Tanya Lieske: Der Konkursbuch Verlag ist ein Kleinstverlag in Tübingen. Hervorgegangen aus einem Salon, der in einer WG stattfand, hinübergerettet in den Verlag hat sich der Küchentisch dieser WG. Und genau dort werden noch Bücher gemacht ganz im Geist der 1970er Jahre: Mit etlichem Engagement, mit Lust am Widerspruch, an heiklen Themen und auch das sei gesagt – mit sehr wenig Geld. Es reicht gerade zum Leben, das hat mit die Verlegerin Claudia Gehrke vor der Sendung zugesichert. Als erstes habe ich sie gefragt, warum ihr Verlag den 'Konkursbuch' heißt?
Claudia Gehrke: Wir haben sozusagen aus der Konkursmasse der Studentenbewegung geschöpft und an das "Kursbuch" angeknüpft. Ich sage es für mich heute immer, es heißt "concurrere", "Zusammenlaufen", und bei uns laufen Dinge zusammen, die man oft nicht zusammen vermutet, und gehen ineinander über, also Politik, Alltag, Leben, Sexualität und so weiter.
Lieske: Mit dem "Kursbuch" war natürlich Hans-Magnus Enzensbergers Unternehmen gemeint. Sehen Sie sich als eine Art Gegenöffentlichkeit zur Gegenöffentlichkeit von damals?
Gehrke: Vielleicht am Anfang. Aber so ein Verlag hat ja seine eigene Geschichte, der wächst wie ein Baum, verzweigt sich, wie man es vorher vielleicht nicht geahnt hat, obwohl die Wurzeln noch vorhanden sind. Und wir haben es nicht – es ging aus einem Salon hervor – so bewusst als Gegen-Gegenöffentlichkeit gestartet, sondern einfach aus intensivem Diskutieren und Lust an Themen.
Bücher, die im Kopf geschrieben werden
Lieske: Ein Verlag wächst und verzweigt sich. Ihre heutige Mischung besteht aus Literatur, und damit ist ausdrücklich auch Avantgarde-Literatur gemeint, aus Krimis, also aus eher leichter, unterhaltender Lektüre, aus erotischen Bildbändern, aus Reisebüchern, viele dazu mit einem Bezug zu Japan. Erklären Sie mir Ihr Konzept, Claudia Gehrke.
Gehrke: Krimis und schwierige Literatur unterscheiden sich nicht durch leicht und weniger leicht. Krimis sind ja auch tolle Romane, in denen Lebensthemen sehr nahe am Alltag – das ist in unserem Krimi zum Beispiel von Regina Nössler wichtig – behandelt werden und nicht irgendwelche abstrusen, blutigen Monsterwelten. Also, es geht schon ineinander über, auch jetzt die Themen, und Japan hat eine Bedeutung hauptsächlich durch eine Autorin. Ja, und Yoko Tawada und ihre Art, die Welt zu sehen, hat meinen Verlag natürlich sehr beeinflusst. Die imaginären Bücher, die sie in ihrem Kopf geschrieben hat, die kommen heute sozusagen auf Papier vor.
Und bei den Thrillern von Regina Nössler, die hat mir in ihrem ersten Brief Anfang der 90er geschrieben – es ging damals noch um einen erotischen Roman, denn es war ein Thema des Verlags, und viele haben ihre ersten Romane zum Thema Erotik geschrieben –, die schrieb, dass sie in ihrer Literatur auch den dunklen und lächerlichen Seiten der Erotik und des Lebens überhaupt nachgehen möchte und einen Weg finden zwischen unglaubwürdigen Aneinanderreihungen störungsfreier Lust und verkrampftem, schleimigem Ekel. Also, Sexualität und Liebe gehören ja zum Leben, können immer an Albträumen auch rühren. Insofern gehen die Themen, die wir jetzt so als Schubladen nebeneinander im Verlag haben, durchaus immerzu ineinander über.
Das heimliche Auge: Erotische Bücher für Lesben und Schwule
Lieske: Bleiben wir mal bei den Erotika. Begonnen hat es 1982 mit einem Jahrbuch, "Mein heimliches Auge" hieß es. Und das ist so etwas geworden wie der Dauerseller Ihres Verlags. Das hat sich inzwischen auch ausdifferenziert, erotische Literatur gibt es für Lesben und für Schwule, für Queer und Transgender. Waren Sie in der Hinsicht, Frau Gehrke, der Zeit voraus?
Gehrke: Ja, das glaube ich schon, dass wir immer etwas zeitversetzt sind. Dinge, die also später in den Medien als Wellen oder kürzlich im "Spiegel" erwähnt wurden, wie die Klitoris zum Beispiel als Organ geformt ist, das kam natürlich schon in den ersten "Heimlichen Augen" vor und wurde beschrieben und aufgeklärt in Anführungszeichen. Es dokumentiert ein bisschen Zeitgeschichte, aber es dokumentiert auch das Zeitlose von allem rund ums Liebesleben und Sexualität. Und so ist es natürlich der Fall, dass immer Dinge früher vorkommen. 1989 in "Mein heimliches Auge" Nummer vier hatten wir Menschen drin, die intersexuell sind. Und das tauchte jetzt in den letzten Jahren eigentlich erst auf. Also es geht auch in den erotischen Jahrbüchern um das Überschreiten der Schubladen, und es macht immer noch Spaß, Bücher zu bauen und diese erotischen Jahrbücher zusammenzustellen. Ich sitze ja gerade dabei.
Lieske: Ihre Jahresproduktion fertig zu machen, oder den Herbst fertigzustellen.
Gehrke: Ja, den Herbst, genau.
Vorwurf der Pornografie abgewehrt
Lieske: Überschreiten von Schubladen ist natürlich auch Überschreiten von Grenzen. Und da, wo Erotika publiziert werden, kann es sein, dass man nicht immer den Nerv der Öffentlichkeit trifft. Der Vorwurf der Pornografie liegt manchmal nahe, und so ist es auch Ihnen ergangen. 1999 gab es einen Prozess. Wer hat prozessiert, und was wurde Ihrem Verlag Konkursbuch denn vorgeworfen?
Gehrke: Es gab verschiedene Linien. Es ging um die Jugendgefährdung, da waren wir erst bei der Bundesprüfstelle. Die haben jahrelang über "Das heimliche Auge" diskutiert und laut der damaligen Leiterin auch ein bisschen ihre Kriterien damit verändert. Man konnte nicht mehr einfach die scharfen Bilder zählen, obwohl es ja heute wieder schwieriger geworden ist, also zu zählen, wie viele Geschlechter eventuell zu deutlich erkennbar sind, sondern das Ganze in den Blick nehmen. Und das Ganze ist eine Collage, wo auch Deutliches drin ist, und wenn Sie das aufkleben und an die Wand hängen, ist es Kunst. Und so wurde es damals auch, aber nach einigen Jahren erst, die mich und uns alle viel Kraft gekostet haben, so wurde es damals auch definiert. Und dann gab es noch einen gerichtlichen Prozess, der von irgendwelchen Privatanklägern initiiert wurde, wo dann Staatsanwälte eben auch wieder die Geschlechter gezählt haben, die man da findet. Und dieser Prozess hat sich dann bis 2003 hingezogen und ist auch – dreimal auf Holz klopfen, ich will es gar nicht so beschreien – damals gewonnen worden.
Ein Verlag für Autorinnen
Lieske: Ja, denn der Konkurs kann natürlich auch einem Verlag, der ihn im Titel trägt, lauern. Ein Großteil der Bücher, die bei Ihnen gemacht werden, stammen von Frauen. Wie kommt das denn zustande? Ich glaube, es sind sogar 80 Prozent.
Gehrke: Ja, ungefähr. Private Leselust, denn natürlich ist die Person der Verlegerin und das, was sie gern liest, im Hintergrund, und mir sind einfach mehr Autorinnen begegnet. Ich nehme ja immer wieder mal neue dazu. Es wird weniger, weil ich den Autorinnen auch treu bin und natürlich die Arbeitskraft begrenzt ist. Und ich bin dann eher auf weibliche Autoren gestoßen, und am Anfang, was "Das heimliche Auge" betrifft, war es natürlich auch ein politisches Konzept. Wir wollten in den frühen 80ern Frauen animieren, sich eigene Bilder von Sexualität zu machen, was sie ja bis zur heutigen Flut sogenannter erotischer Romane dann auch intensiv getan haben.
Yoko Tawada, der Star des Unternehmens
Lieske: Yoko Tawada, Sie haben den Namen erwähnt, die deutsch-japanische Autorin ist sicherlich ein Star Ihres Verlags, Trägerin der Goethe-Medaille, des Kleist-Preises, des Chamisso-Preises. Sie hatte die Tübinger Poetendozentur inne. Sie ist Ihnen von Anfang treu geblieben. Womit hängt das zusammen?
Gehrke: Mit unserer gemeinsamen, geteilten Lust, wie Bücher entstehen. Ich weiß, dass sie am Anfang zu mir kam mit einem kleinen selbstgebastelten Buch, das man von hinten und von vorn lesen konnte. Und wir haben quasi das Buch dann ihren imaginären Büchern nachgebaut. Und, wie heißen die Bücher? "Lieferbar". Sie schreibt ja viele, manche auch schmale Bücher, und sie hätte natürlich schon längst woanders sein können. Und ich freue mich auch, dass ich jetzt in diesem Herbst seit Jahren mal wieder eine Übersetzung mache. Denn sie schreibt ja auch in Japan. Sie hat erst in Deutschland angefangen, dann etwas später auf Deutsch geschrieben, und dann in Japan ist sie auch sehr bekannt geworden. Wir sind sozusagen zwei Linien.
666 handsignierte Jahresbücher zum Geburtstag
Lieske: Zum 40. Geburtstag Ihres Verlags gibt es wieder ein Jahresbuch, es heißt "Über Bücher", erschienen in einer Auflage von 666 Stück, von Ihnen, Frau Gehrke, handsigniert. Sie haben Freunde und Autoren des Verlags gebeten, etwas beizutragen, und mir ist aufgefallen, man findet natürlich viel Lobreiches über das Buch, aber durchaus auch Stimmen, die von der Last und der Mühe des Lebens mit Büchern und auch des Lesens sprechen. Warum so viel Ehrlichkeit?
Gehrke: Das finde ich wichtig bei jedem Thema, dass es nicht einfach kitschig lobhudelt – das Buch ist sozusagen göttlich und unangreifbar – das ist es ja nicht. Es belastet auch, aber es macht eben auch sehr, sehr viel Freude, und ich glaube, das springt aus dem Bücherbuch. Ich muss sagen, es gibt zu meiner Freude inzwischen schon eine zweite Auflage, übrigens wieder von 666. Die erste signierte war dann doch schon schnell vergriffen, was mich auch sehr freut. Denn, wie das bei Büchern so ist, in der zweiten Auflage ist noch ein Text hinzugekommen, den wir vergessen haben, ein paar Fehler korrigiert, aber es sind immer noch Fehler übrig, das weiß man ja bei Büchern, irgendwas schleicht sich immer ein, und wir hoffen vielleicht mal auf eine dritte Auflage von 666. Da werden wir dann beschreiben, wie sich das Buch verändert hat. Und es sind wirklich sehr viele sehr unterschiedliche Texte drin. Mir gefallen auch die Texte, die über das Büchermachen berichten, von einer Auslieferung, die seit den 70er-Jahren erzählt, wie Bücher verkauft werden, was sich da geändert hat, oder von einer Druckerei. Da hat sich in der Zeit ja auch sehr viel geändert. Das machte mir genauso Spaß sozusagen, über das Arbeiten mit Büchern zu lesen. Ja, alle möglichen Aspekte.
40 Jahre - wo bleibt die Midlife Crisis?
Lieske: Mit 40 droht im realen Leben ja manchmal die Midlife Crisis. In der großen Buchbranche wird öffentlich durchaus ein Katzenjammer gepflegt. Zur bevorstehenden Buchmesse haben zwei große Verlagshäuser ihre traditionellen Verlagspartys abgesagt. Wie optimistisch sind Sie denn, wenn es um die Zukunft des Mediums Buch geht?
Gehrke: Ich bin natürlich optimistisch, was meine Lebenszeit betrifft. Ich kann jetzt nicht – und die ich ja auch nicht kenne –, ich kann jetzt nicht vorhersagen, was in hundert Jahren sein wird. Ich glaube aber, dass das Objekt aus Papier mit seinen Blätterüberraschungen und auch das digitale Objekt, was ja andere Qualitäten haben mag, dass das schon weiter wichtig sein wird. Aber die Leute haben natürlich viel mehr auch heute schon, das sieht man, viel mehr anderes, was sie tun können, als lesen und Filme im Kino sehen. Das ist die Entwicklung des Internets und so weiter und so fort. Aber die Zukunft wird sein, dass immer noch gelesen wird, denn das ist auch in dem Bücherbuch spürbar, also in Texten von Autorinnen, die über ihre ersten Leseerfahrungen berichten und wie sie Bücher lieben gelernt haben oder mit ihnen leben oder über ihre Verhältnisse mit Büchern leben. Weil es ist schon ein einmaliges Erlebnis, sich in einen Roman zu begeben. Und ich glaube, dass das nicht ganz sterben wird oder ersetzt wird durch andere Erfahrungen.
Lieske: Claudia Gehrke, die gute Bücherfee, steht vor Ihnen. Sie haben nicht drei, sondern nur einen Geburtstagswunsch für Ihren Verlag, das Konkursbuch. Wie lautet der?
Gehrke: Ich freue mich, wenn das Bücher-Konkursbuch und die Thriller von Regina Nössler und die Bücher von Yoko Tawada viele Leser finden, auch weiterhin.
Konkursbuch 55: über Bücher
Herausgegeben von Claudia Gehrke und Florian Rogge
Konkursbuch Verlag, Tübingen. 350 Seiten, 16,80 Euro.
Herausgegeben von Claudia Gehrke und Florian Rogge
Konkursbuch Verlag, Tübingen. 350 Seiten, 16,80 Euro.
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