Istanbul im Frühjahr 2013: Tränengasschwaden ziehen durch die Straßen, in einer Gasse haben Polizisten in Kampfmontur einen Mann zu Boden geworfen und schleifen ihn brutal über das Pflaster - einen Journalisten, der über den Polizeieinsatz gegen die Demonstranten vom Gezi-Park berichten wollte. Die Anwohner protestieren gegen die Polizeigewalt; einige filmen die Szene mit ihren Handys und laden das Video hoch ins Internet. Die Gezi-Proteste öffneten vielen Türken die Augen dafür, wie es um ihre Medien bestellt ist, sagt Gökhan Bicici - der Journalist, der damals von der Polizei misshandelt wurde:
"Die Leute waren auf die Straße gegangen und hatten protestiert, aber als sie abends nach Hause kamen und den Fernseher einschalteten, liefen dort Naturfilme über Pinguine. Die Proteste, an denen sie selbst teilgenommen hatten, wurden in den Abendnachrichten mit keinem Wort erwähnt - obwohl sie sich am zentralsten Platz des Landes abspielten und zweieinhalb Millionen Menschen dabei waren. Die Leute waren schockiert."
Medien ignorieren Opposition
Viele Demonstranten machten sich mit ihren Smartphones damals selbst zu Berichterstattern und informierten per Twitter und Facebook darüber, was sich im Gezi-Park abspielte. Doch die Proteste wurden niedergeschlagen, und fünf Jahre später hat Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan die türkischen Medien fester im Griff als je zuvor. Die meisten Sender und Zeitungen in der Türkei gehören heute Gefolgsmännern von Erdoğan. Und das staatliche Fernsehen TRT berichtete im vergangenen Monat zu 93 Prozent über Erdoğan und seine AKP, die Opposition musste sich die übrigen sieben Prozent teilen. Ein vollkommenes Informationsmonopol hat die Regierung trotzdem nicht erlangen können - denn die Saat von Gezi ist aufgegangen.
Auf der asiatischen Seite von Istanbul sitzen vier Journalisten in der kleinen Nachrichtenzentrale der Medienplattform dokuzsekiz an Laptops und bearbeiten die Nachrichten, Fotos und Videos, die ihnen von freiwilligen Bürgerjournalisten aus dem ganzen Land zugeschickt werden. Gökhan Biçici hat die neuartige Medienplattform zielstrebig aufgebaut, seit er vor fünf Jahren von der Polizei fortgeschleift wurde:
"Wir hatten bei Gezi zwei dynamische Entwicklungen: einmal hunderte kritische Journalisten, die arbeitslos waren, und dann die Bürgerjournalisten, die aus Frustration über die Medien selber berichteten. Aus dieser Idee ist dokuzsekiz geboren, aus dem Zusammentreffen der Dynamik von Bürgerjournalisten und der Expertise von professionellen Journalisten."
Korrespondentennetz mit Hilfe von Bürgern
Nur die Redakteure in der Zentrale von dokuzsekiz sind professionelle Journalisten, die Reporter draußen im Land sind Freiwillige: Hunderte Anwälte, Menschenrechtler, Gewerkschafter und Aktivisten, die Biçici Team in den Grundprinzipien des Journalismus ausgebildet hat. Mit täglich mehr als 200 Meldungen auf Twitter bildet die Plattform eine Türkei ab, die von den herkömmlichen Medien totgeschwiegen wird - eine quicklebendige Zivilgesellschaft mit Protesten, Streiks, Solidaritätsaktionen und viel Kraft und Kreativität. Für die vorgezogenen Neuwahlen zu Parlament und Präsidentenamt am 24. Juni hat sich das Netzwerk ein neues Ziel gesteckt, erzählt Biçici:
"Seit diese Wahlen angesetzt wurden, spüren wir hier erstmals wieder eine Atmosphäre wie damals bei Gezi - und das vor allem auch beim Medienthema. Denn gerade jetzt im Wahlkampf ist eine freie Berichterstattung ja besonders wichtig, und außerdem werden Wahlmanipulationen befürchtet. Deshalb rekrutieren wir jetzt für die Wahl hunderte weitere Berichterstatter."
Um Wahlbetrug zu verhindern und Manipulationen aufzudecken, will dokuzsekiz am 24. Juni landesweit mindestens zweitausend Bürgerreporter im Einsatz haben - weit mehr als jeder Sender in der Phalanx der Erdogan-treuen Medien.