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40.000 Quadratmeter Mittelmeer-Union

Das erste nationale Museum Frankreichs außerhalb Paris ist in Marseille eröffnet worden. Das MUCEM, Museum für Zivilisationen Europas und den Mittelmeerraum, schlägt einen Perspektivwechsel zwischen Orient und Okzident, meint Kathrin Hondl.

Von Kathrin Hondl |
    Dort, wo jeden Tag die großen Fährschiffe nach Korsika und Algerien ausfahren, umspielen die Mittelmeerwellen jetzt auch den Museumsneubau von Rudy Ricciotti: Schlicht und geometrisch streng sieht er von Weitem aus, dieser neue kulturelle Leuchtturm am Eingang zum alten Hafen von Marseille; ein tagsüber dunkel, nachts blau schimmernder Kubus, der sich von Nahem betrachtet dann als sehr viel weniger kantig erweist. Denn Ricciottis verglastes Gebäude ist hinter einem raffinierten Sichtschutz verborgen: Wie ein Spitzenschleier, eine dunkle Mantilla umhüllt ein Netz aus Beton den Bau, sodass die Mittelmeer-Sonne wunderschöne Licht- und Schattenspiele in das neue Museum trägt.

    "Beton,"
    sagt Rudy Ricciotti,

    "Beton ist für mich ein zutiefst menschliches Material, das menschliche Arbeit und Ingenieurskunst in sich trägt. Es ist kein kolonialer Baustoff, sondern ein Material ‚von hier’. Beton ist nicht spekulativ wie zum Beispiel Stahl oder Öl. Alle Länder produzieren Beton, er ist frei zugänglich und deshalb auch frei interpretierbar – und er belastet auch die Umwelt sehr viel weniger als Stahl oder Glas."

    Und die Umwelt – Wind, Sonne, Meer – spürt auch, wer den Weg an der Außenseite des Museums hinaufgeht, zwischen dem Betonschleier und der Glasfassade, um das Dach zu erreichen, von dem dann eine geschwungene Brücke zum Fort St. Jean führt, der alten Hafenfestung, die jetzt ebenfalls von dem neuen "Museum der Kulturen Europas und des Mittelmeerraums" – kurz MUCEM - bespielt wird, einem, um es mit den Worten des Direktors zu sagen "Zivilisations-Museum für das 21. Jahrhundert". Die Betonung auf Innovation kommt nicht von ungefähr. Das MUCEM ist nämlich die neue Version des alten Pariser "Nationalmuseums für Volkskunst und Traditionen", eines französischen Völkerkundemuseums, das mit den Jahren ziemlich angestaubt daherkam.

    Jetzt gehe es darum, den Übergang zu schaffen, sagt der wissenschaftliche Leiter und Sammlungsdirektor Zeev Gourarier:

    "Vom traditionellen ethnologischen Museum auf der Basis des Strukturalismus, mit einer eher statischen Sammlung und Präsentation hin zu dynamischen Gesellschaften, die im historischen Zusammenhang vergleichend untersucht werden."

    Gleich in mehreren Ausstellungen präsentiert das MUCEM zur Eröffnung diese neue Methode. Die Dauerausstellung – genannt "Galerie de la Méditerranée" – untersucht mit einer enormen Vielfalt an Objekten, Kunstwerken und Dokumenten die kulturhistorischen Eigenheiten des Mittelmeerraums, von der Landwirtschaft über die Monotheismen zu Fragen der Bürger- und Menschenrecht und der Bedeutung des Meers und der Ozeane. Ein bisschen wie in einer Wunderkammer sind da Dinge zu sehen wie eine Olivenpresse aus Marokko, kunstvoll gestaltete italienische Weinkaraffen aus dem 17. Jahrhundert, aber auch aus dem Louvre entliehene Venedig-Gemälde des 18. Jahrhunderts, riesige Coronelli-Globen oder – zum Thema Religion – aus dem Jahr 2002 eine Arbeit des algerisch-französischen Künstlers Adel Abdessemed: "Das Beste aus den drei Religionen" - ein schwarzes Büchlein im Format klassischer Hotelbibeln, dessen Seiten alle komplett Schwarz sind.
    Ähnlich wunderkammerhaft funktionieren die Sonderausstellungen. Unter dem Titel "Le Noir et le bleu" geht es da um die Licht- und Schattenseiten der Geschichte des Mittelmeerraums, gleich am Anfang der Ausstellung symbolisiert durch einerseits ein großes blaues Gemälde von Miró und andererseits – die schwarze Seite – einigen Blättern aus Goyas Grafiken-Serie "Die Schrecken des Krieges". Die Schau ist ein kultur- und kunsthistorischer Streifzug, bei dem die Projektionen der Mittelmeertouristen ebenso thematisiert werden wie Napoleons Ägypten-Feldzug oder die koloniale Eroberung Algeriens – und zwar immer aus Sicht beider Seiten, wie Kurator Thierry Fabre betont.

    "Es gibt nicht nur die gewohnte europäische Sicht. Wir schauen auch, wie die Geschichte auf der anderen Seite geschrieben wird. Mit anderen Referenzen, die weniger malerisch sind sondern vielmehr poetisch-literarisch wie die Chronik des Scheichs El-Gabarti, der Napoleons Ägypten-Feldzugaus ägyptischer Perspektive erzählt."

    Die Perspektivwechsel zwischen Orient und Okzident ziehen sich bis zum Ende der Ausstellung durch, wo Videos zu sehen sind von den großen Demonstrationen und Revolten der vergangenen Jahre und Monate – von Tunis über Kairo bis Madrid und Athen, und wo einmal mehr deutlich wird: Die Geschichte des Mittelmeerraums wird jeden Tag neu und bisweilen radikal umgeschrieben. Und während politisch eine Mittelmeerunion ferner denn je ist, scheint sie kulturell mit diesem großartigen neuen Museum plötzlich Wirklichkeit zu werden.