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30 Jahre Wiedervereinigung
Was geschieht, wenn ein Staat zusammenbricht?

"Wir sprechen alle deutsch, aber nicht dieselbe Sprache", sagt Martin Gross. Im Januar 1990 zieht der westdeutsche Autor nach Dresden, um die Folgen des Mauerfalls zu beobachten. Sein zwei Jahre später erschienener Roman "Das letzte Jahr" zeugt von Melancholie und Ernüchterung. War das überhaupt eine Revolution?

Martin Gross im Gespräch mit Frank Kasper | 27.09.2020
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Der Schriftsteller Martin Gross hat den Umbruch der Gesellschaft im Osten beobachtet und in seinem Buch dokumentiert (privat)
Zahlreiche Diskurse haben die Gesellschaftsbildung der deutschen Einheit über 30 Jahre in Ost und West begleitet. Es wurde kontrovers diskutiert, auch skeptisch hinterfragt - alle fünf Jahre ergab sich dadurch ein neues Bild über das Zusammenwachsen. Was sehen wir heute? "Essay und Diskurs" führt Gespräche zu Einheits- und Zukunftsfragen mit Literatur-, Kulinarik-, Popkultur- und Wende-Menschen.

Die Ost-West-Rolle - eine Gesprächsreihe in sechs Teilen

Frank Kaspar: "Ich gehe in diesem Land herum wie in einem stillgelegten Bahnhof. Unter dem Glasgewölbe hindurch, an den Fahrplänen und Schaltern vorbei, viel Staub, viel Licht und viel Stille. Das unbeschwerte Gehen durch ein Land, das sich aufgegeben hat."
Diese Sätze notiert der Schriftsteller Martin Gross am 05. Januar 1990. Sie stehen am Anfang seines Buchs "Das letzte Jahr".
Herr Gross, das ist ein Buch voller Beobachtungen im Osten Deutschlands, die Sie gesammelt haben, in der Zeit, nachdem die Mauer schon gefallen war, aber die DDR noch weiter bestand. In Form von Tagebucheinträgen, Briefauszügen, Reportagen haben Sie in Ihrem Buch sehr persönliche Nahaufnahmen aus diesem letzten Jahr der DDR zusammengestellt.
Und dass wir heute über dieses Buch reden können, ist eigentlich ein kleines Wunder, denn "Das letzte Jahr" ist 1992 erschienen, vor bald 30 Jahren, und war aus den Buchläden seit Langem verschwunden. Aber im vergangenen Jahr konnte man diese "Notizen aus einem ungültigen Land", wie Sie am Anfang schreiben, wiederentdecken in einem Buch mit dem Titel "Das Jahr 1990 freilegen".
Dort haben Anne König und Jan Wenzel vom Leipziger Spector Books-Verlag zusammen mit weiteren Herausgebern auf knapp 600 Seiten Fotos und Texte aus der Zeit und über die Zeit zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung versammelt – darunter eben auch viele Passagen aus Ihrem Buch. Die Verleger konnten Sie zunächst gar nicht ausfindig machen, aber inzwischen sind Sie in Kontakt miteinander und "Das letzte Jahr" ist jetzt in einer Neuauflage ebenfalls bei Spector Books erschienen.
Herr Gross, was ist da in Ihnen vorgegangen, als Ihr Buch nach so langer Zeit auf einmal zu Ihnen zurückgekommen ist und als Sie erfahren haben, dass die Texte, die Sie damals geschrieben haben, wieder gelesen und diskutiert werden?
Martin Gross: Das war einerseits ein irrsinniger Glücksmoment, gleichzeitig aber auch etwas gespenstisch. Weil man sich ja manchmal fragt: Träume ich das jetzt oder ist das so, stimmt da irgendwas nicht? Ich musste dann erst mal in den Wald, musste spazieren gehen, musste mich beruhigen. Und während ich dann im Wald war, kam so eher ein Schreckmoment: Auszüge aus meinem Buch sind also in einem anderen Buch erschienen und dort auch positiv besprochen worden – mein Gott, was habe ich denn da eigentlich geschrieben? Ich kann mich ungefähr erinnern, worum es ging, aber kann ich das eigentlich heute noch vertreten, was ich damals geschrieben habe?
"Ich habe ein Faible für etwas, was sich grundsätzlich umwälzt"
Kaspar: Im Vorwort zu der Neuausgabe Ihres Buchs haben Sie geschrieben, das war wie so eine Flaschenpost, die man in den literarischen Markt wirft, und 30 Jahre später klingelt das Telefon. Und das Buch ist ja tatsächlich auch für viele Leserinnen und Leser heute wie eine Flaschenpost aus einer ganz besonderen Zeit, aus einer Zeit, in der vieles ungewiss, im Umbruch, in der Schwebe war. Sie kommen sehr nah an die Menschen heran, Sie zeigen sehr viel Alltag.
Der Hintergrund der Geschichte ist ja: Im Januar 1990 gehen Sie von Westberlin nach Dresden, mieten sich da in einem Gästezimmer ein und beschließen, dort über Monate zu bleiben und aus der Nähe zu verfolgen, wie ein Staat seine Ordnung verliert. Bevor wir im Gespräch auch nochmal etwas in diese Zeit eintauchen, verraten Sie mir doch bitte: Wie ist es überhaupt dazu gekommen? Was war der Impuls und warum war der so stark, dass er sie dazu gebracht hat, in Berlin alles stehen und liegen zu lassen und sich für so eine lange Zeit Ihrer Recherche zu widmen?
Gross: Es gibt sozusagen den inneren Impuls, der darin liegt, dass mich fremde Länder, andere Situationen, Umbrüche schon immer fasziniert haben, biografisch und literarisch. Ich habe sozusagen ein Faible für etwas, was sich grundsätzlich umwälzt. Ich hatte in dieser Zeit öfter für verschiedene Feuilletons geschrieben, das waren Buchbesprechungen, waren aber auch kleinere Reportagen. Und ich hatte damals im Januar noch eine konkrete Anfrage von Lettre International, ob ich da nicht mal ein paar Alltagsszenen aus der DDR schreiben könnte.
Da hatte ich noch überhaupt keinen Plan von wegen Buch oder längere Reportagen, aber ich war dann in Dresden und bin sozusagen innerlich hängengeblieben. Ich dachte, ich lasse alles andere zurück, das will ich jetzt mal länger sehen. Aber nicht im Sinne eines Beschlusses, ich bleibe hier für ein ganzes Jahr, sondern ich will es jetzt einfach mal länger sehen. Und aus dem länger Sehen wurde noch ein Aufenthalt und noch ein Aufenthalt und so weiter.

"Fremder als in jedem anderen europäischen Land"

Kaspar: Jan Wenzel, der Herausgeber von "Das Jahr 1990 freilegen" schreibt, als er Sie dort einführt, Ihre Texte einordnet: Das sind quasi "Briefe aus der Fremde". Sie haben jetzt auch gerade davon gesprochen, dass Sie so eine Faszination für fremde Länder haben. Das Besondere ist natürlich: Sie sind damals von Deutschland nach Deutschland gefahren. Wie fremd war es Ihnen denn?
Gross: Es war auf alle Fälle fremder als der Besuch in jedem anderen europäischen Land, Schweden oder Italien. Es war auch fremd unter dem Aspekt, dass ich ja Verwandte besucht hatte, über die wir schon viel gehört hatten, die wir manchmal auch kurz gesehen haben, aber nie in ihrer Umgebung besucht. Und das war dann schon ein großes Staunen: Das ist also die Umgebung, in der die oder die Person lebt, so arrangiert sie ihr Leben. Insofern am Anfang sehr fremd, aber seltsamerweise dann auch mit einem Gefühl, dass ich mich eigentlich sehr schnell einleben könnte.
Kaspar: Wir sprechen Deutsch, aber wir sprechen nicht dieselbe Sprache, so ungefähr haben Sie in Ihrem Buch notiert nach dem ersten Besuch bei den Verwandten in Dresden. Was war denn das Andere, das Fremde? Woran hat sich das für Sie festgemacht?
Gross: Es gibt natürlich eine ganze Reihe von Vokabeln, die waren mir fremd. Aber das ist sozusagen Vokabelarbeit, also "Zweiraumwohnung" fällt mir jetzt ein, wir sagen westdeutsch "Zweizimmerwohnung". Das ist aber nicht so der Punkt, sondern das aneinander Vorbeireden oder die unterschiedliche Sprache ist: Ich komme sozusagen eher aus einer, sagen wir mal, linken Tradition, einer etwas antiautoritären Tradition, Spät-68er-Spuren und so weiter. Wir reden dann also mit den Verwandten über den Markt, die Arbeitsbedingungen, über das Warenangebot. Wir reden aber immer so, dass sie mich dann fragen, was finde ich eigentlich daran schlecht oder warum bin ich so miesepetrig gegenüber allem, was der Westen doch eigentlich da anzubieten hat, während für sie das ja lange Zeit ein Traum war – und dann für manche auch sehr schnell ein Albtraum wurde.
"Meinung hat nicht mehr so viel gezählt wie die Form"
Kaspar: Die Geschichte, die Sie in Ihrem Buch erzählen, wie sich Ost und West aufeinander zubewegen, das ist ja eben auch eine Geschichte, die immer wieder zeigt, dass Erwartungen, Erfahrungen einander verfehlen. Ein ganz gutes Beispiel dafür ist vielleicht die Geschichte einer Regionalzeitung, die Sie verfolgen, das greifen Sie im Lauf des Buchs immer wieder auf.
Das ist eine Zeitung, die während des Wendeherbstes auch eine gewisse Rolle gespielt hat, weil dort regierungskritische Artikel erschienen sind über die Proteste der Demokratiebewegung. Nach und nach wird diese Redaktion dann aber umgebaut, die Zeitung wird von einem westdeutschen Verlag übernommen. Und da prallen dann tatsächlich ganz unterschiedliche Vorstellungen, Erwartungen, Wünsche aufeinander. Was waren dabei aus Ihrer Sicht die kritischen Punkte?
Gross: Was mich so fasziniert hat, war: Die Redakteure, denen ich zuerst begegnet bin, waren sehr interessiert an dem Thema "Wahrheit und Lüge" – wie schafft man das, in einer Zeitung, die viel lügt, trotzdem etwas Wahres unterzubringen? Da gab es die allererste Person, mit der ich gesprochen hatte, und die war sehr stolz, ihren Artikel zu zeigen, wo es um eine Konferenz von Biologen ging, wo er dann geschrieben hat: Sehen Sie mal, die Biologen sagen, Monokulturen erzeugen Parasiten. Das hat dann in meiner Umgebung, sagte der Redakteur, jeder verstanden, dass das sozusagen auch eine politische Aussage war, also ich habe in die allgemeine Lüge, die ich geben musste, ein Element der Wahrheit reingebracht.
Diese Zeitung, die im Buch "Die Rundschau" heißt, war in Dresden die erste, die auch sehr massiv gesagt hat, wir müssen aufhören zu lügen, wir müssen die Wahrheit akzeptieren oder wir müssen über die Wahrheit berichten. Das waren nicht nur ein paar Rowdys, die da randaliert haben am Bahnhof, sondern das war der Wunsch der Menschen nach einer anderen Gesellschaft. Also Wahrheit und Lüge war das, was sie in ihrer Motivation geprägt hat.
Dann kam der Westdeutsche Verlag und hat mehr oder weniger gesagt, okay, ist eure Meinung, Wahrheit und Lüge, ihr schreibt die Wahrheit, so wie ihr sie seht, gar kein Problem, aber wenn ihr schreibt, dann müsst ihr sehr deutlich unterscheiden: Das ist Information, das ist Bericht, das ist Kommentar, das ist zu unterscheiden. Ihr müsst die Andruckfristen richtig beurteilen, also einhalten: Wann muss ein Artikel fertig sein? Ihr müsst berücksichtigen das Verhältnis von Bild und Text, ihr könnt unmöglich eine Seite produzieren, auf der ein kleines Bild am Rande ist, das Bild muss viel größer sein.
So dass sie von beiden Seiten immer das Gefühl hatten: Wir wollen über die Wahrheit reden – und die Westdeutschen haben gesagt: Wir müssen denen endlich mal klarmachen, wie ein richtiges Layout aussieht. An dem Punkt haben sie sich verfehlt, und es haben auch einige dann gekündigt oder wurden gekündigt, weil sie das nicht in der richtigen, sagen wir mal Westform präsentieren konnten. Also, die Meinung hat nicht mehr so viel gezählt wie die Form.
Eine neue Identität suchen
Kaspar: Sie haben ja viele Menschen für Ihr Buch in Ihrem Alltag begleitet: Da ist ein Arzt, dessen Poliklinik in ein Krankenhaus nach westlichem Modell umgewandelt werden soll, da sind zwei Personenschützer, die einen Politiker bewachen, da ist eine Reinigungskraft, die Sie im Regierungsgebäude der künftigen Landesregierung bei ihrer Schicht begleiten. Einige von diesen Begegnungen, die Sie im Buch beschreiben, die zeigen, denke ich, besonders deutlich, wie sehr in dieser Zeit die Rollen vieler Menschen ins Schwimmen geraten sind.
Sie besuchen da zum Beispiel eine ehemalige Bezirkszentrale der Staatssicherheit, das Gebäude war von Demonstranten gestürmt worden und wurde eigentlich inzwischen von einem Bürgerkomitee verwaltet. Der Mann, der Sie dann dort durch den Gefängnistrakt führt, ist aber ein Polizist, ein junger Offiziersanwärter. Wie passt das denn zusammen?
Gross: Ja, das hab' ich mich auch gefragt. Offiziell war dieses Stasigefängnis besetzt vom Bürgerkomitee, die aber offenbar ihrerseits sozusagen die Bewachung des Gebäudes wieder an die Polizei, die normale Volkspolizei, abgegeben haben, also nicht an die Stasi, an die Volkspolizei, weil da, was weiß ich, Sicherheitspersonal da sein muss. Und die Polizisten, die dann da waren, haben mir sozusagen als Begleiter den Jüngsten von ihnen zugeschoben: Red’ du mal mit dem Westler. Der Polizeianwärter, Offiziersanwärter, hatte offenbar am wenigsten Belastbares in seiner Biografie, ein junger Mann, den haben sie mir zugewiesen, und der hat mich durch das Gebäude geführt.
An dieser Person war natürlich sehr deutlich, wie sehr er diesen Umbruch an seiner Biografie erlebt. Was mir sehr drastisch in Erinnerung ist: Er wurde noch immer – im Oktober, also während der Demonstration – zum Dienst gerufen mit der Aussicht: Hier ist eine Konterrevolution, im schlimmsten Falle müssen wir Waffengewalt einsetzen. Und er stand dann diesen Demonstranten gegenüber und sagte: Das ist Konterrevolution? Das hab' ich aber ganz anders gelernt, was Konterrevolution ist. Er war extrem hilflos, was er denn mit diesen Personen jetzt anfangen sollte.
Im Endeffekt ist es dann so gegangen, dass ihm einfach niemand mehr Befehle gegeben hat. Er stand da den Demonstranten gegenüber, es war dann inzwischen der Bürgermeister gekommen, die verschiedenen städtischen Angestellten und die Demonstranten haben miteinander geredet. Die Demonstranten haben immer gerufen: keine Gewalt, haben Kerzen angezündet – das war alles andere als Konterrevolution.
Damit war aber trotzdem seine Biografie, so wie er sie bisher gesehen hat, als jemand, der einen Staat schützt, beendet. Er musste dann in der Situation beginnen, für sich eine neue Identität zu suchen. Er ist wahrscheinlich Polizist geblieben, aber mit einer anderen inneren Überzeugung, wofür er eigentlich hier Polizist ist.
Kaspar: Eine Szene von Ihrer Besichtigung dort mit dem jungen Polizisten ist mir besonders in Erinnerung geblieben, weil sie auch so etwas Widersprüchliches hat: Sie kommen in diesem Gefängnistrakt an einem großen Aquarium vorbei, und der Polizist erzählt Ihnen, als dieses Gebäude gestürmt wurde, hätten sich Gefangene schützend vor das Aquarium gestellt. Was war denn da los?
Gross: Ich weiß natürlich auch nicht, was da los war, ich kann ja nur erzählen, was er mir gesagt hat. Ich hab den Eindruck, das passt sehr gut in sein Menschenbild oder in sein Gesellschaftsbild: Es kamen Demonstranten, die haben praktisch alles kaputt gemacht. Er hat mir Räume gezeigt, die waren wirklich zerstört – die Stühle zerschlagen, die Tische zerbrochen –, das waren sozusagen aus seiner Perspektive die Chaoten.
Und aus seiner Perspektive gab es aber Strafgefangene, die offenbar in seiner Vorstellung akzeptiert hatten, dass sie etwas falsch gemacht haben, also mit ihrem Schicksal einigermaßen einverstanden sind. Sie haben nicht die Gelegenheit genutzt zu fliehen, was in dem Moment möglich gewesen wäre – wobei ich mich dann natürlich auch frage, wenn jemand im Dezember in Anstaltskleidung auf die Straße kommt, dann ist er wahrscheinlich sowieso verloren, das mal nebenbei. Aber was er, dieser Polizeianwärter, in seinem Menschenbild dann hervorgehoben hat: dass diese Strafgefangenen ein Aquarium geschützt hatten, wo lebende Fische und Pflanzen drin waren, das sollten die Chaoten nicht zerstören dürfen.
"Die Abwendung von Ostprodukten war sehr wuchtig"
Kaspar: Begegnungen und Gespräche aus der Zeit zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung, hat der Schriftsteller Martin Gross in seinem Buch "Das letzte Jahr" festgehalten. Herr Gross, Sie beschreiben im Buch zum Teil sehr drastisch, mit welcher Wucht der Markt aus dem Westen in die DDR vordringt – mit seinem Glanz, mit begehrten Produkten –, das nimmt zum Teil ja geradezu groteske Formen an: Ein Möbelwagen, der zum Pelzgeschäft umgewidmet wurde, versinkt auf so einer Brache im Schlamm, und Sie beschreiben zum Beispiel, wie auf der grünen Wiese ein gigantischer Supermarkt errichtet wird. Wie muss man sich das im Einzelnen vorstellen?
Gross: Es war einerseits die Wucht, mit der der Westen gekommen ist, aber es war auch die Wucht, mit der die DDR-Bevölkerung sich von ihren eigenen Produkten abgewandt hat, mit denen nichts mehr zu tun haben wollte – von Waschmittel bis Brötchen und so weiter. Die Westqualität war sicher nicht besser, aber die Abwendung war sehr wuchtig. Und auf der Grundlage – und auf der Grundlage einer relativ ungeklärten juristischen Situation – gab es sehr massive Erscheinungen:
Leute aus dem Westen sind gekommen, haben sich in die Stadt gesetzt oder gestellt, einen Tisch aufgebaut und Taschen oder Jacken verkauft, Westprodukte verkauft, zu Preisen, die eigentlich überzogen waren, und manchmal auch mit minderwertigen Waren. Oder eben dieses Beispiel am Stadtrand von Dresden, auf einem Stück Land, das einer LPG gehört hat, eine Wiese gewesen ist, kam ein Discounter, hat ein paar große Zelte aufgebaut und Lebensmittel hingestellt, noch in geschlossenen Containern oder in geschlossenen Paketen, und die Leute kamen scharenweise.
Kaspar: Es ist oft sehr ernüchternd und manchmal tut es wirklich weh, wenn man in Ihrem Buch liest, wie Sie damals anscheinend das Kräfteverhältnis von Politik und Ökonomie erlebt haben – bis hin zu der Feststellung: "Was hier geschehen ist, war kein politisches Ereignis, die DDR wurde nur umständehalber verkauft."
Gross: Ja, ich glaube, das ist leider das, was man sagen muss. Es gab eine Oppositionsbewegung, das ist nicht zu übersehen, das Neue Forum zum Beispiel, und die hatten auch ihre Vorstellungen, wie ein demokratischer Sozialismus aussehen konnte. Aber die Mehrheit der DDR-Bevölkerung, ich würde sogar sagen die überwiegende Mehrheit der DDR-Bevölkerung hatte seit Langem so was wie "drüben". Das haben andere Länder nicht, andere Ostblockländer nicht in diesem Maße gehabt, dieses "Drüben", das, was ganz, ganz nahe liegt und einfach nur schnell übernommen werden kann.
Nur auf diesem Hintergrund ist, glaube ich, zu verstehen, dass die Kräfte, die etwas Selbstständiges entfalten konnten oder wollten, sehr in der Minderheit waren und die Mehrheit einfach, wie gesagt: Umständehalber werden wir übernommen. Dieser Staat hat sich aufgegeben oder die Wirtschaft dieses Staates hat sich aufgegeben. Sie war im Prinzip immer weniger konkurrenzfähig gegenüber den Westprodukten, und die Konsequenz war, die Westprodukte sind gekommen - in Scharen.
Und vielleicht muss man dazusagen, das ist die Ironie dieser Geschichte: Viele Menschen wollten die Westprodukte, aber dass diese Westprodukte die Produkte, die sie selber in ihren Fabriken erarbeiten, dass sie die wertlos machen und damit auch ihre Arbeitsplätze vernichten, das war abstrakt bewusst, aber im Konkreten dann für die Einzelpersonen doch ein Schock: Ich hab' jetzt also D-Mark und hab' Westwaren, aber ich kann das, was ich bisher produziert habe, nicht mehr verkaufen.
Freie Marktwirtschaft wie "eine große enttäuschte Liebe"
Kaspar: Einmal beschreiben Sie eine Situation, da sind Sie zu Gast bei Ihren Verwandten, und es ist nicht so leicht, alles offen anzusprechen, da ist auch Scham – auf beiden Seiten, glaube ich – im Spiel. Das ist schon etwas später im Jahr 1990, und Sie verstehen erst nach und nach, dass mehrere, die mit am Tisch sitzen, inzwischen arbeitslos geworden sind.
Gross: Ja, mehrere wurden allmählich arbeitslos beziehungsweise Teilarbeit oder umgesetzt auf eine niedrigere Arbeitsstelle, also niedrig bewertet, in ihrem Selbstbild zumindest niedrig. Das hat eine gewisse Scham ausgelöst bei den Leuten, sie wollten gar nicht so recht darüber reden, was sie jetzt eigentlich machen. Sie waren auch sehr hilflos bezüglich der Dinge, die auf sie zukommen.
Plötzlich war ich nicht mehr derjenige, der sie gefragt hat, wie macht ihr das und wie habt ihr’s gemacht? Nach und nach wurde ich immer mehr derjenige, der gefragt wurde, Auskunft geben musste: Sag mal, was heißt das mit den Steuerklassen eins bis fünf, wie ist das mit Hartz IV, wie kann man das beantragen und was für Rechte hat man, wenn man arbeitslos wird?
Kaspar: Sie schreiben sogar, es ist ja nicht nur das Geld, das fehlt, sondern das Absurde ist, dass viele Menschen arbeitslos werden im Laufe dieses Jahres, die sich immer nach der Marktwirtschaft gesehnt haben.
Gross: Ja. Es gab in der Familie einen, der war Schlachtermeister oder Metzger, der hat immer von der Marktwirtschaft geträumt, also endlich mal ein freies Geschäft zu haben und nicht immer die Vorgaben von oben. Und plötzlich hatte er ein freies Geschäft, da gab es dann erst mal das Problem: Er musste kalkulieren.
Bisher hatte er einfach halbe Schweine, und da war klar, was er verkauft – jetzt musste er rechnen. Wenn ich aus dem halben Schwein soundso viele Schnitzel mache oder soundso viele Koteletts, soundso viel Wurst, wie viel verdiene ich dann? Von der Selbstständigkeit war er tendenziell überfordert, also hat er nie gelernt, wie kalkuliere ich meine eigene Firma und wie berücksichtige ich dann auch die Steuern, die ich bezahlen muss?
Und in dieser ganzen Euphorie über die kommende Marktwirtschaft war natürlich abzusehen, dass er sozusagen freier Fleischermeister nicht lange sein wird, weil Aldi und Lidl und sonstwer demnächst mal vor der Tür stehen und ihre Fleischtheken haben, und dann ist sein Geschäft geschlossen.
Kaspar: Und Sie machen ja gerade an diesem Beispiel Arbeitslosigkeit klar: Es geht hier nicht nur – schlimm genug – um Fragen der ökonomischen Existenz, wie komme ich über die Runden, wie baue ich ein Geschäft wieder auf, es geht auch um so was wie enttäuschte Liebe.
Gross: Ja, das wollte ich gerade noch nachtragen. Bei dem Onkel, der Fleischermeister war, hatte ich wirklich den Eindruck, das ist eine große enttäuschte Liebe. Er hat immer davon geträumt, wie das wäre, wenn er Fleischermeister wäre in der freien Wirtschaft. Er kam in die freie Wirtschaft, und die freie Wirtschaft hat ihn letztendlich zurückgewiesen – wie einen Liebhaber, den man abweist: Du bist nicht gut genug für uns, zu klein für uns, zu popelig, was du da anzubieten hast.
"Die Kräfte, die etwas Neues aufbauen wollten, waren zu schwach"
Kaspar: Sie schreiben ja schon relativ früh, im Jahr 1990: "Der politische Aufbruch ist bereits Erinnerung geworden, während ich mich noch zu Hause auf ihn vorbereitet habe." Da liegt auch so ein schmerzlicher, melancholischer Ton in der Beobachtung. Wie nah ist Ihnen das eigentlich damals gegangen? Wie weit waren Sie selbst vielleicht auch beflügelt von dieser Umbruchszeit und von dem Wunsch nach einem politischen Aufbruch?
Gross: Es war ja das ganze Jahr '89 oder '88 ja nicht nur DDR, auch in Polen, Ungarn, Rumänien und so weiter, auch selbst in China, Tian'anmen-Platz, das war eine Zeit der Euphorie für mich und für viele. Das Gefühl, es entsteht eine etwas andere demokratische Bewegung, eine etwas selbstständigere, die Welt wird demokratischer, die Welt wird nicht einfach nur die Kopie des bisherigen Kapitalismus, sondern es gibt vielleicht die Chance, da etwas Humaneres draus zu machen. Es war schon eine Beflügelung, und auch das Interesse, wie geht es dann konkret, wie würde es konkret ausgehen, wenn man nach dem Fall der Mauer das beobachtet?
Aber eben, es war sehr bald zu spüren, dass die Kräfte, die tatsächlich von sich aus etwas Neues aufbauen wollten oder zumindest eine Distanz zu einigen Elementen, sagen wir mal des Kapitalismus, bewahren wollten, dass die zu schwach sind. Das betrifft nicht nur DDR, das betrifft sicher auch Osteuropa. Die ganzen Vorgaben der EU für die Aufnahme in die EU waren ja sehr klare Vorgaben, also wirtschaftsrechtlich, wettbewerbsrechtlich, Investorenschutz und so weiter. Ich denke, die haben eine ähnliche Problematik gehabt wie dann die Menschen in der DDR, nämlich dass das System weitgehend übernommen wurde.
Wobei in anderen Ländern eben nicht die krasse Übernahme stand, dass also Westdeutsche nach Ostdeutschland kamen, sondern diese Länder – Polen, Ungarn und so weiter – doch letztendlich aus eigenem Personal und damit auch vielleicht mit einer größeren Selbstständigkeit die Entwicklung vollzogen haben.
"Lernen, welche Verletzungen es mit sich bringt, wenn ein System übernommen wird"
Kaspar: Wenn Sie heute auf diese Wendezeit zurückschauen, was, meinen Sie, sollten wir genauer sehen, fairer beurteilen, vielleicht auch anders würdigen?
Gross: Was sich auf alle Fälle anzusehen lohnt, ist die Frage: Wie geht es vor sich und mit welchen Risiken ist es behaftet, wenn ein System übernommen wird? Einerseits hab ich den Eindruck, es gab objektiv in der Situation 1989/90 keine Alternative dazu, sozusagen das Westsystem zu übernehmen, dafür war überhaupt keine demokratische Basis vorhanden für einen anderen Weg. Andererseits sollte man lernen und auch genau hingucken, welche Verletzungen und welche Probleme es mit sich bringt, wenn ein System übernommen wird, wie Personen degradiert werden, wie Personen ihr Selbstbild verlieren – das sind eher psychische Fragen –, wie Personen nicht mit ihren Anliegen ankommen, mit dem Anliegen "Wahrheit und Lüge" zum Beispiel.
Da müsste man eigentlich, wenn man solche Systeme übernimmt – das betrifft sicher auch in größerem Maßstab die EU und Verhältnisse zwischen EU-Staaten –, eine ganz andere Art von Sensibilität entwickeln, die man vielleicht erkennen kann, wenn man sich noch mal genau erinnert, wie diese Wende oder diese Übernahme vonstattengegangen ist.
Und das erklärt vielleicht auch einiges von der Befindlichkeit, die man heute – vielleicht fälschlicherweise – immer wieder den Ostdeutschen zuschiebt, das Vorurteil, das man ihnen zuschiebt, eben Fremdenfeindlichkeit, rechtslastig und so weiter, sich abgehängt zu fühlen. Ich habe den Eindruck, dieses Wort "abgehängt zu sein", hat eine gewisse Berechtigung. Und wenn man sich das noch mal anguckt, wie das Jahr gelaufen ist, dann sieht man die ganz kleinen Mechanismen, wie dieses Gefühl entstanden ist.
"Leerstelle in meinem Leben hat sich jetzt geschlossen"
Kaspar: Ihnen war ja völlig klar damals: Wenn ich da jetzt nicht hingehe, dann ist es vorbei. Das sind jetzt wenige Monate oder vielleicht auch zum Teil nur wenige Tage, und dann verflüchtigt sich das, was ich hier erlebe. Sind Sie glücklich, dass Sie die Chance damals erkannt haben?
Gross: Sagen wir mal, jetzt beschäftige ich mich ja erst wieder damit, jetzt finde ich, das war eigentlich eine tolle Zeit in meinem Leben. Aber bis vor, sagen wir mal, einem halben Jahr hätte ich auf die Frage geantwortet, dass das nicht gerade eine verlorene Zeit war, das sicher nicht, weil ich jede Menge persönlich davon gehabt habe, aber dass es irgendwie eine seltsame Leerstelle in meiner Biografie war. Die Leerstelle hat sich jetzt ironischerweise oder glücklicherweise geschlossen.
Kaspar: Es gibt ja einen Moment im Buch, wo Sie schreiben: Ach, womöglich wird sich frühestens in 20 Jahren wieder jemand für all das interessieren, ich sollte wohl gleich mit Konservierungsstoffen schreiben. Meinen Sie, es ist Ihnen auf irgendeine Weise tatsächlich geglückt?
Gross: Also, wenn ich heute dieses Buch lese, ist es so, dass ich an manchen Stellen wirklich mich schäme, weil ich manche Personen sehr hart angegangen bin. Aber manchmal lese ich auch und denke: Ja, so war das! Das ist ja interessant. Jetzt verstehe ich erst, wie die Entwicklung kommen konnte, damals war ich zu nah dran, ah ja. Dieses Ah-ja-Moment, das hab ich jetzt aber auch beim Lesen, und das macht mich schon glücklich.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.