Mitten in der Altstadt von Leiden - da, wo der alte und der neue Rhein zusammenfliessen - liegt de Waag, die Stadtwaage: Hier legten einst die Kaufleute mit ihren Schiffen an, um ihre Waren für den Markt wiegen zu lassen. Und hier setzten auch die Pilgrims Fuß an Land, als sie 1609 eintrafen – Glaubensflüchtlinge aus England.
In ihrer Heimat wurden diese orthodoxen Protestanten verfolgt, erklärt Kunsthistorikerin Marike Hoogduin. Sie führt Interessierte auf speziellen Pilgrim-Spaziergängen durch Leiden:
"Die Pilgrims mussten fliehen, weil sie die anglikanische Staatskirche nicht anerkannten. Die hatte in ihren Augen noch zu viele katholische Elemente. Am meisten missfiel ihnen, dass König Jakob I. Oberhaupt der Kirche war. Denn die Pilgrims waren für die strikte Trennung von Kirche und Staat. Sie sahen sich als von Gott auserwählt und wollten streng nach der Bibel leben – ohne einen weltlichen Herrscher akzeptieren zu müssen."
Englische Glaubensflüchtlinge in Leiden
Die Niederlande waren in dieser Hinsicht ideal – denn dort gab es keinen König mehr, genauer gesagt in den sieben freien Provinzen im Norden: Bereits Ende des 16. Jahrhunderts hatten sie zur Republik geblasen, den Aufstand gegen den erzkatholischen König Philipp II. gewagt und sich vom spanischen Joch befreit.
Leiden hatte 1575 die erste protestantische Universität des freien Nordens bekommen und war als zweitgrösste Stadt nach Amsterdam zu einer pulsierenden Metropole aufgestiegen. Mehr als die Hälfte der Einwohner waren Immigranten, erklärt Marike Hoogduin:
"Leiden hatte Flüchtlinge aus ganz Europa aufgenommen: Hugenotten aus Frankreich, protestantische Glaubensflüchtlinge aus Wallonien und Flandern. Es kamen auch Menschen aus England und Deutschland. Hier wurde Niederländisch gesprochen, Englisch, Französisch und auch Deutsch."
Denn in Leiden konnten die Flüchtlinge nicht nur ihren Glauben ausüben, sie fanden auch Arbeit in der Textilproduktion. Tuch aus Leiden war in ganz Europa gefragt – ein Stoff, vergleichbar mit Flanell oder Loden.
Geschichte der Pilgrims vor der Mayflower
Im Grunde genommen waren die Pilgrims also nur ein paar Hundert Flüchtlinge unter vielen – und nicht weiter besonders. Hätte nicht ein Teil von ihnen elf Jahre später beschlossen, weiter zu ziehen: Vor genau 400 Jahren segelten sie nach einem Zwischenstopp in Plymouth auf der Mayflower über den Atlantik – um als Gründerväter der amerikanischen Gesellschaft in die Geschichte einzugehen.
Viele Amerikaner haben Vorfahren in Leiden. Präsidenten wie Barack Obama, George Bush, Rooseveelt. Aber auch Marilyn Monroe, Rockefeller, Clint Eastwood - sie alle stammen von den Pilgrims aus Leiden ab. Das macht Leiden für die Amerikaner zu einem Zentrum der Ahnenforschung.
Dennoch war die Geschichte der Pilgrim Fathers bis vor Kurzem eine rein englisch-amerikanische Angelegenheit und begann in Plymouth. Das Kapitel Leiden wurde übersprungen, so Kuratorin Jori Zijlmans vom Leidener Museum de Lakenhal.
Gedenken mit gemischten Gefühlen
"Bei der Aufstellung des Programms für das Gedenkjahr 2020 wurden erstmals auch wir Niederländer miteinbezogen, sagt Jori Zijlmans. "Es ist sogar eine vierte Partei mit dabei, die bisher geflissentlich ausgegrenzt wurde – und das ist die indigene Bevölkerung. Sie hat ihre Kultur und Identität verloren. Für die Native People von Amerika ist die Ankunft der Pilgrims vor 400 Jahren an der Ostküste eigentlich ein nationaler Trauertag."
In der Lakenhal ist bis zum 13. September eine Ausstellung zu sehen, die mit den Mythen und Verklärungen rund um die Pilgrim Fathers aufräumen will: "Die Pilgrims und die Grenzen der Freiheit" heißt sie. Wie kann ich sein, wer ich bin? Gehen oder bleiben? Wo hört meine Freiheit auf? Fragen dieser Art stehen dabei im Zentrum, so Kuratorin Zijlmans:
"Die Pilgrims haben von unserer Freiheit und unserer Toleranz hier profitiert, deshalb sind sie nach Leiden gekommen. Aber die Freiheiten anderer haben sie eingeschränkt. Es zeugt von ziemlicher Arroganz, davon überzeugt zu sein, dass man auserwählt ist und im Gegensatz zu allen anderen nicht in ewiger Verdammnis landet. Die Pilgrims betonten zwar immer, dass es in ihrer Gemeinschaft keine Hierarchie gab, dass alle gleich waren - aber nur, wenn man sich strikt an ihre Regeln hielt, sonst gehörte man nicht dazu."
Niederlande: "Nicht genug Deiche gegen die Gottlosigkeit"
Die Pilgrims wohnten in Leiden nur einen Steinwurf von der Pieterskerk entfernt, die nach der Ablösung von Spanien zu einer reformierten Kirche geworden war. Sie benutzten die Pieterskerk für Trauungen, Taufen und Beerdingungen – notgedrungen, denn sie hatten keine eigene. Doch viele von ihnen hatten mit der reformierten Kirche der Niederländer Berührungsängste. Sie war ihnen nicht streng genug, erklärt Konservator Ward Hoskens von der Pieterskerk:
"Ihr religiöser Führer Pastor John Robinson pflegte die Orgel der Pieterskerk, die er von seinem Haus aus hören konnte, deshalb als ‘Dudelsack des Teufels’ zu bezeichnen."
Am meisten missfiel es den Pilgrims, dass die Sonntagsruhe nicht eingehalten wurde. "Im Land der Deiche gab es nicht genug Deiche gegen die Gottlosigkeit", erinnert sich der spätere Gouverneur der Plymouth Colony in Massachusetts William Bradford in seinen Memoiren.
Das war einer der wichtigsten Gründe, weshalb ein Teil von ihnen beschloss, Leiden wieder zu verlassen – die hardliner unter ihnen, so Konservator Hoskens:
"Ihr Glaube sollte rein bleiben, und hier bei uns ging das nicht."
Der lange Arm des englischen Königs
Außerdem waren in den Niederlanden religiöse Konflikte ausgebrochen zwischen der protestantischen Gruppe der Remonstranten und Contra-Remonstranten. Es drohte ein neuer Krieg mit Spanien. Und dann war da noch der lange Arm des englischen Königs: Die Pilgrims hatten in Leiden ihre eigene Druckerei und konnten es nicht lassen, Pamphlete nach England zu schmuggeln – in Heringsfässern:
"Für Jakob I. war das natürlich eine Provokation, und das wussten sie ganz genau. Aber sie wähnten sich sicher hier. Doch Jakob gelang es, einige von ihnen verhaften zu lassen. Das war noch ein Grund für sie, weiterzuziehen."
Auf der Mayflower in die "Neue Welt"
Im Juli 1620 verließen rund 80 Pilgrims Leiden – so wie sie gekommen waren, per Schiff. Das Geld, das sie brauchten, um in Amerika eine eigene Kolonie zu gründen, hatten sie in Holland nicht auftreiben können. Doch in England waren ein paar Kaufleute dazu bereit – allerdings zu Wucherzinsen und der Bedingung, dass sie 20 weitere Passagiere mit an Bord nahmen. So kam es, dass die Pilgrims einen Zwischenstopp an der englischen Küste einlegten und dort auf ein größeres Schiff umstiegen - die Mayflower, erklärt Kuratorin Zijlmans vom Museum de Lakenhal:
"Mit im Reisegepäck hatten sie eine Kopie unserer Unabhängigkeitserklärung, mit der wir uns vom spanischen König losgesagt hatten. Sie war nicht nur die Basis für den Mayflower Compact, mit dem die Pilgrims ihr Zusammenleben in der neuen Kolonie regelten. Unsere Unabhängigkeitserklärung diente den Amerikanern 150 Jahre später auch als Vorbild für ihre eigene ‘Declaration of Independence’ von den Engländern."
Vorbild aus den Niederlanden: Unabhängigkeitserklärung und Thanksgiving
Ebenfalls nach niederländischem Vorbild führten die Pilgrims noch während der Überfahrt die standesamtliche Ehe ein – notgedrungen, weil sie keinen Pfarrer an Bord hatten. John Robinson war in Leiden geblieben. Er wollte sich um die Zurückgebliebenen kümmern und erst ein paar Jahre später nachkommen. Doch 1625 erkrankte er und starb. So wie 29 andere Pilgrims wurde er in der Pieterskerk begraben – in der Taufkapelle, nicht weit vom teuflischen Dudelsack entfernt.
Die Mayflower war Ende November 1620 an der Küste von Massachusetts angekommen. Die Hälfte der Passagiere hatte die Reise nicht überlebt. Es war zu spät, um Vorräte anzulegen, der erste Schnee bereits gefallen. Viele weitere starben. Ein Jahr später feierten die Überlebenden ein Dankfest – auch das nach holländischem Vorbild: Denn in Leiden wird jedes Jahr am 3. Oktober die Befreiung von den Spaniern gefeiert, traditionell mit Weissbrot und Hering. In der "Neuen Welt" wurde daraus Truthahn – und der amerikanische Thanksgiving Day.