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40 Jahre nach dem Genozid
Aufarbeitung des Völkermords der Roten Khmer in Kambodscha

Sie inhaftierten und folterten ihre Landsleute. Dreißig Prozent der Bevölkerung wurden ermordet. Die Schreckensherrschaft der Roten Khmer in Kambodscha spaltet noch 40 Jahre nach dem Genozid die Gesellschaft in Opfer und Täter.

Von Michael Stang |
    Schädel und Gebeine in der Gedächtnis-Stupa für die ermordeten Häftlinge durch die kommunistischen bzw. maoistischen Roten Khmer in Choeung Ek, Killing Fields, Phnom Penh, Kambodscha, Asien iblolf03868418.jpg Skull and Bones in the Memory Stupa for the Murdered Prisoners through the communist or Maoist Red Khmer in Choeung EK Killing Fields Phnom Penh Cambodia Asia iblolf03868418 JPG
    Schädel und Gebeine in der Gedächtnis Stupa für die ermordeten Häftlinge durch die Roten Khmer in Phnom Penh (imago stock&people)
    1975 begann Pol Pots Tyrannei in Kambodscha. Der Diktator schottete sein Land ab und wollte mit seinem Steinzeitkommunismus als Führer der Roten Khmer ein neues Land erschaffen. Seine Schergen waren in weniger als vier Jahren für den Tod von rund zwei Millionen Menschen verantwortlich. Michael Stang ist nach Kambodscha gefahren und hat recherchiert, wie Gesellschaft, Politik und Wissenschaft den Völkermord heute aufarbeiten.

    Am 17. April 1975 marschieren die Roten Khmer in die kambodschanische Hauptstadt Phnom Penh ein. Ihr Sieg über den Diktator Lon Nol markiert den Beginn von Pol Potts Macht. Seine kommunistische Schreckensherrschaft währte keine vier Jahre. Doch reichte diese Zeit, um 30 Prozent der Bevölkerung zu töten.
    "Innerhalb von drei Jahren, acht Monaten und 20 Tagen starben zwischen 1,7 und 2,2 Millionen Kambodschaner durch das Regime der Roten Khmer. Ihre Landsleute kamen durch Folter, Zwangsarbeit, Hunger, Unterlassen medizinischer Hilfe und durch massenhaftes Töten und andere unmenschlicher Handlungen grausam ums Leben."
    Ziel des Demokratischen Kampucheas, so die offizielle Bezeichnung Kambodschas zwischen 1975 und 1979, war die Errichtung eines Bauernstaates. Um dieses Ziel zu erreichen, töteten die Roten Khmer nicht nur Intellektuelle als Feinde des Volkes, sondern auch Journalisten, Menschen mit Fremdsprachenkenntnissen, Brillenträger und jeden, der als ausländischer Agent bezeichnet wurde, darunter später auch viele Rote Khmer.
    "In Kambodscha hat jede Familie mindestens ein Mitglied durch den Genozid verloren. Jeder hat also in irgendeiner Weise unter den Verbrechen des Regimes des Demokratischen Kamputscheas gelitten."
    Der Völkermord in Kambodscha wird in der Literatur häufig als Auto-Genozid bezeichnet. Dr. Daniel Bultmann von der Humboldt Universität Berlin tut sich schwer mit dem Begriff. Der Soziologe forscht seit rund zehn Jahren an diesem Thema. Kürzlich hat er dazu das Buch "Kambodscha unter den Roten Khmer" veröffentlicht. Für ihn ist der Terminus ungelenk. Denn die Roten Khmer töteten nicht nur die Vertreter einer bestimmten Ethnie oder Religion.
    "Letztlich ist es ja so, dass alle Begriffe in Kambodscha, glaube ich, zu kurz greifen; also alle, die versuchen, sozusagen eine Opfergruppe als Hauptmerkmal der Gewalt herauszustellen und letztlich glaube ich, dass sie sozusagen den Kern verpassen, was den Schrecken eigentlich unter den Roten Khmer ausmacht. Aber der Eingriff in die Gesellschaft war wesentlich tiefer und allumfassender und komplexer und für mich stellt sich die Frage, wie man das erfassen soll."
    Daher verwendet Daniel Bultmann den Begriff Genozid, aber nicht im juristischen Sinn, sondern eher aus der Sicht der Soziologie. Denn bei den Roten Khmer handelte es sich nicht um die Vernichtung einer bestimmten Gemeinschaft, sondern um die Vernichtung von Gemeinschaft an und für sich zugunsten einer rassischen oder sozialistischen Utopie eines Bauernstaates. "Um eine neue Gesellschaft errichten zu können, müssen neue Menschen erschaffen werden." So der Slogan der Roten Khmer. Doch nicht alle Kambodschaner galten als umerziehbar.
    Zentral in Phnom Penh, in der 103. Straße, befinden sich die vier Gebäude eines ehemaligen Gymnasiums. Nachdem die Roten Khmer die Hauptstadt 1975 erobert hatten, funktionierten sie die Anlage in ein Gefängnis um: Tuol-Sleng oder kurz: S-21.
    Eine Schule wurde zum Foltergefängnis umfunktioniert
    Heute kommen Menschen aus aller Welt hierher - in das Tuol-Sleng-Genozid-Museum. Obwohl sich hunderte Besucher die Gänge entlang, durch die Folterräume und Zellen drängen, ist es sehr leise. Die meisten nutzen einen Audioguide. Diesen gibt es in vielen Sprachen, auch auf Deutsch. Die Führung beginnt mit einem historischen Abriss.
    "Die Weltbevölkerung ahnte nichts von dem, was in diesem Land geschah. Die Grenzen zu Thailand und Vietnam waren vermint und nur Diplomaten war die Ein- und Ausreise gestattet."
    Tuol-Sleng war das geheime Zentrum eines Netzwerkes von rund 200 Gefängnissen. Die Roten Khmer inhaftierten hier zwischen 12.000 und 20.000 Menschen. Nur zwölf von ihnen überlebten nachweislich. Die Wärter fotografierten und verhörten die Neuankömmlinge und dokumentierten alles penibel. Meist bezichtigten sie die Gefangenen der Spionage, die unter Folter etwa gestanden, für den US-amerikanischen Geheimdienst CIA zu arbeiten. Nach dem Geständnis folgte das Todesurteil. Die Roten Khmer exekutierten bald nicht mehr im Gefängnis, dazu war der Platz zu knapp. Sie verfrachteten die Häftlinge in Lastwagen und brachten zu den sogenannten Killing Fields.
    Rund 17 Kilometer südlich von Phnom Penh liegt Choeung Ek, die bekannteste der Killing Fields genannten Hinrichtungsstätten. Auch hier herrscht eine unheimliche Stille.
    Lautsprecher übertönten die Schreie der Gefangenen
    Die Roten Khmer brachten die Verurteilten zunächst in Baracken und richteten sie binnen kurzer Zeit hin.
    "1980 wurden 86 der 129 Gräber geöffnet und fast 9.000 Opfer ausgegraben. Ihre Knochen, die immer noch mit verwesendem Fleisch bedeckt waren, mussten getrocknet und gesäubert werden, bevor sie zwecks Untersuchung und pietätvoller Ausstellung abtransportiert werden konnten."
    Bis 1979 starben hier rund 17.000 Menschen. Um Munition zu sparen, erschossen die Roten Khmer die Todgeweihten nicht, sondern zwangen sie, sich an die Ränder zu knien, wo sie sie mit Eisenstangen oder Äxten brutal erschlugen und danach in die Gruben stießen.
    "Von hier aus können sie zahlreiche Mulden im Boden erkennen, sie markieren die Gruben der Massengräber. Jetzt sind sie leer. Zeit und Wetter haben den Untergrund verlagert. Einige der Gruben sind heute lediglich seichte Mulden im Boden. Einst waren sie bis zu fünf Meter tief."
    Die Erzählungen sind stellenweise kaum zu ertragen. Am schwersten wird es an Station 15. Dort steht ein großer Baum. Hier wurden Kinder mit ihren Köpfen so lange gegen den Stamm geschleudert, bis sie tot waren.
    Zurück in der Hauptstadt Phnom Penh. Neth Pheaktra führt durch die Räume der "Außerordentlichen Kammern an den Gerichten von Kambodscha."
    "Das ist der Gerichtssaal. In diesem Tribunal werden die Anführer des Demokratischen Kamputscheas für ihre Verbrechen während der Herrschaft der Roten Khmer angeklagt. Außerhalb gibt es einen Bereich für die Öffentlichkeit, damit auch die lokale Bevölkerung bei den Anhörungen dabei sein kann."
    Es handelt sich um einen hybriden Strafgerichtshof nach Vorbild des Internationalen Strafgerichtshofes für das ehemalige Jugoslawien. Beim Roten-Khmer-Tribunal verhandeln kambodschanische Richter zusammen mit internationalen Kollegen der Vereinten Nationen. Pressesprecher Neth Pheaktra.
    "Seit 2009 tagt der Strafgerichtshof. Mehr als eine halbe Million Menschen waren bei den Verhandlungen anwesend. Wir organisieren auch Fahrten für die lokale Bevölkerung. Die eine Hälfte der Zuschauer sind Opfer und Täter, die andere wurde erst nach dem Regime der Roten Khmer geboren."
    Das erste Verfahren war der Prozess gegen Kaing Guek Eav alias Duch. Dieser wurde für schuldig befunden, an der Tötung von mindestens 14.000 Menschen beteiligt gewesen zu sein. 2010 erging das erste Urteil - 35 Jahre Haft. 2012 wurde das Strafmaß auf lebenslänglich erhöht.
    "Es geht um Gerechtigkeit, Gerechtigkeit für die Opfer und darum, die Wahrheit zu herauszufinden und zu klären, was damals genau passiert ist."
    Das zweite Verfahren war der Prozess gegen vier weitere Angeklagte, zwei von ihnen starben während der Verhandlungen. 2014 verkündete das Tribunal das Urteil gegen die beiden anderen.
    Das Rote-Khmer-Tribunal soll Gerechtigkeit bringen
    Der damals 88-jährige ehemalige Chefideologe Nuon Chea und der 83-jährige Khieu Samphan wurden wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu lebenslanger Haft verurteilt.
    "Ich bin sehr glücklich zu sehen, was hier passiert. Ich, als Bürger. Ich habe meine Großeltern durch das Regime verloren und meine Eltern wurden zwangsverheiratet. Meine Kollegen und ich hier am Gericht arbeiten natürlich professionell, aber innerlich sind wir ja auch Kambodschaner und das kann man nicht ganz ausblenden. Wir hier sind auch Opfer des Roten Khmer Regimes."
    Derzeit laufen die beiden vorerst letzten Verfahren. Weitere Verurteilungen seien schwierig, so Neth Pheaktra. Die Zeit drängt. Die Täter werden immer älter. Ein vorläufiges Ende des Tribunals ist absehbar.
    "So we expect at the end of 2019 or 2020."
    Das Tribunal ist aber nur ein Teil der Aufarbeitung des Völkermords der Roten Khmer.
    "Ich war 13, ein Junge. Wie jeder litt ich unter den Roten Khmer. Ich musste mit anschauen wie sie meine Schwestern und andere töteten. Ich wurde auch verhaftet - für das Verbrechen, ein paar Pilze von einem Reisfeld gestohlen zu haben."
    Youk Chhangs Geschichte kennen viele Menschen. Der Direktor des Kambodschanischen Dokumentationszentrums hat damals nur mit Glück überlebt. Seine Lebensaufgabe ist die Aufarbeitung der kommunistischen Schreckensherrschaft der Roten Khmer. Seit vielen Jahren arbeitet er an einem Gedächtnis des Landes, als Archivar, Wissenschaftler, Journalist und Filmemacher.
    "Wir haben landesweit über 20.000 Massengräber dokumentiert. Massengräber heißt Gräber, in denen teils mehr als eintausend Tote lagen. Wir haben 179 Gefängnisse dokumentiert. Wir haben auch die Stupas untersucht, weil viele Kambodschaner auf der Suche nach Verwandten die Gräber nach persönlichen Gegenständen durchwühlt haben. Da sie nicht wussten, was sie mit den Schädeln machen sollten, haben sie sie zu den Stupas gebracht."
    Der Stupa von Choeung Ek, ein im Buddhismus typischer Reliquienbehälter, ist ein Gebäude, in dem mehr als 5.000 Totenschädel liegen.
    Die Regierung Kambodschas genehmigt keine Exhumierungen mehr
    Nur in den 1980er-Jahren gab es gerichtsmedizinische Untersuchungen an den menschlichen Überresten. Auch wenn viele Massengräber nicht geöffnet und viele Opfer noch nicht exhumiert sind, hat sich die Regierung entschlossen, es dabei zu belassen.
    "Die Regierung hatte in letzter Zeit keine Ausgrabungen mehr genehmigt. Zum einen, weil viele Menschen direkt zu den Gräbern gegangen sind, um nach persönlichen Gegenständen zu suchen, zum anderen sind viele Täter zurückgekehrt, um Wertsachen wie Gold zu suchen. Die Armut hat sie zurückgetrieben und sie fingen an nach den Dingen zu graben, die sie bei den Exekutionen damals dort versteckt hatten."
    Interesse, die Toten zu bergen und würdevoll zu bestatten, gebe es nicht. Um aber die Namen der Toten und ihre Geschichten nicht zu vergessen, arbeiten Youk Chhang und sein Team an einer Datenbank.
    "Wir haben bereits eine Million Namen zusammengetragen und wollen jetzt ein Buch der Erinnerung veröffentlichen. Es geht um Daten wie Name, Alter, Geschlecht, Beruf, Todesursache und dergleichen. Wir wollen das alles in lokalen Medien veröffentlichen und hoffen, dass die Bevölkerung uns bei der Identifizierung hilft. Wir haben nur 100.000 Fotos dieser Menschen, es gibt aber mehr als 1,7 Millionen Opfer."
    Fast 40 Jahre sind seit dem Genozid vergangen, der sich gegen das eigene Volk gerichtet hat. Der Forschungsbedarf ist weiter groß. Das betrifft Projekte, die sich nur auf Kambodscha beziehen, aber auch jene, die den Unterschied zu anderen Genoziden untersuchen. So fördert die Deutsche Forschungsgemeinschaft seit 2014 ein Projekt zum Thema "Ungleiche Opfer. Anerkennungsprozesse nach genozidaler Massengewalt. Deutschland, Ruanda und Kambodscha im Vergleich". 2018 begann ein weiteres DFG-Projekt zum Thema "Folter und Körperwissen", an dem auch Soziologe Daniel Bultmann beteiligt ist. Wichtig seien auch weiterhin Forschungen zum Umgang der kambodschanischen Gesellschaft mit diesem Teil ihrer Geschichte.
    "Also, erstmal gibt es unter den Kambodschanern so eine Art von allen geteiltes Narrativ, also sobald man angesprochen wird, kommen also alle eigentlich mit den gleichen Antworten. Man hat das Gefühl, eine sehr uniforme Erfahrung gespiegelt zu bekommen von allen und das macht mich persönlich auch immer stutzig, weil dieses narrativ klingt dann oft auch nach dem offiziellen Narrativ."
    Viele Menschen kennen die Zeit nur aus Erzählungen ihrer Eltern, wenn überhaupt.
    "Verschwörungstheorien wie es dazu kommen konnte, was da passiert ist unter den Roten Khmer und die florieren auch aufgrund fehlender Bildung und fehlender Diskurse innerhalb der Familie. Viele sagen, dass ihr Eltern nie darüber geredet haben. Und da dieses Ereignis traumatisiert und schrecklich war, greifen viele sozusagen zu einfachen Erklärungen und vor allem beliebt ist die Erklärung, dass es eigentlich alles gar nicht die Kambodschaner waren, die das gemacht haben, sondern in Wirklichkeit waren es die Vietnamesen."
    Der Genozid ist heute Unterrichtsstoff an vielen Schulen
    Dieser Gefahr könne man nur mit Forschung und Aufklärung entgegenwirken. Mittlerweile seien die Taten der Roten Khmer Unterrichtsstoff an vielen Schulen. Dafür setze er sich täglich ein, so Youk Chhang.
    "Ich gebe Kurse, ich trainiere Lehrer. Wir haben mit 1.700 Schulen zusammengearbeitet und landesweit mit allen Einrichtungen, die Lehrer ausbilden. Das ist ein riesiges Programm. Die Bildungseinrichtung hier gegenüber besuchen täglich rund 3.000 Lehrer. Wir schulen sie, wie sie über den Genozid berichten – das alles gehört zum offiziellen Ausbildungsplan."
    Sein großes Ziel hat Youk Chhang noch nicht erreicht. Es geht um den Bau des Sleuk Rith Instituts in Phnom Penh. Der Entwurf der mittlerweile verstorbenen Architektin Zaha Hadid ist fertig. Doch die Finanzierung und alle behördlichen Genehmigungen zu bekommen, das alles sei nicht einfach. Fest steht nur: Das neue Gebäude soll drei Dinge erreichen: die Erinnerung wach halten, für Gerechtigkeit sorgen und Wunden heilen.
    "Das neue Gebäude ist nicht bloß ein Museum, es ist auch eine Bildungsstätte, eine Universität, es gibt eine Halle für zeitgenössische Kunst, dort wird geforscht werden, es gibt ein Archiv. Und die ganze Welt wird damit einen Ort haben, der ein Zeichen dafür ist, dass es in Asien nie mehr zu einem Völkermord kommt."