Michael Köhler: Vor wenigen Tagen hat ein denkwürdiges Treffen stattgefunden. Im mazedonischen Skopje traf Jörg Schleyer auf Silke Maier-Witt. Der jüngste Sohn des ermordeten Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer traf mit jener Frau zusammen, die die Nachricht vom Tod des Vaters den Agenturen am 18. Oktober 1977 mitgeteilt hatte. Die Terroristin aus der zweiten Reihe, die 1980 in die DDR abgetaucht war, für die Stasi arbeitete und 1991 nach ihrer Enttarnung eine Haftstrafe verbüßte, hat sich bei Schleyers Sohn entschuldigt. Beobachter sprechen von Reue und Distanzierung Maier-Witts von der RAF, von den Anführern Baader, Ensslin, Raspe schon seit vielen Jahren.
Einer der besten Kenner der Geschichte des Deutschen Herbstes ist der Hamburger Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar. In diesem Jahr erschien sein Buch "Die blinden Flecken der RAF". Ihn habe ich gefragt: Der RAF-Mythos lebt wesentlich vom Schweigen − Sie sprechen in Ihrem Buch vom "Schweigekartell" sogar. Wird dieser Mythos, das Kartell, durch Sprechen und Entschuldigen jetzt entmystifiziert oder fehlt da noch was?
Wolfgang Kraushaar: Ja. Ich glaube, jedes glaubwürdige Gespräch von Ehemaligen trägt zur Entmystifizierung der RAF bei, und zwar insbesondere dann, wenn es mit den Angehörigen eines RAF-Opfers in Gang kommt. Zugleich ist das ja auch immer ein Versuch, das erwähnte Schweigekartell zu durchbrechen, und mir scheint das bei Frau Maier-Witt deshalb auch so gewichtig zu sein, weil sie ja − wenn man dem, was darüber bekannt geworden ist, auch wirklich trauen kann − ihr damaliges Mittäterinnenwissen preisgegeben hat. Jedenfalls wurde das von Jörg Schleyer, also von der anderen Seite gewissermaßen, so kommentiert.
Köhler: Es ist ja nicht so, dass diese 40 Jahre RAF-Geschichte in Deutschland irgendwie an uns spurlos vorübergegangen seien. Wir befassen uns ja laufend damit. Man könnte ja sogar so weit gehen und sagen, man kann verschiedene Phasen der Historisierung unterscheiden. Es gibt Filme, Dokumentationen, es gibt Gemälde, es gibt Bücher, Sie selber haben einige verfasst, und nun also Entschuldigungen. Sind wir in so einer Phase der Historisierung?
Kraushaar: Da würde ich doch sehr um Unterscheidung beziehungsweise Differenzierung bitten wollen. Denn der Akt, den Sohn eines Mordopfers um Verzeihung zu bitten, stellt in meinen Augen etwas völlig anderes dar als das, was mit einer Historisierung − und bei Filmen, Theaterstücken und Gemälden etwa würde ich eher noch von einer Kulturalisierung sprechen wollen − gemeint ist. Das, was von Frau Maier-Witt in diesem Moment ausgegangen ist, hat viel mehr Gewicht, weil dahinter ja eine ganze Person steht, die sich zu ihrer Verantwortung und Schuld nicht nur bekennt, sondern diese auch noch, was in gewisser Weise die besondere Tragweite und Schwierigkeit ausmacht, an einen Angehörigen adressiert. Das hat eine moralische Dimension, um die es weder im dokumentarischen noch im fiktiven Bereich unmittelbar gehen kann.
Köhler: Das heißt, Sie nehmen das sehr ernst und halten das nicht für kalkuliert?
Kraushaar: Nein, ich halte das wirklich nicht für kalkuliert, zumal das ja nicht auf die Initiative von Frau Maier-Witt, sondern auf die Initiative von Herrn Schleyer zurückzuführen ist, dieses Gespräch. Und ich glaube zudem, dass bei Frau Maier-Witt die Motive offenbar auf der Hand liegen. Sie hat ja seit ihrer Haftentlassung durch ihre jahrelange Praxis unter Beweis gestellt, dass sie weder in einem ideologischen noch in einem sozialen Sinne etwas davon hält, in ihren alten Bahnen einfach fortzufahren. Sie hat sich zu ihrer Schuld bekannt und sie hat ja über lange Zeit hinweg im Kosovo als eine sogenannte Friedensfachkraft sich betätigt.
"Sehr wichtiges Signal für eine Zivilgesellschaft"
Das scheint im Übrigen auch von der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe so gesehen worden zu sein, denn um diese Arbeit mit Opfern des Krieges im ehemaligen Jugoslawien überhaupt durchführen zu können, musste ihr der seinerzeitige Generalbundesanwalt Kay Nehm ein Empfehlungsschreiben ausstellen. Man muss sich das mal vorstellen, das ist ja wirklich ein ganz außerordentlicher Vorgang. Das macht zwar alles die Beteiligung an Verbrechen im Nachhinein nicht mehr gut. Es stellt aber ein sehr, sehr wichtiges Signal dar, das für eine Zivilgesellschaft, wie ich glaube, auch insgesamt eine Relevanz darstellen sollte, und man sollte diesen Akt wirklich würdigen.
Köhler: Ein Letztes. Was muss als nächstes passieren? Schließen Sie sich der Forderung des Publizisten und Ihres Kollegen Stefan Aust an, die Akten, die beim Bund noch sind, freizugeben?
Kraushaar: Es muss im Grunde genommen von zwei Seiten diese Bewegung, diese Schwingung weiter fortgesetzt werden. Auf der einen Seite muss von staatlicher Seite wirklich so etwas ernst genommen werden. Man muss das auch unterstützen. Da sollen wirklich endlich mal nach so vielen Jahrzehnten die Akten, die dazu vorhanden sind, auch wirklich freigegeben werden, und zwar insbesondere zu dem, was sich in Stuttgart-Stammheim abgespielt hat in der sogenannten Todesnacht, damit dieses so transparent wie nur irgendwie möglich wird. Es muss aber auch auf der anderen Seite bei denjenigen, die seitens der RAF an diesen Verbrechen beteiligt gewesen sind, auch mehr passieren und sie müssen auch wirklich sich dazu äußern, denn ich glaube, es wäre für die Angehörigen der Opfer von einer unglaublichen Bedeutung, wenn sie konkreter wüssten, was sich damals abgespielt hat.
Köhler: Sagt Wolfgang Kraushaar, Verfasser des Buches "Die blinden Flecken der RAF", zur neuerlichen Entmystifizierung der RAF.
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