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50 Jahre danach
Die Wirkungsgeschichte der Ostdenkschrift der EKD

Die sogenannte Ostdenkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland stellte einen Tabubruch dar. Denn, die EKD stellte den Anspruch Deutschlands auf seine ehemaligen Ostgebiete jenseits der Oder-Neiße-Linie infrage. Damit löste dieses Dokument einen politischen Streit aus wie keine andere Schrift der Kirchen zuvor oder danach.

Von Rainer Brandes |
    Die Friedensglocke auf der Oderpromenade in Frankfurt an der Oder.
    "... Deutschland müsse den Anspruch auf die Gebiete jenseits der Oder-Neiße-Linie aufgeben." (picture-alliance / dpa-ZB / Soeren Stache)
    1965: Die Bundesrepublik befindet sich im Wahlkampf. Während die mit der FDP regierende CDU/CSU nichts von einer Öffnung zu den kommunistischen Nachbarn wissen will, versucht die SPD unter Willy Brandt in der Opposition eine vorsichtige Entspannungspolitik zu entwickeln. Doch keine Partei traut sich dieses heiße Eisen anzupacken: die Frage nach den ehemals deutschen Ostgebieten.
    Seit 1945 stehen sie unter polnischer beziehungsweise sowjetischer Verwaltung. Eine abschließende Regelung gibt es nicht. Die müsste ein Friedensvertrag bringen.
    Der offizielle Konsens aller westdeutschen Parteien lautet: Wir geben den Anspruch auf diese Gebiete nicht auf. Keine Partei möchte riskieren, die Wählerstimmen von mehreren Millionen Vertriebenen zu verlieren. Und doch weiß die Politik: Ohne einen Verzicht auf die Ostgebiete wird eine Verständigung mit Polen schwierig.
    Veränderter Boden für eine Ostpolitik
    Mitten in dieser festgefahrenen Situation arbeitet eine Kommission der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) am Feinschliff eines Dokumentes, das später unter dem Titel "Ostdenkschrift" berühmt werden soll. Ihr eigentlicher Titel lautet: "Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn". Die Historikerin Claudia Lepp von der Forschungsstelle für Kirchliche Zeitgeschichte in München hat zur Bedeutung der Ostdenkschrift geforscht.
    "Man möchte den Boden bereiten für eine veränderte Ostpolitik, und das heißt vor allem für ein verändertes Verhalten gegenüber den östlichen Nachbarn. So ist es ja auch in der Überschrift formuliert. Es ging um das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn, und da wollte man eben Versöhnung als eine Kategorie einbringen in die Politik, die den Weg frei macht eben für neues politisches Handeln."
    Dabei bewegen sich die Autoren auf heiklem Terrain. Die allermeisten Vertriebenen sind evangelisch. Sie spielen also innerhalb der Evangelischen Kirche eine wichtige Rolle. Viele von ihnen würden einen Verzicht auf die Ostgebiete als Verrat empfinden. Auf der anderen Seite wächst innerhalb der Kirche der Einfluss von gut vernetzten Intellektuellen, die ganz offen sagen, Deutschland müsse den Anspruch auf die Gebiete jenseits der Oder-Neiße-Linie aufgeben. Einige von ihnen hatten dies bereits 1961 unmissverständlich im sogenannten "Tübinger Memorandum" formuliert. Claudia Lepp:
    "Das war nicht im Namen der Evangelischen Kirche, aber es waren prononciert evangelische Intellektuelle und insofern war da ein Stein ins Wasser geworfen, der dann durchaus einige Wellen in Bewegung setzte."
    Als 1963 der Rat der EKD beschließt, eine Denkschrift zum Verhältnis Deutschlands zu seinen östlichen Nachbarn zu verfassen, entbrennt ein Streit, welches Gremium dafür zuständig sein soll: Der Ostkirchenausschuss als Vertreter der Vertriebenen innerhalb der Kirche oder die Kammer für öffentliche Verantwortung? Als sich letztere schließlich durchsetzt, ist klar, wohin die Reise geht. Denn der Vorsitzende der Kammer ist der Jurist Ludwig Raiser. Er hatte bereits das Tübinger Memorandum unterzeichnet. Doch den Autoren ist klar: Wenn sie explizit den Verzicht auf die Ostgebiete fordern, wird die Denkschrift keine Zustimmung finden, weder innerhalb der Kirche noch in der Gesellschaft. Als im Oktober 1965 die Denkschrift schließlich erscheint, beschreibt sie einerseits ausführlich das Unrecht und die Traumata, die die Vertriebenen erfahren haben. Der zentrale Satz aber lautet:
    "Die leidvolle Geschichte deutscher Unterdrückungsmaßnahmen gegenüber dem immer wieder seiner politischen Selbständigkeit beraubten polnischen Volk und die völkerrechtswidrige Behandlung, die dieses Volk während des Zweiten Weltkrieges auf Anordnung der nationalsozialistischen Staatsführung erfuhr, stellt uns heute unausweichlich vor die Frage, ob sich daraus nicht politische, vielleicht aber auch völkerrechtliche Einwendungen gegen einen deutschen Anspruch auf unverminderte Wiederherstellung seines früheren Staatsgebietes ergeben."
    Eine extrem aufgeheizte gesellschaftliche Debatte
    Im Klartext: Die Bundesregierung soll zumindest darüber nachdenken, den Anspruch auf die ehemaligen Ostgebiete aufzugeben. Dabei will die Denkschrift keine politischen Entscheidungen vorwegnehmen. Doch sie möchte dem Versöhnungsgedanken den Vorrang geben und das Beharren auf Rechtspositionen hintan stellen. Dass eine große Institution wie die Evangelische Kirche in einem offiziellen Dokument einen möglichen Verzicht auf die ehemals deutschen Ostgebiete positiv zu bewerten versucht, das kommt in der Bundesrepublik der 1960er Jahre einem Tabubruch gleich. Gleichzeitig scheint die Politik auf ein solches Signal gewartet zu haben, meint Claudia Lepp:
    "Man wagte sozusagen den Vorstoß noch nicht. Und da war man natürlich letztlich der Evangelischen Kirche durchaus dankbar, dass sie einen solchen Vorstoß unternommen hat und damit einfach die öffentliche Diskussion eröffnet hat. Und man sieht selbst in den demoskopischen Umfragen, dass sich dann so ab '65 etwas verändert in der Einstellung der Bevölkerung. Das geht dann bis Ende der 60er-Jahre, dass dann plötzlich durchaus eine Mehrheit sagte, man müsse die Gegebenheiten anerkennen."
    Es ist dieser Tabubruch, der die besondere Bedeutung der Ostdenkschrift ausmacht. Nie zuvor und auch nie wieder danach hat ein Papier der Evangelischen Kirche eine so große politische Wirksamkeit entfaltet. Auch die extrem aufgeheizte gesellschaftliche Debatte, die sie auslöst, ist einmalig. Konservative Kreise innerhalb und außerhalb der Kirche laufen Sturm gegen die Denkschrift – allen voran die Vertriebenenverbände. Auf der anderen Seite nehmen Politiker aller Parteien, die auf eine Aussöhnung mit Polen hoffen, die Denkschrift als Vorbild für eine neue Ostpolitik. Die polnischen katholischen Bischöfe antworten mit einem Brief, in dem sie schreiben: "Wir vergeben und bitten um Vergebung." Heute gilt es als unbestritten, dass die Ostpolitik Willy Brandts ohne diese beiden kirchlichen Papiere nicht möglich gewesen wäre. Bis heute zehrt der Begriff "evangelische Denkschrift" von dieser einmaligen Situation, so die Historikerin Claudia Lepp:
    "Die Ostdenkschrift hat sozusagen das Zeitalter der Denkschriften wirklich eröffnet und zugleich auch seinen Höhepunkt gebildet. Keine der Denkschriften der EKD hat noch einmal eine solche Wirkung erzielt – gesellschaftlich und politisch. Und insofern wird der Begriff 'Denkschrift' durchaus immer in Zusammenhang gesehen mit der Ostdenkschrift."
    Auch wenn die Ostdenkschrift ein Symbol für den Anspruch der Evangelischen Kirche ist, politische Impulse zu setzen: Claudia Lepp glaubt nicht, dass heute ein kirchliches Papier noch einmal eine so große gesellschaftliche Debatte auslösen könnte.
    "Dass immer mal wieder eine kleine Erregungskurve entstehen kann durch solche Denkschriften, das ist weiterhin gegeben, aber nicht mehr in diesem Ausmaß. Dazu hat sich die Gesellschaft zu stark verändert. Sie ist deutlich pluraler geworden, sie ist deutlich auch entkirchlichter geworden, und das sind einfach andere Kontextbedingungen."