen Monaten die gesellschaftliche Entwicklung in unserem Lande in ihrem Wesen nicht real genug eingeschätzt und nicht rechtzeitig die richtigen Schlussfolgerungen gezogen."
Mit "wir" meint Egon Krenz das SED-Politbüro, das an diesem Tag zusammenkam und den greisen Erich Honecker stürzte. Nun ist Egon Krenz der neue Staats- und Parteichef. Ein Mann, der nun auch schon seit vielen Jahren in den höchsten Machtgremien saß und bis dahin nie als Reformer aufgefallen war.
Mikrofonverbot kurz vor dem Mauerfall
Ich sehe dessen Erklärung übrigens in Dresden, wo ich Freunde besuche. In der Berliner Redaktion vermisst mich ohnehin niemand. Ich habe offiziell noch immer Mikrofonverbot, darf weder moderieren noch Leute interviewen.
Wie es dazu gekommen ist, ist nachzuhören in einer Deutschlandfunksendung von 2009 über jenen Radiosender, zu dem ich ab Mitte der 80er Jahre eigentlich gehörte.

"'Ein Sputnik ist heute abgestürzt" - Vorwendezeit bei Jugendradio DT 64."
"Silke Hasselmann inspiziert den runtergekommenen Sendekomplex des DDR-Rundfunks an der Nalepastraße in Berlin-Oberschöneweide. Der Abriss ist beschlossene Sache… Als hier fast alles noch seinen sozialistischen Gang zu gehen schien, hatte Silke Hasselmann am 19. November 1988 die Nachmittagssendung von Jugendradio DT 64 zu moderieren."
Hinweis auf Verbot von Sowjetzeitschrift in DDR
Ich höre mich erzählen, wie ich auf dem Weg zum Sender in der Straßenbahn eine kleine Zeitungsnotiz darüber las, dass das DDR-Postministerium den Vertrieb der sowjetischen Zeitschrift "Sputnik" einstellen werde. Diese jahrelang total uninteressante Monatszeitschrift druckte im Zuge von Perestroika und Glasnost erstmalig kritische Artikel über den Stalinismus, und das war zu viel für die DDR-Parteioberen. Ich dachte, ich könnte nun unmöglich sechs Stunden lang live moderieren, ohne dieses Sputnikverbot anzusprechen.
"Ja, es ging los kurz nach 13 Uhr, die Nachrichten waren vorbei. Ich habe dann Musik einspielen lassen von Sigue Sigue Sputnik. Dann habe ich eine kurze Ansage gemacht, erzählt, was ich in der Zeitung gelesen habe, und habe dann ein bisschen verklausuliert gesagt, dass heute - an diesem Samstag - ein Sputnik abgestürzt sei, in der Hoffnung, die Leute würden verstehen, was gemeint ist. Vorher hatte ich schon einen zweiten Song genau auf eine Stichzeile einstellen lassen, sodass mein Schlusskommentar war: Am Mikrofon Silke Hasselmann mit… Und dann ging Pankow los: 'Aufruhr in den Augen'."
Ein Zwergenaufstand, aber immerhin. Weil kein Anruf kam, machte ich weiter und wurde immer direkter, wie auch Chefredakteur Klaus Schmalfus später beim Hören des Sendemitschnitts bemerkte.
"Zur Stabilisierung der Haltung in linientreue Redaktion schicken"
"Natürlich gab es großen Ärger vom Komitee bis zum ZK hin: Wie ist das möglich? Es stand damals nun die Frage, sie hat im Rundfunk nichts mehr zu suchen. Ich hab auch darüber dann lange nachgedacht und dem Vorsitzenden vorgeschlagen, man sollte doch die Silke ein bisschen zur Stabilisierung ihrer Haltung usw. in eine Redaktion schicken, die sehr linientreu wäre."
Nur zwei befreundete Kollegen halten offen zu mir. Die meisten ducken sich weg oder sind sogar richtig sauer auf mich. Sie fürchten um den Bestand der kleinen journalistischen Spielräume, die dem Jugendradio von Partei und Staat zugestanden werden.
Ab dem 1. Januar 1989 bin ich der linientreuen Politikredaktion von "Stimme der DDR" zur "Rotlichtbestrahlung" zugeteilt, so die spöttische Umschreibung. Ich treffe dort auf viele stramme Genossen, einige nachdenkliche Kollegen und vor allem auf viele Absurditäten. So soll ich Westpresse lesen, denn der Sender "Stimme der DDR" richtet sein Programm speziell an BRD-Hörer und da müsse ich mich mit der Presse des Klassenfeindes auskennen, heißt es. Bei DT 64 hätte ich das nie gedurft. Und nun höre ich also am 18. Oktober den neuen Partei- und Staatschef Egon Krenz nach der Politbürositzung im Fernsehen sagen:
"Mit der heutigen Tagung werden wir eine Wende einleiten, werden wir vor allem die politische und die ideologische Offensive wieder erlangen."
Die Rede war für mich ein Dokument gefährlich machender Hilflosigkeit. Doch keinen Monat später fällt die Mauer. Sie bleibt offen. Die politische Windrichtung ändert sich rasend schnell, interessanterweise sind es jetzt ausgerechnet die ehemals linientreuesten Kollegen, die sich nun - einen Monat vor Ablauf des Strafjahres - für meine sofortige Rehabilitierung aussprechen.