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40 Years and one: Philip Corner Plays the Piano

* Musikbeispiel: Philip Corner - aus: Short Piano Piece XIII Der Anfang des Klavierstücks von eben - wie das ganze Stück - klingt für jeden, der es zum ersten mal hört, vergleichsweise einfach und abstrakt. Natürlich geht das nicht allen Menschen auf unserem Globus so, aber gewiss fast allen Menschen, die im Sendegebiet des Deutschlandfunk, also in Deutschland und in den angrenzenden deutschsprachigen Ländern leben einschließlich den Kennern und Liebhabern neuer Musik. Auch wenn er weitgehend unbekannt geblieben ist, ist der Komponist, der seine Musik selbst am Klavier aufgenommen hat, nicht ein junger oder jüngerer sondern ein heute achtundsechzigjähriger Musiker, in New York geboren und aufgewachsen, hat seine kompositorische und pianistische Ausbildung in New York und in Paris absolviert, in Paris bei Olivier Messiaen in den Jahren zwischen 1955 und 1957, also wesentlich später als Pierre Boulez, Karel Goeyvaerts, Karlheinz Stockhausen und Henri Pousseur, kurzum die seriellen Komponisten. Und doch ist diese Musik seriell oder protoseriell im Sinne der berühmten Klavier-Etüde von Messiaen "Mode de valeurs et d'intensités". Jeder Tonhöhe ist eine fixierte Dauer und eine definierte Lautstärke und einer und nur einer der Oktavräume zugeordnet. Im Gegensatz zu Messiaens genialer Modus-Etüde aber, die den Zwölftonvorrat der Klaviatur dreimal ausschöpft, also sechsunddreißig derartige Kombinationen von Tonnamen verwendet und das auf eine hochvirtuose Weise, die zunächst nur von Yvonne Loriod gespielt werden konnte, hat die vorliegende Klavierstudie von Philip Corner, "Short Piano Piece Thirteen" aus dem Jahr 1957, nur zehn verschiedene Kombinationen von Tonhöhen, Dauern, Lautstärken und Oktavlagen. Messiaens Ansatz also erscheint vereinfacht, reduziert, wenn man so will: minimalisiert. Und der Komponist hat sie für das Spiel seiner eigenen Hände geschrieben, nicht für einen hochspezialisierten Pianisten, schon weil das die einzige Realisierungsmöglichkeit für ihn war, aber - internalisiert und einem Gegentrend der alternativen New Yorker Musikkultur folgend - auch, weil das der spezifischen Composer/Performer-Ästhetik entsprach. Hier also noch einmal das von Messiaen beeinflusste "Short Piano Piece Thirteen" von Philip Corner von knapp zwei Minuten Gesamtdauer. * Musikbeispiel: Philip Corner - aus: Short Piano Piece XIII, Diese Short Piano Pieces, die nicht einmal in sein Werkverzeichnis im neuen Musiklexikon New Grove Two aufgenommen sind, sind die ältesten noch vor der um 1960 von Komponisten der US-amerikanischen Armee initiierten Neodada- oder Fluxus-Musik entstandenen Stücke von Phil Corner und wurden doch in Fluxus-Konzerten in Europa und in den USA vom Komponisten aufgeführt. Das um 1960 entstandene Klavierstück "Flux and Form Number Two" verweist in seinem Titel bereits auf die um den Exillitauer George Maciunas gescharte informelle Fluxus-Gruppe, der auch Phil Corner angehört hat, ohne dass es sich schon ganz von der mitteleuropäischen, ja französischen Messiaen-Ästhetik gelöst hätte. Es variiert und potenziert sie noch. Auch in diesem Stück sind Dauern und Lautstärken gekoppelt diesmal aber mit Intervallen von zwei Tönen und zwar lediglich drei verschiedenen Intervallen. * Musikbeispiel: Philip Corner - Flux & Form No. 2 Mit den meisten anderen Stücken der Fluxus-Ästhetik teilt die Musik von Corner bis zu diesem Stück die sozusagen ausdruckslose Haltung. Diese Musik drückt keine Gefühle aus, sondern realisiert eine Idee, eine Konzeption,. Auch wenn sie damit nicht den Grad konzeptueller Musik realisiert, bei dem Klang durch die Aufführung als Klangvorstellung beim Publikumsteilnehmer ausgelöst wird, ohne dass der imaginierte Klang zu hören ist, ist die Musik von Corner doch in dem experimentellen Sinne konzeptuelle Musik wie die von John Cage und den experimentell denkenden Komponisten des engeren und weiteren Umfelds von Cage, dem auch Phil Corner angehört. Erst die unmittelbar folgenden Stücke sind richtige Fluxus-Stücke zum Beispiel das sogenannte Concerto for Housekeeper, das Konzert für Haushälter oder Haushälterinnen, bei dem die Tasten und der Korpus des Klaviers während des Spiels zugleich mit dem Staubtuch gesäubert wird: * Musikbeispiel: Philip Corner - Concerto for Housekeeper Auch das Stück mit dem Titel "Pulse: A 'Keyboard Dance' / C Major Chord" aus den frühen sechziger Jahren lässt sich als konzeptuelle Fluxus-Komposition verstehen, aber auch als vergleichsweise frühe minimalistische Klavierstudie. Das Tonhöhenmaterial ist mehr oder weniger auf die drei Töne des C-dur-Dreiklangs reduziert. Und es wird in einem relativ gleichmäßigen sich über fünfundzwanzig Minuten erstreckenden Puls gespielt: * Musikbeispiel: Philip Corner, "Pulse: A ‚Keybord Dance'/C Major Chord" Nun, der New Yorker, der US-amerikanische Komponist und Pianist seiner eigenen Stücke Philip Corner ist keineswegs auf seine Fluxus-Stücke zu reduzieren, auch wenn dessen Klaviermusik auf der Compactdisc "Fourty Years and One: Philip Corner Plays the Piano", der 125. des Labels der Experimental Intermedia Foundation in New York das suggeriert. Philip Corner hat sich nach seiner Fluxus-Phase seit 1975 ähnlich wie vor ihm Colin McPhee und Lou Harrison mit indonesischer Gamelan- und US-amerikanischer New Gamelan-Musik beschäftigt und als Gründungsmitglied des New Gamelan-Ensembles "Son of Lion" etwa vierhundert Gamelan-Stücke geschrieben. Corner hat etwa gleichzeitig eine Reihe von Bühnenmusiken und Tanztheatermusiken vor allem für Lucinda Childs, Elaine Summers und das Judson Dance Theater geschrieben. Und mit James Tenney und Malcolm Goldstein gründete er in New York das Tone Roads Kammerensemble benannt nach Charles Ives Komposition "Tone Roads", und ein Ives-Kenner und -Liebhaber ist Corner bis heute auch in seinem italienischen Domizil in Reggio Emilia geblieben, von dem aus er Spritztouren zu den mitteleuropäischen Zentren neuer Musik unternimmt, wenn es für ihn in Donaueschingen, Darmstadt, Köln oder Amsterdam Hörenswertes zu erleben gibt. Auch das letzte Stück der Philip Corner-Platte der Experimental Intermedia Foundation, die von Elaine Summers und Phil Niblock gegründet und seit mehreren Jahrzehnten von Phil Niblock in einem Loft an der Center Street Ecke Grant Street in South Manhattan geleitet wird, - die Platte ist über das Internet über die oder per Email über xirecords@compuserve.com erhältlich - ist ein spätes Fluxus-Stück von gut zwanzig Minuten Dauer mit dem Titel "'perfect' (on the strings)". Es wird, was das Klavier angeht, nur direkt auf den Klaviersaiten, also nicht an den Tasten, gespielt. Hinzukommt ein ganzes Arsenal kleiner Nebeninstrumente vor allem Glöckchen und Rasseln, die zusammen mit den an den Saiten erzeugten Geräuschklängen eine ganz eigene auratische Klanglandschaft aufbauen. * Musikbeispiel: Philip Corner - "perfect" (on the strings)

Reinhard Oehlschlägel |