Christoph Reimann: Heute feiert Disco 50. Geburtstag. Das behauptet jedenfalls unser Kritiker Jens Balzer. Herr Balzer, was ist da vor 50 Jahren passiert?
Jens Balzer: Es hat natürlich immer etwas Willkürliches, wenn man für einen Stil oder eine ganze Kultur ein bestimmtes Geburtsdatum festlegen will - auch bei Disco gibt es da ganz unterschiedliche Ansätze. Aber ich finde doch, dass heute vor 50 Jahren ein ganz einschneidender Termin für die Entwicklung von Disco gewesen ist: Da fand nämlich, am Valentinstag 1970, in einer aufgelassenen Fabrik-Etage in New York in SoHo die erste "Love Saves the Day"-Party statt. Eine Nacht lang, von Samstagabend in die Morgenstunden des folgenden Tages, tanzte ein bunt zusammengewürfelter Haufen von Menschen zu R’n’B-, Soul- und Jazz-Platten. Das Ganze war wie ein Kindergeburtstag dekoriert, mit Unmengen von Luftballons und einem langen Buffet mit Früchten, Nüssen und Punschbowlen. Veranstaltet wurde das Ganze von David Mancuso - einem politischen Aktivisten, der aus der Bürgerrechtsbewegung der 60er kam, aber auch in Woodstock gewesen war und in New York jetzt zu der schwulen Emanzipationsbewegung gehörte, die aus den Stonewall Riots 1969 hervorgegangen ist.
"Disco war eine Art Schutzraum"
Mancuso fängt mit dieser Partyreihe an, weil er damit den "Geist von Woodstock", die Verbindung von Politik und Party, in das neue Jahrzehnt hinüberretten will. Seine Partys sollen sich wie eine Hippie-Kommune anfühlen, die von Samstagabend bis Sonntagmorgen dauert - mit einem entscheidenden Unterschied: Bei den Partys von Mancuso tanzen Weiße, Latinos, Afroamerikaner, viele schwule Männer, aber auch Frauen - und das wird ja auch ein Merkmal von Disco in den folgenden Jahren sein: Dass dies die erste Popkultur ist, in der unterschiedliche Ethnien, Geschlechter, sexuelle Orientierungen gleichberechtigt repräsentiert sind, und dass Disco-Klubs Orte sind, an denen Dinge passieren, die im Alltag nicht möglich sind. Zum Beispiel: dass Männer mit Männern tanzen und weiße Menschen People of Color küssen.
Nile Rodgers von der Band Chic hat dazu später einmal gesagt: "Disco war eine Art Schutzraum, in den man sich zurückziehen konnte, um dort auf bessere Verhältnisse zu warten." Heute würde man sagen: ein "Safe Space".
Reimann: Dieser soziale Aspekt ist das eine, aber das andere ist die Musik. Wie hat sich denn dieser besondere Stil ausgebildet, den man heute mit Disco verbindet?
Balzer: Ich glaube ja, dass es sich bei Disco weniger um einen Stil handelt als vielmehr um eine Technik oder: um ein Bündel von Techniken. Erstens, Sie haben es eben schon gesagt: Disco-Kultur ist die erste echte DJ-Kultur. Dass Leute Platten mit Tanzmusik auflegen, hat es natürlich schon vorher gegeben, aber bei Disco wird der DJ erstmals zu einer zentralen, auch künstlerisch schöpferischen Figur. Die Party soll nicht aufhören, ist das Motto - darum darf die Musik auch nicht enden.
Darum geht es erstmals wesentlich um das Mixen von Platten. David Mancuso selbst spielt bei seinen Partys nicht einfach Singles ab, sondern nimmt diese Singles vorher auf Tonband auf und schneidet zwischen die einzelnen Stücke selber produzierte Klangeffekte, so dass eben ein musikalischer Fluss entsteht, dass die Leute nicht aufhören zu tanzen - und das, obwohl da die allerunterschiedlichste Dinge vermixt werden. Anfang der 70er besteht das Repertoire aus Funk-Stücken von James Brown, aus percussionlastiger Musik aus Westafrika, und zwischendurch finden sich auch immer mal wieder ätherische Instrumentalstrecken aus dem Progressive Rock. Das ist das zweite Merkmal, das für die Disco-Kultur dann zentral sein wird: ein enormer musikalischer Eklektizismus. Das ist ja gewissermaßen die erste postmoderne Kultur: kosmopolitisch, divers, ein Spiel mit Zitaten.
Und drittens übrigens dann auch: eine Kultur des Sounds. In diesem Fluss von Melodien, Rhythmen und Bässen sind besonders die Bässe von Bedeutung, darum lässt Mancuso sich in seinen Club bald ein eigenes Soundsystem bauen, in dem die Bässe besonders weich und mächtig zur Geltung gelangen. Der Erbauer dieser Anlage ist übrigens Alex Rosner, ein deutscher Jude, der den Holocaust in Krakau in der Fabrik von Oskar Schindler überlebt hat.
"Wahnsinnig innovativ"
Reimann: Wenn man die "Love Saves the Day"-Partys also als die Keimzelle der Disco-Kultur betrachtet, wie schnell breitet sich diese Kultur dann aus?
Balzer: Mit enormer Geschwindigkeit. Schon im Sommer 1970 öffnen zahlreiche Klubs in New York, die dem Vorbild dieser Partys von David Mancuso folgen - zum Beispiel der Ice Palace und der Sandpiper, beide auf Fire Island, dieser schmalen, noch vor Long Island gelegenen Insel. Da beginnt die Karriere des zweiten prägenden Disco-DJs, Tom Moulton, der nämlich das Mixen von Musik dadurch perfektioniert, dass er mit Hilfe der damals neuesten Studiotechnik Tonspuren voneinander trennt, Instrumente ein- und ausblendet und die Stücke verlängert, indem er rhythmische Motive kopiert und die Kopien dann hintereinander setzt. Eine Technik, die wir heute als Loop kennen.
Und die wiederum einen jungen DJ namens Clive Campbell alias Kool Herc, der ab 1973 in einem Disco-Club namens Twilight Zone in der Bronx arbeitet, dazu inspiriert, kurze Schlagzeugmotive aus James-Brown-Stücken – und zwar gerade die Rhythmuswechsel, die Breaks – so hintereinanderzusetzen, dass daraus ein tanzbarer Beat entsteht. Eine Technik, die später als Breakbeat bekannt wird und zur Grundlage dessen, was in den 80er-Jahren dann HipHop heißt.
Es dauert ein paar Jahre, bis Disco zur Mainstream-Kultur wird – dann aber richtig. 1975 werden in den USA 10.000 Disko-Klubs gezählt das "Billboard"-Magazin führt dann eigene Disco-Charts, DJs werden wichtig für neue Musik. Das ist eine andere Geschichte, die dann in den USA am Ende des Jahrzehnts bei John Travolta, den Village People und dem Studio '54 endet. Aber wenn man sich mal die Anfänge der Geschichte, als Disco noch Underground war, ansieht - und dazu kann man dieses heutige Jubiläum gut als Anlass nehmen - dann sieht man, wie wahnsinnig innovativ gerade die frühe Disco-Kultur gewesen ist und wie viel von dem, was den Pop bis heute prägt, damals begründet worden ist.