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30. Todestag
Henri Lefebvre – der freigeistige Meta-Philosoph

Henri Lefebvre hatte den Marxismus nach Frankreich gebracht. Doch saß der Philosoph als entschieden undogmatischer Linker - und Sartre-Gegner - zwischen vielen Stühlen. Als Lefbvre am 29. Juni 1991 starb, hinterließ er ein eigenes Denkgebäude, das bis heute vielen Disziplinen Impulse liefert.

Von Christoph Vormweg |
    Der Blick über die Innenstadt von Paris (Frankreich) am 16.08.2015. In der Mitte ist der Eiffelturm zu sehen, rechts im Bild der Invalidendom. Das Foto entstand vom Hochhaus Tour Maine-Montparnasse.
    Das Zentrum von Paris - in seinem Buch "Le droit à la ville" formulierte Lefebvre 1968 ein "Recht auf Stadt" als Recht auf erneuertes urbanes Leben nach einer „Revolution der Städte". Es wurde ein wichtiger Impuls für urbanistische Bewegungen (picture alliance / dpa / Kevin Kurek)
    Streitbar und vielseitig war der undogmatische Philosoph mit den "energischen blauen Augen". Henri Lefebvre konfrontierte die französische Öffentlichkeit als einer der ersten mit den Ideen des Marxismus: Mitte der 1920er Jahre als Mitarbeiter der Zeitschrift "Philosophies". Einengen lassen wollte er sich nie. Davon zeugen seine über 40 Bücher. Sie behandeln nicht nur Philosophen wie Descartes, Nietzsche oder Marx, sondern kreisen auch um Fragen der Ästhetik, der Alltagssoziologie oder des Urbanismus. 1975 sagte Henri Lefebvre auf France Inter in der Kultsendung "Radioscopie":
    "Ich definiere mich als Meta-Philosoph, das heißt, das Denken, die Reflexion, die Meditation gehen über die Philosophie hinaus. Der Meta-Philosoph bedient sich der Philosophie, um auch Probleme der sozialen und politischen Praxis der Gegenwart zu betrachten und zu lösen. Der Meta-Philosoph überschreitet die Spezialisierungen. Er benötigt auch andere Kenntnisse: etwa der Ethnologie, der politischen Ökonomie oder der Soziologie, um einen Blick für das Ganze zu bekommen."

    Die "Grausamkeit des Dogmatismus"

    Eigentlich sollte der 1901 im Südwesten Frankreichs geborene Henri Lefebvre nach dem Wunsch seiner Mutter katholischer Priester werden. Doch sein erster Professor in Aix-en-Provence brachte ihn davon ab, so Lefebvre.
    "Ein Mann, der durch eine religiöse Kindheit geprägt ist, durch diesen Druck, findet da nicht so einfach heraus. Ich bin über theologische Recherchen zur Philosophie gelangt. Und indem ich die Grausamkeit des Dogmatismus erkannt habe, bin ich auf Distanz gegangen. Das war aber gleichzeitig eine unentbehrliche Erfahrung. Denn das Verstehen des religiösen Dogmatismus war für mich wichtig, um den stalinistischen Dogmatismus zu erkennen."

    Auf Konfrontationskurs zu Philosophie-Platzhirsch Sartre

    1940, nach Jahren als Philosophie-Lehrer in der Provinz, folgte der Einmarsch der deutschen Wehrmacht nach Frankreich. Das mit den Nazis kollaborierende Vichy-Regime entließ Lefebvre aus dem Staatsdienst.
    Der Philosoph ging in den inneren Widerstand. Nach der Befreiung Frankreichs machte der 45-Jährige mit einem Paukenschlag auf sich aufmerksam: indem er auf Konfrontationskurs zum Star-Philosophen Jean-Paul Sartre ging. Dessen "Existentialismus" attackierte Lefebvre in einem Buch als untauglich für die Zukunft und verteidigte sein Konzept eines "humanistischen Marxismus".
    Die Schriftsteller Albert Camus (l.) und Jean-Paul Sartre in einer Bildcombo
    Lange Nacht über Jean-Paul Sartre und Albert Camus - Fremd in der Welt und frei im Leben
    Paris in den 1940er-Jahren: Im Schatten der Hakenkreuzfahnen entsteht eine neue Philosophie der Freiheit, des Existenzialismus. Die zentralen Protagonisten Sartre und Camus brechen gemeinsam in die Zukunft auf – und scheiden dann im Streit.
    Gleichzeitig kritisierte er offen den Partei-Kommunismus, was zum endgültigen Bruch mit der KPF führte. Seinen Arbeitsschwerpunkt verlagerte er immer mehr auf die Agrar- und Alltags-Soziologie. Mit 61 Jahren erfolgte die Ernennung zum Soziologie-Professor, erst in Straßburg, dann in Nanterre, der Pariser Vorstadt-Universität, an der Daniel Cohn-Bendit studierte.

    Für ein "Recht auf Verschiedenheit"

    So wurde Henri Lefebvre zu einem der Väter der Pariser Studentenrevolte: in stetem Kampf wider die autoritären Strukturen des veralteten französischen Bildungssystems. Denn, so Lefebvre: "Wir haben nichts Wertvolleres als die Menschenrechte. Das ist der einzige Erfolg aus zwei Jahrhunderten revolutionärer Erschütterungen. […] Und meine Idee ist es, die Menschenrechte zu erweitern: zum Beispiel durch das Recht auf Verschiedenheit, ein reiches Recht, das sich aus dem Leben ergibt, den ganz konkreten Kämpfen und Beziehungen zwischen Ethnien, Rassen, Geschlechtern, Regionen und Nationalitäten."

    Sorge um den "Wackelkandidaten" liberale Demokratie

    Henri Lefebvre: "Das Recht auf Stadt" - Die Feinde der urbanen Gesellschaft
    Henri Lefebvres "Das Recht auf Stadt" von 1968 ist ein Klassiker – der nun endlich auf Deutsch erschienen ist. Den protestierenden und träumenden Pariser Studenten lieferte der Essay die theoretische Grundlage – die auch heute noch von Bedeutung ist.
    Je älter Henri Lefebvre wurde, desto mehr öffnete er sich. Er blieb bis zu seinem Tod am 29. Juni 1991 Marxist im Sinne des frühen Marx. Gleichzeitig wandte er sich als Meta-Philosoph auch den Fragen des Urbanismus zu. In seiner Aversion gegen die neuen "Wohnmaschinen" forderte er eine "Revolution der Städte", ein "Recht auf Stadt".
    Seine Analyse des Raums ging einher mit der Analyse der Machtverhältnisse. Immer zielte Lefebvre auf das Grundsätzliche: so auch in seiner vierbändigen Untersuchung "Über den Staat". Die liberale Demokratie war in seinen Augen dabei immer ein Wackelkandidat, anfällig für vielerlei Krisen. Hier gehörte Henri Lefebvre zu den großen Warnern vor dem Umkippen in autoritäre Regierungsmuster.