Der Tag der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl jährt sich zum 35. Mal. Am 26. April 1986 explodierte der vierte Reaktorblock von Tschernobyl nördlich von Kiew. Das ehemalige Atomkraftwerk liegt auf dem Gebiet der Ukraine, die damals noch Teil der Sowjetunion war. Der Supergau wurde Wirklichkeit - ein Gebiet von 2600 Quadratkilometern zur Sperrzone. Doch der radioaktive Fallout breitete sich viel weiter aus, er zog auch Richtung Westen bis nach Deutschland.
Der Supergau von Tschernobyl galt eigentlich als Wendepunkt. Die Katastrophe führte vor Augen, dass das Risiko der Atomkraft real ist. Dennoch ist die Atomkraft in einigen Ländern auf dem Vormarsch.
Mojib Latif ist Klimaforscher, Hochschullehrer, Präsident der Deutschen Gesellschaft Club of Rome und Atomkraftgegner. Er hat Tschernobyl damals miterlebt und mitverfolgt als junger Wissenschaftler. Die sowjetische Regierung habe damals versucht, die Reaktorkatastrophe "unter der Decke" zu halten, sagte er in den Informationen am Morgen. Doch das sei nicht möglich gewesen. Der Supergau von Tschernobyl habe noch einmal gezeigt, dass Atomkraft nicht beherrschbar ist. Schon davor habe es bereits Atomunfälle gegeben.
"So etwas ist natürlich nicht unter der Decke zu halten"
Dirk Müller: Herr Latif, wie schnell wussten Sie damals um die Dimension dieses Gaus?
Mojib Latif: Das ging so häppchenweise. Zunächst war es so, dass man in den Nachrichten etwas gehört hatte, dass erhöhte Radioaktivität gemessen wurde, aber man wusste noch nicht so genau, wo es denn herkam. Dann verdichteten sich immer mehr die Anzeichen dafür, dass es wirklich so einen Supergau gegeben haben muss. Ich erinnere mich noch: Die sowjetische Regierung ist natürlich sehr, sehr spät erst damit rausgerückt, hat es zunächst versucht, unter der Decke zu halten. Aber so etwas ist natürlich nicht unter der Decke zu halten.
Müller: War das für Sie dann von Anfang an klar, als sich die Nachrichten aus der Sowjetunion dann verdichtet haben, alle gefiltert, alle sehr, sehr spärlich, dass was ganz Verheerendes passiert sein musste?
Latif: Nein, das ging tröpfchenweise. Zunächst kam ja aus der Sowjetunion relativ wenig. Aber die Messungen haben sich natürlich immer weiter verdichtet und am Ende des Tages war es klar, es muss einen Atomunfall gegeben haben. Man kennt ja auch die Windverhältnisse. Auch damals habe ich in einigen Medien schon erklärt, wie die Windverhältnisse gewesen sind. Insofern konnte man auch relativ gut nachverfolgen, wo denn das Unglück passiert sein muss. Ja, das Ganze war tatsächlich zunächst, an den ersten Tagen durch eine unglaubliche Unsicherheit geprägt. Keiner wusste genau, was los ist. Aber nach ein paar Tagen war es klar: Es war der Supergau. Das hat, glaube ich, noch mal gezeigt, Atomkraft ist einfach nicht beherrschbar.
"Jede Technik versagt irgendwann"
Müller: Das sagen Sie damals, das hat es noch einmal gezeigt. Waren Sie schon vorher eindeutig gegen Atomkraft?
Latif: Ja, genau, weil es sind ja auch vor Tschernobyl schon Atomunfälle passiert. Man hat die versucht, ein bisschen unter der Decke zu halten, aber es ist einfach so, dass jede Technik irgendwann versagt, und selbst wenn die Technik nicht versagt, dann versagt der Mensch irgendwann. Wir sind nun mal Menschen, wir machen Fehler, und insofern darf man sich nicht der Illusion hingeben – und das war mir damals auch schon klar -, dass es irgendetwas gibt, was 100 Prozent sicher ist. Deswegen war ich schon vor Tschernobyl gegen solche Art der Energiegewinnung, weil die Risiken sind einfach unendlich groß, wenn etwas passiert. Abgesehen davon – und das war ja damals auch schon klar bei vielen Menschen -, keiner wusste, wo man eigentlich mit dem Atommüll hin soll. Deswegen ist gewissermaßen die Atomkraft das Gegenteil von Nachhaltigkeit.
Müller: Das wird ja auch heute noch diskutiert. Ich nenne noch mal die Stichworte: Sellafield, Harrisburg und Fukushima, immer wieder Beispiele dafür, dass es zumindest äußert problematisch ist, Atomkraft zu beherrschen. Sie haben das gerade aus Ihrer Position ja auch beschrieben. Etwas zugespitzt formuliert: Wir haben Atomkraft in Frankreich, Großbritannien, USA, China, Schweiz. Dort wird sogar ausgebaut, dort wird investiert, dort wird mit Klimaargumenten argumentiert, saubere Energie und so weiter. Wir kennen diese Diskussion seit vielen Jahrzehnten. Warum werden die Konsequenzen "nur" in Deutschland gezogen und selbst die Nachbarstaaten sehen das anders? Haben Sie eine Erklärung dafür?
Latif: Ja, es ist schwierig. Deutschland ist natürlich schon ein besonderes Land, in dem Sinne, dass Umwelt bei uns ziemlich weit oben auf der Agenda ist, auch bei den Bürgerinnen und Bürgern. Umwelt interessiert uns sehr, sehr stark. Ich glaube, ein anderer Punkt ist auch, dass es Deutschland vergleichsweise gut geht. Es geht den Menschen gut. In anderen Ländern geht es den Menschen weniger gut und deswegen ist Umwelt da immer ein bisschen weiter weg. Aber ich glaube, die Rolle Deutschlands muss auch sein zu zeigen, dass es geht. Wir haben ja spätestens nach Fukushima gesehen, dass es geht. Auf einmal hat man ein paar Atomkraftwerke von einem Tag zum anderen abgeschaltet, und nichts ist passiert. Hätten wir das vorher gesagt, dann hätten die Energiekonzerne gesagt, dann geht morgen das Licht aus. Das heißt, da wird auch sehr viel mit Angst argumentiert, und deswegen ist es so wichtig, dass Deutschland aussteigt, auch wenn darum herum die Länder nicht aussteigen, weil das erhöht natürlich den Druck auf die Nachbarländer. Die Menschen sehen ja auch, was in Deutschland passiert und was in Deutschland möglich ist, und wollen das dann auch.
"Das Klima-Problem können wir anders lösen"
Müller: Meine Frage ist, offenbar wissen das nur die Deutschen. Die anderen machen es anders, die meisten anderen, viele andere, entwickelte andere Länder.
Latif: Nein, es sind natürlich nicht nur die Deutschen. Aber es ist immer eine Risikoabwägung. Wir Deutsche haben uns für den Ausstieg entschieden. Andere tun es nicht. Noch mal: Wir können da jetzt nicht einmarschieren und die Leute zwingen, die anderen Länder zwingen, da etwas zu tun in unserem Sinne, sondern wir können es nur vormachen. Und ich bin mir sicher, wenn wir die Energiewende komplett umgesetzt haben – wir sind ja dabei -, dann wird das eine ungeheure Signalwirkung haben in den Rest der Welt.
Müller: Die französische Regierung, die Mehrheit der Franzosen argumentieren ja damit, weil wir für das Klima etwas tun wollen, investieren wir noch mehr in sichere Atomkraftwerke. Das tun andere Länder auch. Ich sage das noch mal: In den USA, China und Großbritannien ist das der Fall. Ist Technik nicht immer auch ein Risiko?
Latif: Ja, natürlich! Das sagte ich ja eingangs schon. Technik ist immer ein Risiko und es ist eine Illusion zu glauben, auch in Frankreich, wo auch immer, dass es dort keine Unfälle geben kann. Und wir haben es ja in Japan gesehen. In einem Hochtechnologieland ist es dann doch zu einem Supergau gekommen und es passieren immer Dinge, die hat man vorher nicht bedacht. In Japan war es der Tsunami. Bei uns kann es irgendetwas anderes sein. Wie man so schön hinterher sagt: Verkettung unglücklicher Umstände, die dann letzten Endes zu dem Supergau führen. Und noch mal: Es wäre Wahnsinn, wenn man jetzt das Klima-Argument hernehmen würde für den Ausbau oder für die Weiterführung der Atomenergie. Das Klima-Problem können wir anders lösen mit den erneuerbaren Energien.
Müller: Das wird ja getan!
Latif: Ja, das wird getan.
"Wir müssen die Energieversorgung vom Kopf auf die Beine stellen"
Müller: CO2-freie Energie.
Latif: Ja, genau. Aber noch mal: Die Risiken sind so groß, so dramatisch – schauen wir nur nach Fukushima heute. Man weiß nicht mehr, wo man mit dem verstrahlten Kühlwasser hin soll, und jetzt hat man beschlossen in Japan, dass es ins Meer gekippt wird. Letzten Endes betrifft uns das alle auch irgendwo und es ist wirklich rational nicht zu verstehen. Es ist der kurzfristige Gewinn, der das langfristige Denken ausschaltet, und das ist ja keine neue Erkenntnis. Das haben ja die Kolleginnen und Kollegen des Club of Rome 1972 mit den Grenzen des Wachstums deutlich gemacht, dass es da solche Szenarien geben kann, wo es dann wirklich ans Eingemachte geht. Das heißt, wo sehr, sehr viele Menschen auch sterben werden.
Müller: Herr Latif, wenn ich da ganz kurz einhaken darf. Das Stichwort saubere Energie. Viele Interessierte werden sicherlich überrascht gewesen sein, dass Fridays for Future unter anderem auch in einigen Papieren für den Ausbau oder für den Einsatz der Atomkraft, der Kernenergie plädiert, um möglichst schnell wirksame Ergebnisse beim Klimaschutz zu erzielen. Für Sie ist das alles Quatsch?
Latif: Ich würde jetzt nicht Quatsch sagen, aber ich denke, das kann nicht der Weg sein. Sie können nicht den Teufel mit dem Beelzebub austreiben. Es gibt ja saubere, sichere Möglichkeiten und ich bin immer der Meinung, man sollte die beste Lösung nehmen, und da darf man einfach keine Kompromisse machen. Wenn ich schon immer dieses Wort Brückentechnologie höre, dann stehen mir die Haare zu Berge. Brückentechnologie heißt letzten Endes, wir wollen gar nichts ändern. Wir müssen aber etwas ändern. Wir müssen die Energieversorgung wirklich vom Kopf auf die Beine stellen. Joe Biden hat es ja auch gerade bei dem Klimagipfel, bei dem Online-Gipfel noch mal deutlich gemacht. Auch er will die US-Wirtschaft umbauen, weg von den konventionellen hin zu den erneuerbaren Energien, und das ist auch ein Zukunftsmodell. Atomkraft ist heute schon so teuer, dass es nur noch durch staatliche Subventionen eigentlich betrieben werden kann.
Müller: Das ist ja sehr umstritten.
Latif: Nein, es ist nicht umstritten. Es gibt da keine Versicherung praktisch, die so ein Atomkraftwerk wirklich noch versichern würde. Es gibt zwar Pläne zum Ausbau, aber ich bin gespannt, ob die wirklich realisiert werden können, weil die Kosten so extrem hoch sind. Atomkraft ist tatsächlich die teuerste Art aller möglichen Energieerzeugungsformen und deswegen ist es eigentlich Schwachsinn – das muss man so deutlich sagen -, weiterhin auf Atomkraft zu setzen.
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