Der 50. Deutsche Historikertag steht unter dem Motto "Gewinner und Verlierer". Seit der Antike gibt es diesen Antagonismus, der auf die Perspektive des schon Gewesenen angewiesen ist und die historischen Zuschreibungen Siegern und Verlierern zuordnet. Dabei ist das Bild des Gewinners natürlich einem historischen Wertewandel erlegen.
Antje Allroggen: Während die Sieghaftigkeit zum Beispiel in der Antike vor allem von der bildlichen Inszenierung der Macht abhing, galt im Mittelalter der als heldenhaft oder mächtig, der Geld hatte.
Arnd Reitemeier ist Direktor des Instituts für Historische Landesforschung in Göttingen. Herr Reitemeier, zu Ihren Forschungsschwerpunkten zählen unter anderem die Formen der Frömmigkeit im späten Mittelalter. Kann man zum Beispiel den Zisterzienserorden als mächtig bezeichnen, wenn er auch Opfer forderte? Kann man aus dem brüchigen Heute betrachtet historische Epochen noch so dichotomisch betrachten?
Arnd Reitemeier: Ja und nein. Zunächst einmal: Die Zisterzienserkloster, egal ob Frauen- oder Männerkloster, waren erst mal eine eigene wirtschaftliche Einheit, und als solche müssen wir sie betrachten, und damit wiederum stand ein Kloster, aber ganz speziell auch die Zisterzienser, immer in dem Widerspruch, dass einerseits die Nonnen, die Mönche dem Armutsgelübde, dem Armutsgebot Christi folgen wollten und mussten, und die Zisterzienser ganz besonders als Reformorden, und auf der anderen Seite zogen die Orden, zogen die einzelnen Klöster Stiftungen an und damit Geld und wurden reich und damit kam es tatsächlich zu einer Dichotomie. Dieser Widerspruch, darum muss es gehen und um die Wahrnehmung der Zeitgenossen von diesem Widerspruch, und dieser Widerspruch zieht sich nun vom Mittelalter - da wurde der Orden der Zisterzienser ja gegründet - bis letztlich in die heutige Zeit auch hin.
Gewinnertypen nicht nur im Fußball
Allroggen: Wenn man den Bogen da mal weiterzieht, wenn man heute an Helden etwa des Ersten Weltkrieges zurückdenkt, wird ja das konkrete Erinnern an eine einzelne Figur schon schwierig. Ersetzt werden die Helden durch viele gefallene unbekannte Soldaten, bis die Definition von Gewinnern und Verlierern ja komplett verschwimmt. Was machen die Chronisten von morgen mit unserer Gegenwart, in der es zumindest aus unserer westlichen Perspektive heraus betrachtet keine richtigen Gewinnertypen mehr gibt?
Reitemeier: Na ja, ob es keine wirklichen Gewinnertypen mehr gibt, das sei mal noch dahingestellt. Da braucht man nur zum Beispiel zum heutigen Fußball zu gucken.
Allroggen: Aber da gibt es eine Gegenmannschaft.
Reitemeier: Ja, selbstverständlich, und trotzdem gibt es eventuell Einzelne, die herausgehoben werden. Nur zu der Frage zu den vergessenen Personen: Ich glaube, da hat zum Beispiel in der Eröffnungsveranstaltung gestern der Bundespräsident völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass wir zwar an den Ausbruch des Ersten Weltkrieges in diesem Jahr erinnern und dazu es eine Vielzahl an neuen Forschungen gegeben hat, aber dass wir die Millionen Gefallenen nicht vergessen dürfen und dass es gerade die Aufgabe der Geschichtswissenschaft ist, an diese Personen zu erinnern, sie dem Vergessen der Geschichte wieder zu entreißen, und auf diese Weise auch die Dimension sichtbar zu machen, auch die Weiterführung zum Teil bis heute in den Familien und anderes mehr. Uns kommt es darauf an, auch das Einzelschicksal und nicht nur die Daten, nicht nur die Gewinner und Verlierer deutlich zu machen, und beim Einzelschicksal kann es ganz unterschiedlich sein, je nachdem um welche Person es sich handelt.
Geschichte neu diskutieren
Allroggen: Die Erzählungen von Chronisten, die im Laufe der Geschichte auf diese Begriffsparameter Gewinner und Verlierer zurückgriffen, waren natürlich im Laufe der Geschichte auch selbst ideologischen Verfärbungen unterlegen. Wohl deshalb schenkt ja der diesjährige Historikertag vor allem der Gender-Geschichte und der Gewaltgeschichte viel Raum. Wie groß ist denn die Bereitschaft unter Ihren Kollegen, zumindest Teile der Geschichtsschreibung auch ganz neu und anders zu diskutieren?
Reitemeier: Die ist außerordentlich groß. Das macht ja den Kern der Wissenschaft, der Geschichtswissenschaft aus, immer wieder die Ergebnisse und auch sich selbst als Forscher in Frage zu stellen und zu neuen Bewertungen zu kommen, und da ist ein neuerer Ansatz, in den letzten 30 Jahren ungefähr entwickelt, die Gender-Forschung beispielsweise. Die Emotionenforschung und die Gewaltforschung sind neuere Ansätze, auch wenn sie durchaus ältere Wurzeln haben. Das gehört dazu, die bisherigen Wertungen und Ergebnisse immer wieder neu infrage zu stellen.
Allroggen: Es gibt vielleicht manche Kollegen, die nicht so gern interdisziplinär arbeiten, wie es an Ihrem Institut wohl Gang und Gäbe ist. Wie halten es denn die meisten Ihrer Kollegen mit dem Teilen ihres Wissens jetzt auch im Zeitalter der Digitalisierung?
!!Reitemeier:! Wir haben in der Tat in der Wissenschaft ein großes Problem. Wir müssen versuchen zu verhindern, dass der Nachwuchs, dass unsere Doktorandinnen und Doktoranden, auch die Habilitanden, dass die nicht zu Verlierern werden in der Situation, dass wir Mühe haben, Stellen zu bekommen, dass die Forschung dann auch fortgeführt werden kann.
Allroggen: Der Wandel der Wertung spielt ja gerade in der westlichen Welt eine Rolle. Fundamentalistische Gruppierungen wie der IS spielen da eher noch mit Feindbildern, als es bei uns seit der Aufklärung der Fall war. Wird das gerade zum Problem der westlichen Welt, dass es eben keine Gewinner- und Verlierertypen mehr gibt?
Reitemeier: Die Geschichtswissenschaft hat an der Stelle einfach die Aufgabe, herauszuarbeiten, dass wir mit einfachen und klaren Schwarz-Weiß-Zuweisungen einfach nicht weiterkommen, dass wir die Genese von Konflikten, die soziale Herleitung beispielsweise, ihre kulturelle Herleitung in den Blick nehmen müssen, und dann verschwimmen Bilder, dann gibt es kein Schwarz-Weiß mehr.
Nehmen wir das aktuelle Beispiel Schottland: Es stand letzte Woche einfach zur Debatte, ob Großbritannien als Staatsform auf einmal zum Verlierer wird, Schottland als eigene Nation zu einem Gewinner, und auf einmal drehte sich dieses Bild. Und wir müssen jetzt fragen: Die Union Schottlands mit England vom Jahr 1707, ist dieses ein Modell, was in der Form weitergeführt werden wird, werden kann, sodass in Großbritannien jetzt eine umfangreiche Debatte angestoßen worden ist über Föderalismus, aber damit auch über Gewinnerregionen, Verliererregionen, und diese historischen Kontexte herauszuarbeiten, damit andere weiterarbeiten können, das ist Aufgabe der Geschichtswissenschaft.
Allroggen: Über Gewinner und Verlierer als Kernbestand der Deutung historischen Geschehens sprach ich mit Arnd Reitemeier, Direktor des Göttinger Instituts für Historische Landesforschung.
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