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40 Jahre Contergan-Skandal

Medizin. - Vor genau 40 Jahren erschien in der "Welt am Sonntag" ein folgenreicher Artikel. Er machte das Schlafmittel Contergan, damals das in Europa am dritthäufigsten verkaufte Medikament, für eine nie da gewesene Serie von Fehlbildungen bei Kindern verantwortlich. Doch wie oder warum das Medikament diese Wirkung entfalten konnte, blieb dreißig Jahre lang ein Rätsel. Erst in jüngster Zeit beginnen Wissenschaftler den aktiven Stoff im Contergan, das Thalidomid, zu verstehen.

    Es gibt nur wenige Substanzen, die so vielen Wissenschaftlern so lange Kopfzerbrechen bereitet haben, wie das Thalidomid. Die schädigende Wirkung des Stoffes kommt nur bei Menschen und Affen voll zum Tragen. Es war daher unmöglich, den folgenreichen Mechanismus an trächtigen Ratten oder Mäusen zu studieren. Den entscheidenden Hinweis bekam Diether Neubert, bis vor wenigen Jahren Leiter des Instituts für Embryopharmakologie an der Freien Universität Berlin, denn auch erst, als er sich einer anderen Eigenschaft des Thalidomid zuwandte, die erst nach der Contergan-Katastrophe in Israel entdeckt wurde. "Dort hatte man durch Zufall entdeckt, dass Contergan bei bestimmten Formen der Lepra wirksam ist, nicht gegen die Lepra als solche - es ist ja kein Chemotherapeutikum - sondern gegen die Entzündungsreaktion bei der Lepra."

    Neubert und sein Team untersuchten daraufhin den Einfluss von Thalidomid auf Entzündungsreaktionen im Körper von Affen. Eins war klar: Wenn Thalidomid Entzündungen mildert, dann greift es sehr wahrscheinlich in das System von Botschaften zwischen den Immunzellen ein, die an deren Zelloberflächen eingehen und die Aktionen der Immunzellen bei der Entzündung koordinieren. "Wir haben dann Oberflächenrezeptoren zunächst bei den Blutzellen untersucht, um zu erklären, warum das Mittel entzündungshemmend wirkt", erzählt Neubert. "Und da haben wir herausgefunden, dass eine Reihe von Rezeptoren durch das Thalidomid herunterreguliert werden." Das heißt: Thalidomid sorgt dafür, dass weniger Empfänger für die Entzündungs-Botschaften der Immunzellen vorhanden sind. Auch bei der Anlage von Armen, Beinen oder Ohren in der vierten und fünften Schwangerschaftswoche müssen die Zellen im Körper des Fötus ihre Entwicklung koordinieren. Und dabei scheint Thalidomid den nötigen Informationsaustausch zu stören. Eine Trennung beider Effekte scheint nicht möglich zu sein. Offenbar sind Fehlbildungen bei den heranwachsenden Ungeborenen eine unausweichliche Nebenwirkung des so wirksamen Entzündungshemmers Thalidomid.

    [Quelle: Grit Kienzlen]