Sommer 1621: Die Menschen können es noch nicht wissen, aber seit drei Jahren leben sie in einer Zeit, die wir heute den Dreißigjährigen Krieg nennen. Ein Krieg nicht nur, aber auch um den wahren Glauben.
Rund 100 Jahre zuvor hatte die Reformationszeit begonnen und zahlreiche neue christliche Gruppen und Strömungen entstehen. Doch geduldet werden sie zumeist weder von der katholischen Kirche, noch von den beiden großen Kirchen der Reformation: den Lutheranern und den Reformierten. Die Reformationszeit und der Dreißigjährige Krieg, sie sind alles andere als eine Zeit der religiösen Toleranz.
Umso erstaunlicher, was sich im Sommer 1621 in Norddeutschland ereignet. Dort, wo die Flüsse Eider und Treene zusammenfließen, dürfen Glaubensflüchtlinge aus den Niederlanden eine eigene Stadt gründen. Sie nennen sich Remonstranten, haben sich vom niederländischen Calvinismus abgespalten und Herzog Friedrich III. von Schleswig-Holstein-Gottorf persönlich hat sie eingeladen und ihnen Glaubensfreiheit zugesichert:
"Der Herzog lässt Euch anbieten, dass Ihr in seinem Lande eine friedensreiche Stadt bauen möget. Da sei Euer Handel frei und Eure Religion nach Gottes geschriebenem Worte desgleichen."
Glaubensflüchtlinge gründen eigene Stadt
Als Gründungsdatum von Friedrichstadt ist der 24. September 1621 überliefert. Ab diesem Tag errichten die Glaubensflüchtlinge, die Remonstranten, eine Stadt nach niederländischem Vorbild: mit Treppengiebeln auf den Häusern und Grachten zwischen den Straßen.
Doch die Remonstranten bleiben nicht die einzige Religionsgemeinschaft in Friedrichstadt. Aus den Niederlanden bringen sie Mennoniten mit, Anhänger einer weiteren religiösen Minderheit, einer evangelischen Freikirche, die aus der Täuferbewegung hervorgegangen ist. Aus der Umgebung zieht es Lutheraner in die neue Stadt, und schon bald folgen Katholiken, Juden, Quäker und einige andere.
Eine Stadt, in der ganz unterschiedliche Gemeinschaften Tür an Tür leben, während drumherum die Glaubenskämpfe toben. Eine solche Ausnahmestadt sorgt für Aufsehen – bis heute.
"Ich bin Sem Sutter. Ich bin ein Bibliothekar im Ruhestand von der Universität Chicago, wo ich meine Doktorarbeit über Friedrichstadt geschrieben habe."
Sem Christian Sutter ist Historiker und hat in den 1970er-Jahren ein Jahr lang in Friedrichstadt gelebt, um über die Stadt zu forschen. Seine Doktorarbeit ist auch auf Deutsch erschienen:
"Friedrichstadt an der Eider: Ort einer frühen Erfahrung religiöser Toleranz".
Toleranz aus wirtschaftlichen Gründen
Allerdings schränkt Sem Sutter ein: Die religiöse Toleranz war für den Herzog und Stadtvater nicht das Hauptanliegen:
"Friedrich III. hat die Remonstranten, Mennoniten und Katholiken in seiner neuen Stadt nicht aus Überzeugung oder Herzensgüte zugelassen, sondern weil ihre wirtschaftlichen Tätigkeiten und ihr Kapital die wirtschaftliche Entwicklung seines Landes förderten."
"Natürlich war seine Hauptmotivation eine wirtschaftliche", sagt auch Christiane Thomsen. Die Historikerin leitet Museum und Stadtarchiv in Friedrichstadt:
"Und da kam es ihm natürlich ganz gelegen, dass die Remonstranten, die ja wohlhabende Kaufleute zum größten Teil waren, eine neue Heimat suchten. Und daher hat er ihnen sicherlich auch Asyl angeboten, weil er sich einfach auch wirtschaftliche Vorteile für sein Herzogtum versprach."
Erst Katholiken, dann auch Juden
Noch bemerkenswerter ist womöglich, dass kurz nach den Remonstranten auch Katholiken nach Friedrichstadt ziehen dürfen. Das Herzogtum ist lutherisch, und für gewöhnlich dulden Lutheraner und Katholiken sich zu dieser Zeit gegenseitig nicht in ihren Herrschaftsgebieten.
So sind die Friedrichstädter Katholiken die erste katholische Gemeinde weit und breit seit der Reformation im hohen Norden. Doch auch in diesem Fall denkt Friedrich III. wohl vor allem an die Wirtschaft, so Thomsen:
"Herzog Friedrich wollte mit Spanien Handel treiben. Und die Spanier haben in diesem Handelsvertrag definitiv gefordert, dass sich Katholiken in Friedrichstadt niederlassen sollen und dass sich keine Juden in Friedrichstadt ansiedeln dürfen."
Beide Bedingungen erfüllt der Herzog – und verbietet die Ansiedlung von Juden. Ist es also nicht weit her mit seiner Toleranz?
Thomsen: "Das kann man natürlich schwer aus den Quellen sagen, wie jetzt seine wirkliche Toleranz war. Ich glaube, er tat sich auch ein bisschen schwer, weil er es auch bei sich im eigenen Hause, was die Toleranz anging, nicht so leicht hatte. Seine Mutter war nämlich eine sehr strenggläubige Lutheranerin, die ihm sicherlich auch immer Vorhaltungen gemacht hat, dass er diese Fremden in sein Land geholt hat. Andererseits war sein Vater wohl sehr tolerant und er hat als Kind - soweit man das weiß - wohl auch sehr viel von diesen Streitigkeiten zwischen seinen Eltern mitbekommen. Und vielleicht hat das auch ein bisschen dazu beigetragen, dass er sich vorgenommen hat, nicht so zu sein, also nicht so dogmatisch."
Glaubensfreiheit als Bedingung
Auch das Verbot jüdischer Ansiedlungen ist kein unumstößliches Dogma: Schon eine Generation später wird es aufgehoben.
Thomsen: "Das war dann unter dem Sohn von Herzog Friedrich. Der hat dann zugelassen, dass sich Juden in Friedrichstadt ansiedeln durften."
Herzog Friedrich und sein Sohn lassen also einiges zu, was andere Herrscher nicht zulassen. Treibende Kraft hinter der religiösen Toleranz in Friedrichstadt scheinen aber nicht die politischen Herrscher zu sein, sondern die Glaubensflüchtlinge selbst. Denn sie kommen anfangs ausschließlich nach Friedrichstadt:
"Unter der Bedingung, dass hier in der Stadt absolute Glaubensfreiheit herrscht", sagt Heinrich Mannel.
Er ist Remonstrant und war 35 Jahre im Kirchenvorstand der Remonstranten aktiv. Und er kennt viele Geschichten über die religiöse Toleranz seiner Gemeinde. Eine Toleranz, die auch an den Friedhofstoren nicht Halt macht. Heinrich Mannel erinnert an eine Episode vom Ende des 18. Jahrhunderts:
"Da war der katholische Friedhof bei der katholischen Kirche belegt. Und die katholische Gemeinde fragte bei der lutherischen Gemeinde an, die gerade einen großen Friedhof vor der Stadt angelegt hatte, ob sie ihre Toten dort beerdigen dürften. Und das haben die Lutheraner abgelehnt mit der Begründung, sie wollten keine Papisten auf ihrem Grund haben. Und dann haben die Remonstranten einen Teil ihres Friedhofes den Katholiken zur Verfügung gestellt."
Diese katholischen Gräber finden sich bis heute auf dem Friedhof an der Remonstrantenkirche. Und inzwischen ist auch ein buddhistisches Grab hinzugekommen.
Bis zu 14 verschiedene Glaubensgemeinschaften
In der Frühen Neuzeit leben zeitweise bis zu 14 verschiedene Glaubensgemeinschaften in Friedrichstadt – während es in vielen deutschen Dörfern und Städten nur eine einzige Konfession gibt.
Friedrichstadt hingegen wird zum Anziehungspunkt für all jene Gruppen, die andernorts verboten sind oder vertrieben werden, erklärt der Historiker Sem Sutter:
"Und so kam es zum Beispiel, dass ab 1662 Mitgliedern der sogenannten Polnischen Brüder erlaubt wurde, in der Stadt zu leben."
Die Polnischen Brüder waren eine unitarische Kirche der Radikalen Reformation. Sie lehnen die Trinitätslehre ab, praktizieren die Erwachsenentaufe, wollen keinen Waffendienst leisten. Deshalb werden sie damals in Polen verfolgt. Doch auch in Friedrichstadt sind sie nicht allen willkommen und werden schnell wieder verbannt – durch Lutheraner. Obwohl Remonstranten und Mennoniten, die den Stadtrat bilden, sich für die Polnischen Brüder einsetzen. Doch in diesem Fall kann sich der Stadtrat nicht gegen den Herzog und die lutherische Kirche behaupten. So werden die Polnischen Brüder erneut zu Glaubensflüchtlingen.
"Wobei die Remonstrantengemeinde einige der Polnischen Brüder aufgenommen hat. Man sieht das so im Mitgliederregister. Ich denke, sie haben weiter ihren Gottesdienst und Glauben behalten, aber sie standen unter dem Schutz der Remonstrantengemeinde", erzählt der Remonstrant Heinrich Mannel.
"Konflikte kamen von außen"
"Konflikte kamen von draußen, von eifrigen lutherischen Generalsuperintendenten. Entweder in eigener Sache oder auf Instanz von ihren Pastoren in der Stadt, die meinten, dass andere Gemeinden ihre Grenzen überschritten hatten oder häretisch gesprochen oder gehandelt haben", so der Historiker Sem Sutter, der selbst aus einer mennonitischen Familie stammt.
Nach und nach kommen immer mehr religiöse Gruppen nach Friedrichstadt. Gruppen, die sonst fast nirgendwo willkommen sind. Darunter sind sogar radikale Pietisten aus Schweden, auch als separatistische Pietisten bezeichnet. Sie sind vom Urchristentum fasziniert und haben sich von der schwedischen Staatskirche losgesagt. In Friedrichstadt finden sie zeitweise eine neue Heimat.
Später kommen auch Zeugen Jehovas und Mormonen. Und schon früh leben auch Quäker in Friedrichstadt. Doch einige wollen auch sie wieder verbannen. In diesem Fall können Remonstranten und Mennoniten das jedoch verhindern. Sie argumentieren gegenüber dem Herzog:
Sutter: "Da sie selbst Glaubensflüchtlinge waren, würde es ihnen missfallen, andere aus Glaubensgründen zu verbannen."
"Die Remonstranten haben immer sehr dafür gekämpft, dass andere Religionsgemeinschaften sich hier niederlassen durften", sagt auch Christiane Thomsen, die das Museum von Friedrichstadt leitet:
"Und das zieht sich eigentlich durch bis ins 20. Jahrhundert. Als 1929 ein neuer Rabbiner nach Friedrichstadt kam, wollte er gerne eine Mikwe einrichten, hatte aber keinen Ort dafür. 1910 war ein neues Gemeindehaus der Remonstranten gebaut worden. Und im Keller dieses Gemeindehauses gab es öffentliche Bäder. Und dieser Doktor Benjamin Kohn fragte dann den Vorstand der Remonstrantengemeinde an, ob man nicht eins dieser öffentlichen Bäder als Mikwe nutzen könnte. Und das wurde dann 1929 erlaubt. Und das ist der einzige Fall, den man kennt, von einem jüdischen Ritualbad in einem christlichen Gemeindehaus."
Seit der NS-Zeit gibt es in Friedrichstadt keine jüdische Gemeinde mehr. Auch die "Stadt der Toleranz", wie Friedrichstadt sich heute bezeichnet, vermag den Nationalsozialisten nichts entgegenzusetzen. Die meisten jüdischen Bewohner fliehen zunächst nach Hamburg. Viele von ihnen werden später deportiert und ermordet. Nach dem Zweiten Weltkrieg entsteht in Friedrichstadt keine neue jüdische Gemeinde mehr.
"Kein festgelegtes Glaubensbekenntnis"
Heute gibt es in Friedrichstadt fünf aktive Religionsgemeinschaften – und das bei nur 2.600 Einwohnern: Protestanten und Katholiken, Mennoniten und dänische Lutheraner, die sich eine Kirche teilen, und die Remonstranten sind auch noch da. Bis heute gibt es in ganz Deutschland nur eine einzige remonstrantische Gemeinde: hier, in Friedrichstadt.
Auch in anderer Hinsicht sind die Remonstranten eine ungewöhnliche Religionsgemeinschaft. So ist Heinrich Mannel wichtig:
"Dass man hier kein festgelegtes Glaubensbekenntnis hat, sondern jeder kann sein eigenes Glaubensbekenntnis haben. Und so schreiben auch die Konfirmanden ihr eigenes Glaubensbekenntnis. Das ist also nicht festgelegt. Es gibt eines, das man annehmen kann, aber nicht muss."
"Wir sind und bewusst und erkennen, dass wir unsere Ruhe nicht finden in der Sicherheit dessen, wozu wir uns bekennen, doch in Verwunderung über das, was uns zufällt und geschenkt wird."
So beginnt das Glaubensbekenntnis der Remonstranten. Sie verstehen sich als eine freigeistige Kirche. Beim Abendmahl ist ihnen jeder willkommen – egal ob gläubig oder nicht. Und sie bezeichnen sich als "Asylkirche". Im Internet schreiben sie dazu:
"Ein Zufluchtsort für Menschen, die die dogmatischen Vorgaben und das hierarchische System ihrer angestammten Konfessionen nicht mehr aushalten und sich ihren persönlichen, individuellen Glauben bewahren wollen sowie nach einem Refugium der Freiheit und der Selbstbestimmung auch in religiösen und ethischen Fragen suchen. Sie sind bei den Remonstranten willkommen!"
Schon 1908 haben die Remonstranten Frauen als Pfarrerinnen zugelassen. Und seit 1986 segnen sie gleichgeschlechtliche Paare. Auch da sind die Remonstranten Vorreiter.
Ihre Gemeinde in Friedrichstadt zählt derzeit rund 190 Mitglieder. Aber nur 70 davon leben in der Stadt. Die Übrigen halten aus dem In- und Ausland Kontakt zu der Gemeinde.
Wie sind die Remonstranten entstanden?
Weltweit gibt es rund 5.000 Remonstranten. Die meisten davon leben in den Niederlanden, dem Ursprungsland dieser kleinen protestantischen Gemeinschaft. Dort nennen sie sich Remonstrantische Bruderschaft – seit 400 Jahren.
"Sie entwickelt sich nach 1619 aus jahrelangen Konflikten innerhalb der reformierten Kirche in den Niederlanden", erklärt der Historiker Sem Sutter.
Worum geht es in diesen Konflikten - also noch vor der Gründung Friedrichstadts? Ein Blick zurück – in die Niederlande. Dort ist damals der Calvinismus die einflussreichste christliche Theologie – eine Theologie, die in der Reformationszeit entstanden ist.
Doch im niederländischen Calvinismus gibt es eine Bewegung, die nicht einverstanden ist mit einigen Grundsätzen des Glaubens. Sie lehnt die strenge calvinistische Prädestinationslehre ab. Stattdessen betont die Bewegung, der Mensch habe einen freien Willen, und nicht alles sei von Gott vorherbestimmt. Den Menschen solle deshalb Glaubensfreiheit gewährt werden.
Prägend für diese Ideen war der Theologe Jacobus Arminius. Deshalb werden seine Anhänger auch als Arminianer bekannt.
"Um des freien Gottesdienstes Willen"
Den heute gebräuchlicheren Namen Remonstranten erhalten sie 1619 auf der Synode von Dordrecht. Dort soll der theologische Streit beigelegt werden - eigentlich.
Manel: "Da wurden die remonstrantischen Pastoren gezwungen, der Lehre des Arminius zu entsagen und wieder in die reformierte Staatskirche zurückzukehren."
Doch viele Anhänger des Arminius sind nach wie vor nicht bereit, die Prädestinationslehre der reformierten Kirche anzuerkennen.
Sutter: "Nach dem Tod von Arminus schrieben einige seiner Anhänger eine Remonstranz, also eine Protestschrift."
Mannel: "In der Remonstratie wandten sie sich gegen das strenge Dogma der Reformierten und gegen die Prädestinationslehre, gegen die Kirchenzucht. Steht auch hier an der Kirche oben: um des freien Gottesdienstes Willen."
Die Remonstranten erhielten ihren ihren Namen also von der Protestschrift. "Remonstrare" bedeutet im Lateinischen "zurückweisen". Die Remonstranten sind demnach diejenigen, die die calvinistische Prädestinationslehre zurückgewiesen haben.
Die erste Remonstrantenkirche wurde beschossen
Doch schon wenig später werden die Remonstranten selbst aus den Niederladen ausgewiesen. Rund 200 Geistliche müssen das Land verlassen. Viele Gläubige schließen sich ihnen an – und ziehen unter anderem nach Norddeutschland. In Friedrichstadt erbauen sie die erste remonstrantische Kirche weltweit.
"Im Jahr 1850 war Friedrichstadt dänische Festung, und die Schleswig-Holsteiner haben die Stadt – und als erstes den Kirchturm der Remonstranten – beschossen. Und der brannte natürlich lichterloh. Sie meinten, da wären dänische Guckposten oben auf dem Kirchturm", erzählt der Remonstrant Heinrich Mannel.
Doch schon wenig später bauen die Remonstranten eine neue Kirche, die bis heute das Stadtbild von Friedrichstadt prägt. Man könnte sagen: eine typische reformierte Kirche. Im Innenraum gibt es keinen Altar, keine Bilder, nicht mal ein Kreuz. Stattdessen helle Wände und große lichtdurchlässige Fenster.
Einmal im Monat kommt die Gemeinde hier zum Gottesdienst zusammen, denn einen eigenen Pastor hat sie nicht – zu teuer, sagt Heinrich Mannel. Stattdessen reist regelmäßig ein Pastor oder eine Pastorin aus den Niederlanden nach Friedrichstadt.
In den Niederlanden ist die Zahl der Remonstranten in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen. Die Gemeinde in Friedrichstadt hingegen habe keine Zukunftssorgen, meint Heinrich Mannel, der 35 Jahre im Kirchenvorstand aktiv war. Denn diese Gemeinde schrumpfe nicht.
Im Gegenteil: Manchmal kämen sogar neue Mitglieder hinzu.
Mannel: "Wir finden, wir sind so modern, dass wir uns immer wundern, dass sich nicht mehr melden."