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30 Jahre nach der Grenzöffnung
An den Ufern der Elbe

Die Flussmitte der Elbe bildete seit der Teilung Deutschlands, wenn auch lange Zeit heftig umstritten, über viele Kilometer die Grenze von Ost und West. Die deutsch-deutsche Geschichte, aber auch die einmalige Naturlandschaft prägen die Region bis heute.

Von Dieter Bub |
Hinweisschild auf die ehemalige DDR-Grenze in Schnackenburg, Naturpark Elbufer-Drawehn.
„Das war ja die schlimmste, gefährlichste Grenze in Europa, die wir hatten. Hier traf sich ja Feuer und Wasser direkt", so ein Bewohner der Elbregion über die Zeit der deutschen Teilung. (picture alliance/imageBROKER)
"Das war ja die schlimmste, gefährlichste Grenze in Europa, die wir hatten. Hier traf sich ja Feuer und Wasser direkt."
Drüben war die SBZ und hier die besetzte Zone.
Die Teilung Deutschlands wurde nach dem Krieg von Anfang an in Berlin und an der Elbe dokumentiert. Reinhard Nietzsch und Heinz Dallmann haben diese brisante Situation über viele Jahre an Bord des Zollbootes "Hitzacker" miterlebt. Die Grenze war dabei die Mitte der Elbe.
Manchmal bringt Reinhard Nietzsch sein Akkordeon mit zum Ufer der Elbe.
"Reinhard und ich wir waren fünfzehn Jahre lang zusammen auf dem Zollboot Hitzacker. Wir haben fünfzehn Jahre unseren Dienst gemacht. Das waren ja Tausende Kilometer."
Die Besatzung musste jeden Tag mit Zwischenfällen rechnen. Westdeutsche und Ostdeutsche begegneten sich ohne jeden Kontakt nur ein paar Meter voneinander entfernt.
"Ein ganz dolles Erlebnis hatten wir einmal. Das war am Abend. Wir waren rausgefahren und jetzt kamen wir runter und denn es war Feierabend und die Schicht war zu Ende und da sah ich wie einer von der Brücke was runterwarf und da kam der runter, da waren wir schon an der Brücke vorbeigefahren und da sag ich, was willst denn und da sagt der, ich will mit rüber, der Soldat und was er da runtergeworfen hatte, das sein MG und sein Kumpel hatte eine MP, der muss wohl eingeschlafen sein und dann hat er ihm die MP weggenommen und dann sagt er, ich komme an Land und da sag ich, das geht nicht, dann begehen wir eine Grenzverletzung. Da musste er notgedrungen ins Wasser rein und jetzt hielt er die MP so hoch und schwamm und da kam er am Bug vorbeigeschwommen und da schwamm er so mit einer Hand und ich sag, schmeiß doch die MP weg und dann ließ er die MP fallen und dann haben wir ihn an Bord genommen."
Viele Bewohner am Westufer der Elbe erlebten von Anfang an die Brisanz der Situation – so wie Käthe Klukas und Hertha Krahlemann.
"Die Großeltern, die drei Dörfer weiter wohnten, da waren wir verlobt und da sagt die Großmutter: Du darfst nicht aus dem Fenster kucken. Wieso nicht? Nein, dann schießen die. Und wie wir nachher geheiratet hatten. Da konnten wir die ja immer sehen und da hab ich gesagt: das gibt‘s nicht. Wir haben ja auch Dampferfahrten gemacht und die Leute haben sich so umgedreht, dass die Wachsoldaten das nicht sahen. Die standen ja immer und haben aufgepasst und da durfte ja auch keiner rüber. Und wir haben immer gesagt: da ist furchtbar, wenn die Leute da gucken und die standen überall mit ihren Gewehre und alles."
Für Käthe Klukas und Hertha Krahlemann bedeutete das Elbufer ein Stück Heimat. Sie waren die ersten auf dem Campingplatz in Klein-Kühren.
"Wir haben unseren Auftrag erfüllt"
Bei einer meiner Reisen entlang der Elbe bin ich Jürgen Garnitz aus Stralsund und Erich Groll aus Dömitz begegnet. Beide waren bei den Grenztruppen der DDR stationiert und fuhren bis zum Ende der DDR Patrouille. Als ich sie vor Jahren traf, bekannten sie sich zu ihrem Auftrag:
"Wir waren verantwortlich für die Sicherung der Staatsgrenze im Elbebereich auf der Elbe unterwegs, um Grenzverletzungen zu verhindern. Wir waren ja die Letzten und da war ja nichts weiter mehr. Falsch gesehen hat das keiner, von unseren Leuten sowieso nicht. Wir haben unseren Auftrag erfüllt. Wir haben diesen Job gemacht, wie die anderen von der anderen Seite auch."
Mit dem Unterschied: Die Männer vom Zoll waren unbewaffnet, die Grenztruppen mit Kalaschnikows und MPs ausgerüstet.
Wie viele Flüchtlinge sie ergriffen, ob sie "Grenzverletzer" erschossen haben, darüber schweigen sie – auch wie vielen es dennoch gelungen ist, das Westufer zu erreichen.
Das Grenzlandmuseum, ehemals direkt an der Grenze zur DDR, in Schnackenburg an der Elbe. 
Das Grenzlandmuseum in Schnackenburg an der Elbe erinnert mit Dokumenten und anderen Relikten an die Teilung Deutschlands. (picture alliance/Ulrich Baumgarten)
Eines der alten DDR- Patrouillenboote liegt vor dem Museum am alten Zollhaus in Schnackenburg. In ihm wird mit Dokumenten und ein paar Figuren, verkleidet als ostdeutsche Grenzwächter, an die Teilung Deutschlands erinnert.
Hier bin ich mit Günther Steinbiss verabredet. Er war früher, wie viele hier, beim Zoll beschäftigt, und hat eine DDR-Geschichte. Seine Familie besaß bis zur drohenden Enteignung einen großen Bauernhof bei Lenzen.
"1953, 18. Januar 1953, abends, um achtzehn Uhr haben wir unser Anwesen in Lenzen an der Elbe verlassen und sind auf geheimen Wegen nach Westberlin."
"Aber Lenzen ist auf der anderen Seite?"
"Das ist richtig."
"Dann haben Sie versucht, nach Berlin zu kommen ?"
"Damals war es noch nicht ganz so gefährlich, aber die Züge wurden schon kontrolliert."
"Sie wollten zurück in Ihre alte Heimat, nur auf der anderen Seite?"
"Ich bin mal zurückgefahren mit meiner Familie, nachdem ich hier in Schnackenburg verheiratet war, wollte mal meiner Familie meinen Geburtsort zeigen und das war 1987. Da war man...schockiert? Ja, wie das aussah, wie das geworden ist."
"Das Sie jetzt hier leben und gelebt haben. Ist das Heimatgefühl?"
"Naja, sag ich hier im Museum, die Hälfte meiner Schulzeit hab ich im Sozialismus verbracht und die andere Hälfte im Kapitalismus. Da wollen wir jetzt besser nicht drüber reden."
Günther Steinbiss fühlte sich nach 1989 um den Besitz seiner Familie mit Haus, Hof und Ländereien betrogen. Nach der ersten Enteignung in die LPG sei er Opfer der Treuhand geworden. Nichts sei ihm geblieben.
Florierender Fährverkehr
Klaus Reinecke, früher wie Steinbiss und viele andere am Westufer beim Zoll beschäftigt, sah mit der Öffnung der innerdeutschen Grenze seine Chance. Waren bis 1989 alle Verbindungen über die Elbe abgeschnitten, investierte er in Schnackenburg in eine erste und später eine zweite neue Fähre. Ein Geschäft, das bis heute floriert.
Motorfähre zwischen Niedersachsen und Brandenburg bei Schnackenburg. An der Mittelelbe zwischen Niedersachsen und Brandenburg hat sich bis in die, Gegenwart ein relativ naturnahes, unverbautes Ufer erhalten. 
Eine Motorfähre zwischen Niedersachsen und Brandenburg bei Schnackenburg. Nach der Grenzöffnung stieg die Zahl der Fähren entlang der Elbe stetig. (imago images / Rainer Weisflog)
"Gleich nach der Wende wurden ja hier auf der Elbe, Mittelelbe von Schnakenburg bis Blekede 4/3 neuen Fähren installiert und vor dem Krieg gab es ja auch schon eine. Und da hab ich gesagt, warum soll hier nicht auch mal ne Fähre laufen und ich hab ja mitgekriegt, dass die anderen Fähren auch gut liefen. Das war ja kurz nach der Wende, jeder wollte rüber, der Osten wollte den Westen sehen und der Westen wollte den Osten sehen, da war richtig was los, kann ich ihnen sagen. Von wegen liegen gab‘s nicht."
"Was ist da drüben?"
"Das ist Brandenburger Land."
"Und wir kommen von?"
"Niedersachsen."
"Das ist gut?"
"Bin sehr zufrieden."
Geschäftsverbindungen zum anderen Ufer sind selbstverständlich. Dazu kommen Touristen zu Fuß oder Radwanderer, wie die Schauspielerin und Publizistin Clarissa Herrmann. Die Elberegion war für sie eine Entdeckung.
"Ja, durch Zufall, meine Ferien in der Provence sind geplatzt und ich dachte, ich brauch dringend Erholung und Natur und da gab‘s ne Gruppenreise und mir schien das doch ein Flecken unberührter Natur zu sein und das hat mich interessiert."
So kam Clarissa Herrmann nach Lenzen mit seinem Bio-Burghotel des Bundes für Naturschutz und einem enttäuschenden Museum, das mit einem Münzeinwurf, ohne Führung enttäuschend leer ist – und über die Grenzlandsituation nichts vermittelt.
"Das stimmt. Ich muss sagen, ich hatte davon wenig Ahnung. Mein Vater kommt von gar nicht weit weg, der kommt aus Sachsen-Anhalt, der hat, als er ganz jung war rübergemacht, wie man so sagt. Aber ich selbst, weil davon ganz wenig und ich bin jetzt erstmal zu Ferien hierher und hab mir das alles hier erzählen lassen, was hier so war, aber wir haben uns vor allem die Natur hier abgeguckt. Wir sind gewandert, wir sind Rad gefahren, wir waren auf der Löcknitz paddeln, perfekt, wir haben den Seeadler gesehen, Rotmilan, Störche, kleine Vögel. Es war herrlich."
"Das gehört nicht getrennt"
Auf der Gatower Fähre habe ich Familie Lehmann getroffen, mit zwei Hunden auf dem Weg von Dresden nach Hamburg unterwegs. Jeden Tag 40 Kilometer auf beiden Seiten der Elbe.
"Das gehört einfach zusammen, das Deutschland, das gehört nicht getrennt. Dauert aber sicher noch ein, zwei Generationen bis das zusammengewachsen ist. Ich denke mal unsere Kinder, unsere Enkel, lernen das anders als wir."
Auf der Ostseite der Elbe liegt Haar, Teil der Gesamtgemeinde Neuhaus. Das Kuriose: die Gemeinde gehörte bis zur Teilung Deutschlands und gehört nach der Einheit wieder zu Niedersachsen. So hat Marianne Recker in zwei deutschen Staaten gelebt. Im Osten waren sie und ihr Mann im Auftrag der LPG für die Entwässerung der Elbwiesen zuständig.
Der Westen war in weiter Ferne. Wir stehen vor ihrem Haus und sie beschreibt ihre Empfindungen damals und heute.
"Ja, das ist unser schöner Blick in den Westen. Den hatten wir täglich vor Augen und früher konnten wir da nicht hin. Und jetzt ist so nah. Das ist einmalig schön. Und wenn die Sonne mal richtig scheint, das genießen wir dann."
"War das für Sie ein Sehnsuchtsort?"
"Ja unbedingt. Man hat auf dem Feld gestanden und gedacht, da kommen wir nie hin. Das ist unglaublich. Wir hatten zu essen, zu trinken, ne warme Stube und wir hatten Arbeit. So richtig vermisst haben wir nichts."
"Was für ein nationales Gefühl haben Sie gehabt und haben Sie heute. Waren Sie bewusst DDR-Staatsbürger?"
"Wir haben ja oft unerlaubt das Niedersachsenlied gesungen. Durfte man nicht so laut sagen, aber wir waren Niedersachsen."
Traumjob an der Elbe
Biosphärenreservat Flusslandschaft Elbe, Mecklenburg-Vorpommern. Auch dieser Name zeigt, inzwischen ist zusammengewachsen, was zusammengehört. Ich bin mit Ulrike Müller verabredet, der jungen Leiterin, lebhaft, engagiert, mit fülligem brünetten Haar. Wir treffen uns auf dem Elwkieker in Boizenburg, einst mit einem Grenzposten markiert das Ende der DDR vor der Elbe Richtung Hamburg, heute das Grüne Band nach Osten.
Blick auf die Elblandschaft vom Aussichtsturm "Elwkieker"
Blick vom Boizenburger Aussichtsturm "Elwkieker" auf die Flusslandschaft Elbe. Von hier aus sieht man den großen Elbstrom, die Sude und die Boize. (D. Foitlänger, Biosphärenreservatsamt Schaalsee-Elbe)
"Wir sind jetzt hier auf dem Teil Mecklenburg-Vorpommern, wir schauen hier auf die niedersächsischen Elbtalaue. Das ist hier ein Biosphärenreservat, das sich hier auf fünf Bundesländer erstreckt. Wir sehen hier die Elbe mit dem kleinen Nebenflüsschen, wir sehen den Auenbereich. Harthölzer, die sehr stabil sind, wir sehen viele Sandbereiche, weil das Wasser gerade sehr niedrig ist und wir haben einen weiten Ausblick auf Grünlandflächen."
Die Elbe, einst eine Chemie-Kloake durch Abwässer aus Deutschland und Tschechien, ist längst wieder ein sauberer Fluss. Baden und Schwimmen ist auch für Ulrike Müller ein Vergnügen, wenn auch mit Vorsicht.
"Ich find das super, das ist sehr angenehm. Die Elbe ist ja ein Fluss mit erheblicher Geschwindigkeit. Ja, deswegen ist es ja auch nicht zu unterschätzen. Man sollte sich einen stilleren Bereich suchen oder zwischen den Buhnen. Und das man aufpassen muss, dass man nicht abgetrieben wird. Jetzt fährt gerade ein kleines Schiff vorbei."
Im Vergleich mit dem Rhein gibt es an der Elbe nur wenig Schiffsverkehr.
Ulrike Müller hat mit dem Biosphären-Reservat, dem Elberadweg und seiner Weiterentwicklung neuer regionaler Produkte und Unterkünfte neue Zukunftspläne.
Ulrike Müller ist Leiterin des Biosphärenreservats Flusslandschaft Elbe.
Ulrike Müller ist Leiterin des Biosphärenreservats Flusslandschaft Elbe - ihr Traumjob. (D. Foitlänger, Biosphärenreservatsamt Schaalsee-Elbe)
"Es ist mein Traumjob. Ich war als Kind in einer Naturschutzgruppe und das hat mir Spaß gemacht. Ich komme aus Thüringen, aus einer Orchideenregion, den Leuten die Genialität der Natur nahe zu bringen. Ich lebe in Hamburg, lebe an der Elbe, bin Hamburg und weiter südlich in der naturnahen Umgebung meinen Traumjob gefunden."
Kulturelles Mahnmal
Die Elbe hat auch nach dem Krieg, nichts von ihrer Faszination verloren. An ihren Ufern liegen Dresden, Wittenberg, Hamburg – und auch Hitzacker. In der Kleinstadt wurde trotz der Teilung als kulturelles Mahnmal 1946 mit den Sommerlichen Musiktagen das erste Musikfestival Deutschlands gegründet.
Auch sein heutiger Intendant, Oliver Wille, hat eine deutsche Biografie.
"Also ich bin in Ostberlin aufgewachsen und insofern ist dieses Thema sehr präsent für mich. Ich war damals an der so genannten Spezial-Musikschule Hans Eisler. Das war ein Institut für Frühförderung, wie man heute sagen würde, jetzt ist es das Bach-Gymnasium in Berlin. Damals Hans-Eisler-Schule und sie war direkt an der Mauer. Das heißt, jeden Morgen, ich hatte eine Anreise von einer Stunde zur Schule, hat man diese Mauer gesehen. Der U-Bahnhof Bernauer Straße war dort unterbrochen. Alle mussten aussteigen. Ich war 14 Jahre alt als die Mauer fiel."
"Ich hatte das Glück, das ich in der Nacht zum ersten Mal in Westberlin war und das war ein prägendes Ereignis, dieser Moment der Maueröffnung, aber auch die kommenden Jahre, dass ich das Glück hatte, die ich immer mit Musik erleben durfte. Unser Streichquartett, das Kuss-Quartett, hatte sich gerade frisch gegründet, vor der Wende."
Danach konnten die jungen Musiker in ganz Europa Meisterkurse besuchen. Oliver Wille: "Für meinen musikalischen Werdegang war es entscheidend. Wir träumten als junge Leute davon zu reisen. Im Orchester oder im Streichquartett."
Signal über die Elbe hinweg
Die Vergangenheit bestimmt auch 30 Jahre nach dem Ende der DDR das Programm. Nicht nur bei Film und Fernsehen oder in der Literatur, auch in der Musik wirkten sich die Überprüfungen der Kulturfunktionäre aus.
Ein Wegweiser zur Elbfähre zwischen dem mecklenburgischen Bitter und dem Ort Hitzacker in Niedersachsen.
In der Kleinstadt Hitzacker wurde trotz der Teilung als kulturelles Mahnmal 1946 mit den Sommerlichen Musiktagen das erste Musikfestival Deutschlands gegründet. (picture alliance/Jens Büttner/dpa-Zentralbild/ZB)
"Wir machen ja in Hitzacker ein Format "Stimmen unter dem Radar", wo es vor allem um das Liedschaffen der DDR geht. Da war es sehr gesund, dass die Wende kam, das man Verbindung zur Welt hatte. Wenn wir das alles nicht spielen dürften, weil wir immer noch die DDR hätten, das wäre scheußlich."
Die Sommerlichen Musiktage waren 1946 ein kulturelles Signal über die Elbe hinweg, eine politische Entscheidung an einem ungewöhnlichen Ort, weitab westdeutscher Realität. Und lange vor dem großen Festivalboom von Schleswig- Holstein bis zum Rheingau.