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"48 Stunden Neukölln".
Das größte freie Kunstfestival Berlins beginnt

Der Berliner Bezirk Neukölln ist sozialer Brennpunkt und angesagtes Künstlerquartier zugleich. Die ganze Welt will hier wohnen, die Immobilienpreise gehen derzeit durch die Decke. Das Festival "48 Stunden Neukölln" reflektiert diese Entwicklungen. 1.200 Künstler verwandeln den Stadtteil dafür ins größte Galerie- und Theaterviertel Deutschlands.

Von Oliver Kranz |
    Ein Hund sitzt in der Pannierstraße an der Ecke Weserstraße auf dem Gehweg vor der Kneipe "Freies Neukölln", fotografiert am 20.08.2013 in Berlin Neukölln.
    Problem- und Szene-Bezirk: Berlin-Neukölln. (picture alliance / dpa / Jens Kalaene)
    "Wenn man sich jetzt mal den DAX anhört. Der hat dieses Pochern … Der geht gerade runter."
    Thomas Seher hat einen Automaten entwickelt, der Börsenkurse in Musik umsetzen kann. Steigende Kurse bedeuten höhere Töne, sinkende Kurse tiefere. Der DAX, der Ölpreis und der Wechselkurs des britischen Pfunds werden vom Computer in Töne umgerechnet.
    "Meine Aufgabe als Komponist ist natürlich, dass ich die Töne zuordnen kann: Sind das Orchestersounds, sind das Klangsphären, sind das Klangwolken, ist das ein Kinderchor. Es sind am Ende jetzt neun verschiedene Soundsettings geworden, die durchsteppen und dadurch immer einen ganz anderen Assoziationskosmos ermöglichen."
    Die Veranstaltungsorte des Festivals sind über ganz Neukölln verteilt
    Mal klingt der Automat wie eine Orgel, mal wie ein verrückt gewordener Flipper-Automat. Der Sound kommt aus Lautsprecherboxen, die Börsenkurse werden als Grafik auf eine Wand projiziert.
    "Man kriegt sein Gefühl dafür, dass das ein Seismograph für den Finanzkapitalismus ist, also der ständige Wechsel von Kapital von einer Seite zur anderen. Das ist so ein Moment, wo man es einmal spüren kann, wie schnell es wechselt, wenn Hoffnung und Angst den Markt beherrschen."
    Börsenorchestrion nennt Thomas Seher den Apparat, den er beim 48-Stunden-Festival in einem Bestattungsinstitut präsentieren wird. Das passt. Nach dem Brexit-Referendum sind die Börsen in Trauerstimmung. Das Orchestrion hat auch Orgelklänge im Repertoire.
    Die Veranstaltungsorte des Festivals sind über ganz Neukölln verteilt. Ladengeschäfte werden zu Galerien, Parkhäuser zu Theatern, Künstlerateliers zu Konzertsälen. Die zentrale Ausstellung des Festivals wird im Vollgutlager einer ehemaligen Brauerei gezeigt. Sie präsentiert Arbeiten, die sich mit dem Festivalthema "Satt" auseinandersetzen. Es geht um Übersättigung, aber auch um gesellschaftliche Zustände, die die Künstler satt haben.
    Wer beim Kaugummikauen mitmacht, gibt persönliche Daten preis
    "Für uns ist der Begriff auch Spiel zwischen Hunger, Existenzangst, bis hin zu Kapitalismuskritik. Das finden wir gut, dass das Thema so breit angegangen werden kann von den Künstlerinnen und Künstlern", sagt Thorsten Schlenger, der das Festival gemeinsam mit Martin Steffen leitet. Er freut sich, dass viele Künstler mit dezidiert politischen Arbeiten an der Ausstellung teilnehmen. Simone Brühl lädt die Besucher zum Kaugummikauen ein. Aus den gekauten Kaugummis, will sie eine Skulptur formen, die zugleich als DNA-Speicher fungiert. Wer mitmacht, gibt also persönliche Daten preis.
    Michael Conzelmann präsentiert ein Schachspiel aus Schokoladenfiguren, das er gemeinsam mit Amy Alexander entwickelt hat. Man darf auch damit spielen – unter einer Bedingung:
    "Wer eine Figur schlägt, muss sie essen. Wir haben hochwertige Schokolade gekauft, das heißt, das ist erst einmal eine leckere Angelegenheit."
    Doch Vorsicht: Ein Satz Spielfiguren wiegt 400 Gramm. Wer zu viele Figuren seines Gegners schlägt, wird schnell einen vollen Bauch haben. Das Spiel soll den Wachstumsfetischismus des heutigen Kapitalismus karikieren.
    "Heute geht es darum, Unternehmen zu erobern, mit denen zu fusionieren, sie in sich aufzunehmen. Da gibt es im Endeffekt kein Limit. Also das Ziel des Wachstums ist das Wachstum selbst. Hier ist der Versuch, ein Wachstum in Grenzen zu schaffen."
    Michael Conzelmann lacht. Er ist selbst Unternehmer. Das Schokoladenschachspiel ist für ihn nur ein Freizeitprojekt. Doch das schmälert den Kunstwert in keinster Weise. "48 Stunden Neukölln" ist ein Festival bei dem Profikünstler und Amateure Seite an Seite auftreten. Und bei vielen kann man Entdeckungen machen.