Schumann: In den ersten beiden Folgen dieser Gesprächsreihe haben zwei kubanische Intellektuelle aus ganz unterschiedlicher Sicht die Entwicklung in Kuba dargestellt. Der Poet und Verleger Pio Serrano, der lange Zeit für die Revolution eingetreten ist, hat seine ablehnende Haltung aus der Distanz des vor Jahrzehnten Emigrierten formuliert. Der Romancier Leonardo Padura hat seine moderate Kritik als ein Parteigänger der Revolution geäußert, als einer der wenigen namhaften Schriftsteller, die in Kuba geblieben sind.
In dieser letzten Folge nimmt mit Antonio José Ponte ein Autor Stellung, der sich außerhalb des Systems zu behaupten versuchte und wegen seiner radikalen Kritik die Insel schließlich verlassen musste. Herr Ponte, Sie wurden genauer gesagt aus dem Schriftsteller- und Künstler-Verband UNEAC ausgeschlossen, der einzigen Organisation, der Sie in Kuba jemals angehört haben. Was bedeutete das konkret für Sie?
Ponte: Sie nennen das nicht Ausschluss, sondern 'Deaktivierung'. Ich wurde 'de-aktiviert'. Und das ist ein Euphemismus. Denn ein solcher Ausschluss bedeutet: man darf in Kuba nichts mehr veröffentlichen, darf am offiziellen literarischen Leben nicht mehr teilnehmen, darf keine Vorträge halten, darf noch nicht einmal bei der Präsentation des Buchs von einem Freund das Wort ergreifen und darf auch nicht an der Buchmesse teilnehmen. Außerdem ließen sie mich lange Zeit keine Einladungen im Ausland akzeptieren. Sie haben das zwar immer bestritten, mir jedoch nie ein Ausreisvisum erteilt. Und schließlich durfte selbst mein Name nicht mehr genannt werden. Viele Freunde, die mir ein Gedicht widmeten, mussten deshalb meinen Namen ändern, weil man sonst das Buch nicht veröffentlich hätte.
Schumann: Diese "Deaktivierung" erfolgte 2003. Sie waren damals 39 Jahre alt, sind also erst 6 Jahre nach dem Sieg der Revolution geboren. Haben Sie von der anfänglichen Begeisterung, von der Ihre beiden Kollegen in den vorangegangenen Gesprächen berichtet haben, noch etwas mitbekommen?
Ponte: Ich erinnere mich noch an den Enthusiasmus der Leute und wie sie bestimmte Ereignisse gefeiert haben. Die 60er Jahre und die erste Hälfte der 70er waren eine Zeit voller Begeisterung, der Entäußerung vieler Menschen. Aber ich erinnere mich auch an viele heimliche Gesten, an familiäre Geheimnisse, unausgesprochene Meinungen, gedämpfte politische Diskussionen.
Schumann: Das heißt, Ihre Familie gehörte nicht gerade zu den begeisterten Revolutionären.
Ponte: Ich würde meine Familie unterteilen in meine Eltern, die voller Enthusiasmus waren, und meine Großeltern, die das Geheimnis pflegten. Sie haben vor den Kindern nie ihre Meinung über die Revolution geäußert und sich zurückgezogen, wenn sie heimlich ausländische Sender hören wollten, um durch deren Nachrichten zu erfahren, was wirklich im Land geschah.
Schumann: Aber Sie waren doch sicher ein enthusiastischer junger Pionier und Mitglied in der Kommunistischen Jugend?
Ponte: Die Pioniere waren obligatorisch, aber die Kommunistische Jugend hing von der revolutionären Haltung ab, und die hatte ich nicht. Denn ich bekam schon Schwierigkeiten mit den Pionieren: man hat mir das Halstuch, ihr Erkennungszeichen, weggenommen. Am Palmsonntag war ich mit meinem Großvater in die Kirche gegangen, weil ich einfach neugierig war und sehen wollte, was die da machen. Und davon habe ich später in der Schule erzählt. Daraufhin hat mir die Lehrerin das Halstuch abgemacht. Meine Mutter ist später zu ihr gegangen und hat alles geklärt. Aber ich war abgestempelt, denn die Teilnahme an solchen Feierlichkeiten war verboten.
Schumann: Das muss doch Mitte der 70er Jahre gewesen sein, als das sog. 'graue Jahrfünft', die stalinistische Zeit der Revolution ihrem Ende zuging. Hatten Sie später auch Schwierigkeiten auf der Universität?
Ponte: Ich kam auf die Universität, als sich die schlimmsten Gewitterwolken der Repression bereits verzogen hatten und sogar Katholiken wieder studieren durften. Ich selbst bin nicht katholisch. In den 80er Jahren war das Hochschulsystem etwas freizügiger geworden, aber es gab immer wieder repressive Momente. Mich haben sie zum Beispiel ein Jahr lang von der Universität verwiesen wegen "ideologischem Diversionismus". Mit diesem Begriff wurde so ziemlich alles diffamiert, was irgendwie heterodox schien.
Schumann: Was hatten Sie getan?
Ponte: Ich hatte Professoren kritisiert, weil sie uns die wenigen Rechner, die es damals erst gab, nicht zur Verfügung stellen wollten. Und wir mussten lange Berechnungen durchführen in der Ingenieur-Wissenschaft, die ich studierte. Sie warfen mir vor, ich würde die Normen der Fakultät infrage stellen, und machten mir einen kleinen Prozess. Dabei bin ich wohl etwas ironisch mit den Professoren umgegangen. Wegen dieser Ironie und meiner Kritik musste ich das Studium für ein Jahr unterbrechen. Ich stand kurz vor der Abschlussarbeit, die ich dann ein Jahr später gemacht habe.
Schumann: Warum haben Sie eigentlich Bau-Ingenieur studiert und nicht Geisteswissenschaften? Das hätte ich doch von einem Schriftsteller erwartet, der früh angefangen hat zu schreiben - wie Sie mir einmal erzählt haben.
Ponte: Ich habe Ingenieur-Wissenschaft studiert, weil ich Leute in den Geisteswissenschaften kannte, die mir ihren Beschränkungen erzählten, von den vielen verbotenen Autoren. Kafka oder Joyce wurden nur am Rand erwähnt, weil sie eigentlich verbannt waren. Viele Autoren, die mich sehr interessierten, waren verboten: Lezama Lima, Piñeira, Octavio Paz, Borges, Vargas Llosa, Cabrera Infante, Arenas, Sarduy. Ich sollte mir eine neue Welt erschließen, aber die war völlig leer. Also habe ich Bauingenieur-Wissenschaft studiert und später sogar 5 Jahre lang als Ingenieur gearbeitet.
Schumann: Welches Ereignis in diesen Jahrzehnten der Revolution, die Sie erlebt haben, hat Sie am meisten geprägt?
Ponte: Die Ausreise über Mariel, die Emigration so vieler Menschen, ihr Wunsch, das Land zu verlassen, das hat mich für immer geprägt. Es hat wohl auch die kubanischen Autoritäten überrascht, dass so viele Menschen ihrem 'Paradies' entfliehen wollten.
Schumann: Es waren wohl insgesamt 100.000 Menschen, die sich - geduldet von der Regierung - über diesen kleinen Hafen Mariel Richtung USA einschifften. Was war deren Motiv?
Ponte: Ende der 70er Jahre, also kurz vor Mariel, konnten viele Kubaner aus Miami, Madrid und Mexico nach ein oder zwei Jahrzehnten endlich wieder ihre Familienangehörigen in Kuba besuchen. Es gab nämlich Zeiten, da war selbst der Briefverkehr nicht erlaubt, oder man bekam Schwierigkeiten, wenn man Verwandten im Exil schrieb. Telefongespräche waren ein großes Problem. Zum ersten Mal trafen damals Kubaner von der Insel jene aus dem Exil. Die drin geblieben waren, erfuhren erstmals genauer, wie die anderen draußen lebten. Das erklärt teilweise diesen Drang zur Flucht über Mariel. Zwei Jahrzehnte lang waren kubanische Familien geteilt und einander fremd geworden.
Schumann: Wie alt waren Sie damals?
Ponte: Ich war 15, 16 Jahre und fragte mich, wenn das hier ein Paradies werden sollte, eine gerechtere Gesellschaft, warum wollten dann so viele gehen, und warum wurden sie dafür auch noch bestraft? Denn bevor sie ausreisen konnten, wurden viele von ihnen zusammengeschlagen, beleidigt, durch die Straßen gejagt, in ihren Wohnungen belagert. Da wurde mir klar, was das für ein revolutionäres Regime und wer Fidel Castro wirklich war.
Schumann: Ist das so zu verstehen, dass die Staatsorgane systematisch alle Ausreisewilligen verfolgten?
Ponte: Er hat nicht seine Polizei damit beauftragt, sondern ließ die Öffentlichkeit glauben, dass hier das entrüstete kubanische Volk gegen Leute vorging, die angeblich die nationale Würde verloren hatten.
Schumann: Einige Jahre später, 1986/87, gab es in der Sowjetunion eine politische Öffnung: die sog. Perestroika. Wie hat sie sich auf die Kubaner ausgewirkt?
Ponte: Meine Generation, meine Freunde und Kollegen setzten große Hoffnung auf Perestroika und Glasnost. Ich nicht, denn ich wusste, dass sich das kubanische Regime nicht ändern würde. Fidel Castro war viel zu eigensüchtig, um sich zu ändern. Denn Pestroika und Glasnost bedeuten Information, Transparenz, etwas, das letztlich die Macht des großen Führers einschränkt. Fidel Castro war dazu nicht bereit.
Schumann: Besaß Kuba nach der Trennung von der Sowjetunion die Möglichkeit für einen eigenständigen, einen autonomen Weg?
Ponte: Fidel Castro hat sich nie für Autonomie interessiert. Er hätte sich nämlich dann um den Aufbau einer Wirtschaft kümmern müssen, um auf eigenen Beinen zu stehen. Kuba wurde immer ausgehalten. Es lebte erst von den Sowjets, jetzt lebt es von den Venezolanern und ihren Öl-Geschäften. Fidel Castro war immer ein großer Außenminister, aber ein sehr schlechter Finanzminister. Ihn interessierte die internationale Politik, aber nicht die Verwaltung des Landes. Er war kein Gefangener der Sowjetunion: er hat sich dazu gemacht. Und danach hat er einen Anderen gesucht, bei dem er wieder Gefangener werden konnte. China wäre denkbar gewesen, aber die wollten zunächst nicht. So ist es nun Venezuela geworden. Er ist ein Gefangener der venezolanischen Wirtschaft. Wenn der Ölpreis kippt, geht Kuba unter.
Schumann: Danach sieht es aber im Augenblick nicht aus. Und Kuba hat auch bereits weitere Wirtschaftspartner gefunden: das schon erwähnte China und bemerkenswerter Weise das neue Russland.
Ponte: Die Legitimität Kubas kam immer von außen - das sagte ich doch gerade. Fidel Castro hat die Wirtschaft nicht entwickelt und dadurch nicht für Unabhängigkeit gesorgt. Das scheint überhaupt das Schicksal jeglicher sozialistischer Landwirtschaft zu sein. Das alte Russland war Weizen-Produzent. Die nachfolgende Sowjetunion musste Weizen aus Canada importieren. Die ehemalige Zuckerinsel Kuba importiert heute Zucker. Fidel Castro hat die frühere Wirtschaft zerstört, hat so ziemlich alle anderen Modelle ausprobiert und ein Desaster geschaffen. Mehr als die Hälfte des Landes liegt brach und ist inzwischen vom schlimmsten Unkraut überwuchert, 'Marabu' genannt. Es muss mit der Wurzel ausgerissen und der Rest muss mit Pestiziden bekämpft werden.
Schumann: Soll dieses Land den Bauern übereignet werden?
Ponte: So wurde es angekündigt. Aber seither ist ein Jahr vergangen und nichts passiert. Außerdem gilt weiterhin das alte System: man überträgt dir Land, und du musst 90 Prozent von deinem Anbau dem Staat abliefern; er setzt den Preis fest und schreibt dir auch noch vor, was du anbauen sollst. Die Landwirte, die gern ein bisschen unabhängig sein wollen, werden also weiterhin wie Landarbeiter behandelt. Und die Landwirtschaft ist nach wie vor zentralisiert. Das ist doch furchtbar.
Schumann: Antonio José Ponte, Sie haben ein in mehrere Sprachen übersetztes Buch geschrieben. Es ist keinem Genre zuzuordnen: es enthält romanhafte Passagen, essayistische Teile, biografische und poetische Elemente. Und es heißt auf spanisch La fiesta vigilada, wörtlich übersetzt: Das bewachte Fest. Der deutsche Titel heißt allerdings Der Ruinenwächter von Havanna. Bleiben wir zunächst bei dem Titel Das bewachte Fest. Was verbirgt sich dahinter?
Ponte: Es ist eine Art Resümee von 50 Jahren Kubanischer Revolution. Vor der Revolution war Havanna ein einziges Fest, mit Casinos, Cabarets, jeglicher Form der Unterhaltung.
Schumann: Und jeglicher Form von Mafia, Prostitution, Bordellen ...
Ponte: ... mit allem, was dazu gehört. Nach dem Sieg der Revolution war damit Schluss. Auch der Tourismus verschwand fast völlig. Mich interessierte nun der Moment, an dem die Revolution von neuem auf den Tourismus zurückgriff. Und dabei das Bild vom tropischen Havanna und Kuba wiederbelebte, die Bilderwelt der 50er Jahre, die früher so heftig kritisiert worden war. Es wird also das gleiche Fest geschaffen wie vor der Revolution, zwar ohne Mafia, doch kontrolliert von anderen Gruppierungen: der revolutionären Polizei und den revolutionären Geheimdiensten.
Schumann: Tourismus und Abwehr der 'Kolateralschäden' - ist dies ein Aspekt des Buches?
Ponte: Ich würde es Tourismus und Spionage nennen. Deshalb beschäftige ich mich darin auch mit dem Roman Unser Mann in Havanna, in dem Graham Greene das Havanna der 50er Jahre beschreibt. Ich zeige daran, wie die prärevolutionären Mythen wieder aufleben, welche die Revolution beseitigt hatte, und wie sich dabei der revolutionäre Diskurs verändert. Die Innenpolitik hat sich ja nicht sehr gewandelt, wohl aber der Diskurs nach außen. Und wir stehen jetzt gerade wieder vor einem großen Wechsel des offiziellen Diskurses und zwar gegenüber den Vereinigten Staaten.
Schumann: Die zweite Metapher, um die es in Ihrem Buch geht, ist in dem deutschen Titel Der Ruinenwächter von Havanna enthalten.
Ponte: Das Bild der Ruine steht für das Regime, mehr noch als für die Architektur. Aber mich interessiert auch die Stadt Havanna. Denn ich glaube, es gibt keine andere Hauptstadt auf der Welt, die ein halbes Jahrhundert lang völlig vernachlässigt wurde. 50 Jahre fast ohne Neubauten, aber auch ohne Abrisse. Die Gebäude stürzen durch ihr eigenes Gewicht zusammen. Vielleicht ist Havanna eine fortgesetzte Hommage auf Newton und sein Gesetz der Schwerkraft. Mich interessiert jetzt besonders das Problem des Wiederaufbaus: wie wird das Havanna der Zukunft aussehen? Denn diese Stadt ist heute funktionsuntüchtig für die meisten Bewohner: die Straßen sind kaputt, die Verkehrsverbindungen miserabel, es gibt riesige Probleme mit der Wasserversorgung, mit den Abwässern, dem Gas, dem Strom. Wie kann sich daraus eine moderne Hauptstadt entwickeln?
Schumann: Und welche Auswirkungen hat diese Situation auf die Menschen in dieser städtischen Ruinenlandschaft?
Ponte: Eine Ruine zu bewohnen, hinterlässt Metastasen in den Menschen. Das ist wie bei einer Krankheit, genauer gesagt: es macht krank, wenn man kein Material findet, um auch nur die nötigsten Reparaturen vorzunehmen. Wenn die Wohnung zusammenbricht, bricht auch das Leben zusammen. Man wird zu einer menschlichen Ruine. Das ist das Ergebnis der Stadtentwicklungspolitik der Kubanischen Revolution.
Schumann: Ich glaube, kein Kubaner wird den Verfall Havannas bestreiten. Nach dem Sieg der Revolution gab es ja sogar eine systematische Vernachlässigung des alten 'Sündenpfuhls'. Dafür wurden dann die ländlichen Gebiete entwickelt. Aber diese Politik ist lange vorbei, und auf dem Land sieht es heute oft nicht viel besser aus als in Havanna. Trotzdem bleiben zwei Bereiche, die immer noch gepriesen werden: das Gesundheitssystem und das Bildungswesen.
Ponte: Gehen wir mal davon aus, dass man hier eine gute Bildung auf der Grund- und auf der Hauptschule erhält: sie nützt einem später nur nicht viel, weil ihr etwas ganz Wesentliches fehlt: die Freiheit des Denkens und vor allem des eigenen Denkens. Die wird nämlich nicht gelehrt. Es mag eine sehr gute Bildung geben, aber ohne ihren wichtigsten Bestandteil. Das öffentliche Gesundheitswesen war genauso wie die Bildung zeitweise exzellent. Beide sind es schon lange nicht mehr. Wir verfügen über sehr gute Ärzte und modernste Operations- und Heilmethoden, aber es fehlt wieder an etwas Wesentlichem: der Ernährung der Bevölkerung. Der Bildung fehlt Freiheit, der Gesundheit Ernährung, was ja auch Gesundheitsvorsorge bedeutet. Das kubanische Regime konnte dem kubanischen Volk noch nie eine gute Versorgung garantieren genauso wenig wie die Ausübung der Freiheit.
Schumann: Bleiben wir bei der Bildung, der Kultur. In allen Jahrzehnten, mit Ausnahme der repressiven 70er Jahre, entstanden ästhetisch herausragende und durchaus kritische Werke im Film, in der Literatur, in der Kunst, auf dem Theater. Und zwar nicht nur von Kubanern, die lange vor der Revolution geboren waren.
Ponte: Ja, solche Werke sind erschienen, aber oft unter großem Widerstand. Sie wurden geschrieben oder gefilmt und dann von den jeweiligen Institutionen auf die lange Bank geschoben, vor allem in den 70er Jahren. Danach gab es eine gewisse Freiheit. Doch es ist weder eine große Literatur, noch ein großes Kino, noch eine große Malerei innerhalb der Revolution geschaffen worden. Die Revolution hat sich die große prärevolutionäre Kultur angeeignet, als ob es ihre eigene gewesen wäre. Alejo Carpentier hat seine wichtigsten Werke vor der Revolution geschrieben, genauso wie José Lezama Lima, Virgilio Piñeira oder Nicolás Guillén. Die beste populäre Musik ist prärevolutionär. Genauso wie die bedeutendsten Werke der Kunst.
Schumann: Aber der Film ist doch eine autonome Schöpfung dieser Revolution mit vielen herausragenden Werken. Davor gab es so gut wie nichts Bemerkenswertes. Und ich könnte auch für alle übrigen Bereiche eine ganze Reihe bedeutender Künstler nennen.
Ponte: Ich will hier nicht zwei Systeme vergleichen, und ich glaube auch nicht, dass vor der Revolution ein größerer kultureller Reichtum entstand als nach dem Sieg der Revolution. Nur gab es damals keine offizielle Förderung der Künstler. Die Revolution hat dann ein System staatlichen Mäzenatentums geschaffen, das zuvor nicht existierte. Doch zugleich schuf sie auch ein System staatlicher Kommissariate, das verhinderte, dass der kulturelle Reichtum aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts während der Revolution weiter wachsen konnte. Deshalb sollte man die kulturellen Erfolge der Revolution etwas relativieren.
Schumann: Wir haben ja in den ersten beiden Sendungen gehört, wie sehr der Kulturbe-griff dogmatisiert wurde und wie Schriftsteller oft verfemt wurden. Dazu zählte José Lezama Lima, den Sie erwähnt haben. Er wurde erst spät, in den 80er Jahren, rehabilitiert. Andere Denker fielen völlig in Ungnade: Marx, Engels, Lenin, dafür stieg die Bedeutung von José Martí, des kubanischen Freiheitshelden. Sind solche kulturpolitischen Saltos typisch für die Regierung Castro?
Ponte: Die Revolution hat immer wieder ihren Charakter geändert. Sie hat anfangs ausländische Unternehmen verstaatlicht. Jahrzehnte später holt sie ausländische Firmen ins Land, damit sie sich an der kubanischen Wirtschaft - unter staatlicher Kontrolle - beteiligen. Sie hat den Besitz von Dollars bei Strafe verboten und später als Zweitwährung anerkannt. Sie hat zuerst die Katholiken verfolgt und schließlich den Papst empfangen. Sie hat der Sowjetunion ewige Freundschaft geschworen und nach deren Zusammenbruch eine fundamentale Kritik am 'großen Bruder' durchgeführt. Nur ein Charakterzug ist immer gleich geblieben: der Hass auf die Vereinigten Staaten, der ewige Kampf gegen Washington.
Schumann: Wie ist dann der Kauf von Lebensmitteln in den USA zu verstehen, für etwa eine halbe Milliarde Dollar jährlich?
Ponte: Das ist eine Möglichkeit, um in der nordamerikanischen Politik zu intervenieren. Denn Fidel Castro schafft sich damit eine Lobby in den USA. All die Farmer, denen er ihre Produkte abkauft, werden zu seinen Alliierten. Die Abgeordneten und Senatoren jener Bundesstaaten dienen dazu, um Politik für Kuba in den USA zu machen.
Schumann: Ich möchte jetzt ein Ereignis ansprechen, das zu den folgenreichsten der letzten Jahre zählt: der sog. Schwarze Frühling 2003. Damals wurden in einer Verhaftungswelle auf einen Schlag 75 Dissidenten festgenommen. Kurz darauf wurden sie in Schnellverfahren zu drakonischen Strafen von bis zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt. Die meisten von ihnen befinden sich noch immer in Haft und zwar unter oft menschenunwürdigen Umständen. Ist das nicht ein Widerspruch, denn die Regierung behauptet stets, die Dissidenz das wären nur "bedeutungslosen Grüppchen"?
Ponte: Damals war es der Dissidenz endlich gelungen, sichtbar zu werden. Jimmy Carter hatte Kuba besucht und öffentlich von dem Projekt Varela gesprochen, bei dem Dissidenten 20.000 Unterschriften in der Bevölkerung gesammelt hatten. Auch waren immer mehr kleine oppositionelle Publikationen erschienen. Dadurch fühlte sich die Regierung bedroht und wollte diese Gefahr auf diesem Weg beseitigen.
Schumann 29: Aber wieso unternahm sie einen derart massiven Schlag, für den es meines Wissens nur wenige Beispiele in den 50 Jahren Revolution gab?
Ponte: Es gab schon viele solcher bedeutenden Episoden. Von vielen hat die Welt keine Notiz genommen, oft deshalb, weil die Revolution zu viele Sympathien genoss. Doch sie hat unaufhörlich ihre Opponenten beseitigt. Man sollte auch die Verhaftung der 75 Dissidenten nicht höher bewerten als das, was 1980 geschah. Die Schläge gegen die Leute in Mariel waren noch viel stärker, und die wollten lediglich das Land verlassen. Sie verlangten keinen Regierungswechsel, sondern nur einen Ortswechsel. Deshalb sollte man den Schwarzen Frühling 2003 im Kontext vieler anderer Repressionsakte sehen.
Schumann: Gab es einen besonderen Anlass für diese Verhaftungswelle?
Ponte: Fidel Castro scheint sich verkalkuliert zu haben. Er glaubte wohl, der Irak-Krieg der USA würde lange dauern und die Weltmeinung würde darüber schnell die von ihm verübten Gewaltakte vergessen. Doch was andauert, ist die Besetzung, der Angriff war schnell vorbei. Es war nicht wie in Vietnam, das ihm wahrscheinlich vorschwebte, wo der Krieg sich ewig dahinschleppte und die Weltpresse aufmerksam berichtete. Aber er verkalkulierte sich auch damit, dass er in die Verfolgungswelle den Schriftsteller Raúl Rivero einbezog. Er scheint aus dem Fall Padilla nichts gelernt zu haben und ließ jemanden verhaften, der ein enormes Echo in der ganzen Welt verursachte. Raúl Rivero wurde zum Protagonisten: Er ist ein bekannter Poet und hat fast seine gesamte Karriere innerhalb der Revolution gemacht.
Schumann: Fidel Castro scheint aber auch die Reaktion der Europäischen Union falsch eingeschätzt zu haben, denn sie fror die offiziellen Kontakte ein.
Ponte: Diese Reaktion hatte er nicht erwartet. Es war eine Fehlkalkulation in jeder Hinsicht. Aber ich glaube nicht, dass dieser Akt der Repression die Dissidenten in Kuba entmutigt hat.
Schumann: Welchen Einfluss haben sie überhaupt auf die kubanische Bevölkerung?
Ponte: Sie haben den Einfluss, den sie in einer Gesellschaft haben können, zu der sie kaum Kontakt besitzen und in der es eine Kirche gibt, die nicht die gleiche Rolle spielt wie in anderen sozialistischen Gesellschaften. Denn es gibt in Kuba noch etwas Schlimmeres als die Kommunistische Partei: die katholische Kirche. Sie tut alles, um ja kein Fußbreit Terrain zu verlieren. Natürlich gibt es Priester, die den Menschen helfen. Die Kirche hat die Opposition nie unterstützt, damit sie sich in der Zivilgesellschaft verwurzeln konnte. Außerdem hat die Dissidenz zwei Schwierigkeiten: Viele Kubaner streben lieber eine Ausreise als einen Regierungswechsel an, denn sie glauben nicht, dass sich dadurch etwas verändert; gegen eine solche Haltung lässt sich keine Solidarität entwickeln. Und schließlich stehen die Dissidenten unter dem Verdacht, von den USA bezahlt zu werden, was die kubanische Propaganda auch ständig behauptet. Und davon ist der Mann auf der Straße wirklich überzeugt.
Schumann: Antonio José Ponte, wir sollten in der verbleibenden Zeit über die Perspektive für Kuba 50 Jahre nach dem Sieg der Revolution sprechen. Ihre beiden Kollegen Pio Serrano und Leonardo Padura waren sich über die Zukunftschancen nicht einig. Was hält der 'Ruinenwächter von Havanna' - um den Titel Ihres letzten Buches noch einmal zu erwähnen - von der Zukunftsfähigkeit des Projekts der Brüder Castro?
Ponte: Von Raúl Castro erwarte ich nichts, denn er besitzt weder die nötige Unabhängigkeit von Fidel Castro noch sein Urteilsvermögen. Außerdem kenne ich ihn nicht. Niemand kennt ihn wirklich. Er war stets der Schatten seines Bruders. Und ich weiß nicht, in wen er sich verwandelt, wenn sein Bruder vorher stirbt. Raúl Castro ist für mich und viele andere ein Rätsel. Ich hoffe, dass sich führende Leute der Nomenklatura an dem späteren Dialog beteiligen.
Schumann: Ohne die Brüder Castro?
Ponte: Oder mit einem der Brüder Castro, mit Raúl, aber jedenfalls nicht mit Fidel. Es ist sehr seltsam, was mit Raúl Castro in den letzten Jahren geschehen ist. Bei dem Mann auf der Straße galt er lange Zeit als der gewalttätigere der beiden, vor dem man sich hüten sollte und der zu radikalsten Maßnahmen fähig sei. Inzwischen halten ihn die Leute für einen guten Wirtschaftsmanager. Von allen Veränderungen in der Mythologie der Kubanischen Revolution, die ich kennen gelernt habe, ist dies die extremste. Nur hat das Raúl Castro noch nicht bewiesen. Durch die Angst vor der Konfrontation mit seinem älteren Bruder hat er die Chance verpasst, die Hoffnung zu erfüllen, welche die Leute in ihn gesetzt haben.
Schumann: Gibt es überhaupt die Möglichkeit für einen allmählichen und friedlichen Übergang mit Hilfe der jetzt herrschenden Kräfte in Regierung, Partei und Armee?
Ponte: Ich wäre sehr für einen solchen langsamen Übergang, denn ich habe die Revolutionen satt. Kuba war im 20. und auch im 19. Jahrhundert voller Revolutionen. Evolution bitte, keine Revolution mehr. Ich kann mir vorstellen, dass es innerhalb der Nomenklatura Leute gibt, die eine solche Entwicklung anstreben. Es kann sogar sein, dass viele es wünschen und es nicht zu äußern wagen. Namen zu nennen, hat wenig Sinn. Viele werden sich erst entscheiden, wenn es so weit ist.
Schumann: Was ist für Sie persönlich, Antonio José Ponte, die Quintessenz aus diesem halben Jahrhundert Kubanischer Revolution?
Ponte: Wir sollten uns nicht im Schmerz vergraben oder die Differenzen betonen, sondern das Gemeinsame zu finden versuchen, vor allem auch mit den vielen Kubanern, die das Land verlassen mussten und in aller Welt verstreut leben. Sie sollen nicht alle zurückkehren, sich jedoch für Kuba engagieren. Dieses Land muss neu geschaffen werden, denn es liegt ökonomisch und moralisch am Boden. Jetzt ist keine Zeit, zu lamentieren oder sich in der Opferrolle zu gefallen oder die verlorenen Jahre nachholen zu wollen. Diese 50 Jahre waren keine vergebliche Zeit, mit Ausnahme der letzten beiden Jahrzehnte. Die Revolution ist eine weitere Episode in der kubanischen Geschichte. Sie ist nicht das Ende und nicht die ganze Geschichte Kubas.
In dieser letzten Folge nimmt mit Antonio José Ponte ein Autor Stellung, der sich außerhalb des Systems zu behaupten versuchte und wegen seiner radikalen Kritik die Insel schließlich verlassen musste. Herr Ponte, Sie wurden genauer gesagt aus dem Schriftsteller- und Künstler-Verband UNEAC ausgeschlossen, der einzigen Organisation, der Sie in Kuba jemals angehört haben. Was bedeutete das konkret für Sie?
Ponte: Sie nennen das nicht Ausschluss, sondern 'Deaktivierung'. Ich wurde 'de-aktiviert'. Und das ist ein Euphemismus. Denn ein solcher Ausschluss bedeutet: man darf in Kuba nichts mehr veröffentlichen, darf am offiziellen literarischen Leben nicht mehr teilnehmen, darf keine Vorträge halten, darf noch nicht einmal bei der Präsentation des Buchs von einem Freund das Wort ergreifen und darf auch nicht an der Buchmesse teilnehmen. Außerdem ließen sie mich lange Zeit keine Einladungen im Ausland akzeptieren. Sie haben das zwar immer bestritten, mir jedoch nie ein Ausreisvisum erteilt. Und schließlich durfte selbst mein Name nicht mehr genannt werden. Viele Freunde, die mir ein Gedicht widmeten, mussten deshalb meinen Namen ändern, weil man sonst das Buch nicht veröffentlich hätte.
Schumann: Diese "Deaktivierung" erfolgte 2003. Sie waren damals 39 Jahre alt, sind also erst 6 Jahre nach dem Sieg der Revolution geboren. Haben Sie von der anfänglichen Begeisterung, von der Ihre beiden Kollegen in den vorangegangenen Gesprächen berichtet haben, noch etwas mitbekommen?
Ponte: Ich erinnere mich noch an den Enthusiasmus der Leute und wie sie bestimmte Ereignisse gefeiert haben. Die 60er Jahre und die erste Hälfte der 70er waren eine Zeit voller Begeisterung, der Entäußerung vieler Menschen. Aber ich erinnere mich auch an viele heimliche Gesten, an familiäre Geheimnisse, unausgesprochene Meinungen, gedämpfte politische Diskussionen.
Schumann: Das heißt, Ihre Familie gehörte nicht gerade zu den begeisterten Revolutionären.
Ponte: Ich würde meine Familie unterteilen in meine Eltern, die voller Enthusiasmus waren, und meine Großeltern, die das Geheimnis pflegten. Sie haben vor den Kindern nie ihre Meinung über die Revolution geäußert und sich zurückgezogen, wenn sie heimlich ausländische Sender hören wollten, um durch deren Nachrichten zu erfahren, was wirklich im Land geschah.
Schumann: Aber Sie waren doch sicher ein enthusiastischer junger Pionier und Mitglied in der Kommunistischen Jugend?
Ponte: Die Pioniere waren obligatorisch, aber die Kommunistische Jugend hing von der revolutionären Haltung ab, und die hatte ich nicht. Denn ich bekam schon Schwierigkeiten mit den Pionieren: man hat mir das Halstuch, ihr Erkennungszeichen, weggenommen. Am Palmsonntag war ich mit meinem Großvater in die Kirche gegangen, weil ich einfach neugierig war und sehen wollte, was die da machen. Und davon habe ich später in der Schule erzählt. Daraufhin hat mir die Lehrerin das Halstuch abgemacht. Meine Mutter ist später zu ihr gegangen und hat alles geklärt. Aber ich war abgestempelt, denn die Teilnahme an solchen Feierlichkeiten war verboten.
Schumann: Das muss doch Mitte der 70er Jahre gewesen sein, als das sog. 'graue Jahrfünft', die stalinistische Zeit der Revolution ihrem Ende zuging. Hatten Sie später auch Schwierigkeiten auf der Universität?
Ponte: Ich kam auf die Universität, als sich die schlimmsten Gewitterwolken der Repression bereits verzogen hatten und sogar Katholiken wieder studieren durften. Ich selbst bin nicht katholisch. In den 80er Jahren war das Hochschulsystem etwas freizügiger geworden, aber es gab immer wieder repressive Momente. Mich haben sie zum Beispiel ein Jahr lang von der Universität verwiesen wegen "ideologischem Diversionismus". Mit diesem Begriff wurde so ziemlich alles diffamiert, was irgendwie heterodox schien.
Schumann: Was hatten Sie getan?
Ponte: Ich hatte Professoren kritisiert, weil sie uns die wenigen Rechner, die es damals erst gab, nicht zur Verfügung stellen wollten. Und wir mussten lange Berechnungen durchführen in der Ingenieur-Wissenschaft, die ich studierte. Sie warfen mir vor, ich würde die Normen der Fakultät infrage stellen, und machten mir einen kleinen Prozess. Dabei bin ich wohl etwas ironisch mit den Professoren umgegangen. Wegen dieser Ironie und meiner Kritik musste ich das Studium für ein Jahr unterbrechen. Ich stand kurz vor der Abschlussarbeit, die ich dann ein Jahr später gemacht habe.
Schumann: Warum haben Sie eigentlich Bau-Ingenieur studiert und nicht Geisteswissenschaften? Das hätte ich doch von einem Schriftsteller erwartet, der früh angefangen hat zu schreiben - wie Sie mir einmal erzählt haben.
Ponte: Ich habe Ingenieur-Wissenschaft studiert, weil ich Leute in den Geisteswissenschaften kannte, die mir ihren Beschränkungen erzählten, von den vielen verbotenen Autoren. Kafka oder Joyce wurden nur am Rand erwähnt, weil sie eigentlich verbannt waren. Viele Autoren, die mich sehr interessierten, waren verboten: Lezama Lima, Piñeira, Octavio Paz, Borges, Vargas Llosa, Cabrera Infante, Arenas, Sarduy. Ich sollte mir eine neue Welt erschließen, aber die war völlig leer. Also habe ich Bauingenieur-Wissenschaft studiert und später sogar 5 Jahre lang als Ingenieur gearbeitet.
Schumann: Welches Ereignis in diesen Jahrzehnten der Revolution, die Sie erlebt haben, hat Sie am meisten geprägt?
Ponte: Die Ausreise über Mariel, die Emigration so vieler Menschen, ihr Wunsch, das Land zu verlassen, das hat mich für immer geprägt. Es hat wohl auch die kubanischen Autoritäten überrascht, dass so viele Menschen ihrem 'Paradies' entfliehen wollten.
Schumann: Es waren wohl insgesamt 100.000 Menschen, die sich - geduldet von der Regierung - über diesen kleinen Hafen Mariel Richtung USA einschifften. Was war deren Motiv?
Ponte: Ende der 70er Jahre, also kurz vor Mariel, konnten viele Kubaner aus Miami, Madrid und Mexico nach ein oder zwei Jahrzehnten endlich wieder ihre Familienangehörigen in Kuba besuchen. Es gab nämlich Zeiten, da war selbst der Briefverkehr nicht erlaubt, oder man bekam Schwierigkeiten, wenn man Verwandten im Exil schrieb. Telefongespräche waren ein großes Problem. Zum ersten Mal trafen damals Kubaner von der Insel jene aus dem Exil. Die drin geblieben waren, erfuhren erstmals genauer, wie die anderen draußen lebten. Das erklärt teilweise diesen Drang zur Flucht über Mariel. Zwei Jahrzehnte lang waren kubanische Familien geteilt und einander fremd geworden.
Schumann: Wie alt waren Sie damals?
Ponte: Ich war 15, 16 Jahre und fragte mich, wenn das hier ein Paradies werden sollte, eine gerechtere Gesellschaft, warum wollten dann so viele gehen, und warum wurden sie dafür auch noch bestraft? Denn bevor sie ausreisen konnten, wurden viele von ihnen zusammengeschlagen, beleidigt, durch die Straßen gejagt, in ihren Wohnungen belagert. Da wurde mir klar, was das für ein revolutionäres Regime und wer Fidel Castro wirklich war.
Schumann: Ist das so zu verstehen, dass die Staatsorgane systematisch alle Ausreisewilligen verfolgten?
Ponte: Er hat nicht seine Polizei damit beauftragt, sondern ließ die Öffentlichkeit glauben, dass hier das entrüstete kubanische Volk gegen Leute vorging, die angeblich die nationale Würde verloren hatten.
Schumann: Einige Jahre später, 1986/87, gab es in der Sowjetunion eine politische Öffnung: die sog. Perestroika. Wie hat sie sich auf die Kubaner ausgewirkt?
Ponte: Meine Generation, meine Freunde und Kollegen setzten große Hoffnung auf Perestroika und Glasnost. Ich nicht, denn ich wusste, dass sich das kubanische Regime nicht ändern würde. Fidel Castro war viel zu eigensüchtig, um sich zu ändern. Denn Pestroika und Glasnost bedeuten Information, Transparenz, etwas, das letztlich die Macht des großen Führers einschränkt. Fidel Castro war dazu nicht bereit.
Schumann: Besaß Kuba nach der Trennung von der Sowjetunion die Möglichkeit für einen eigenständigen, einen autonomen Weg?
Ponte: Fidel Castro hat sich nie für Autonomie interessiert. Er hätte sich nämlich dann um den Aufbau einer Wirtschaft kümmern müssen, um auf eigenen Beinen zu stehen. Kuba wurde immer ausgehalten. Es lebte erst von den Sowjets, jetzt lebt es von den Venezolanern und ihren Öl-Geschäften. Fidel Castro war immer ein großer Außenminister, aber ein sehr schlechter Finanzminister. Ihn interessierte die internationale Politik, aber nicht die Verwaltung des Landes. Er war kein Gefangener der Sowjetunion: er hat sich dazu gemacht. Und danach hat er einen Anderen gesucht, bei dem er wieder Gefangener werden konnte. China wäre denkbar gewesen, aber die wollten zunächst nicht. So ist es nun Venezuela geworden. Er ist ein Gefangener der venezolanischen Wirtschaft. Wenn der Ölpreis kippt, geht Kuba unter.
Schumann: Danach sieht es aber im Augenblick nicht aus. Und Kuba hat auch bereits weitere Wirtschaftspartner gefunden: das schon erwähnte China und bemerkenswerter Weise das neue Russland.
Ponte: Die Legitimität Kubas kam immer von außen - das sagte ich doch gerade. Fidel Castro hat die Wirtschaft nicht entwickelt und dadurch nicht für Unabhängigkeit gesorgt. Das scheint überhaupt das Schicksal jeglicher sozialistischer Landwirtschaft zu sein. Das alte Russland war Weizen-Produzent. Die nachfolgende Sowjetunion musste Weizen aus Canada importieren. Die ehemalige Zuckerinsel Kuba importiert heute Zucker. Fidel Castro hat die frühere Wirtschaft zerstört, hat so ziemlich alle anderen Modelle ausprobiert und ein Desaster geschaffen. Mehr als die Hälfte des Landes liegt brach und ist inzwischen vom schlimmsten Unkraut überwuchert, 'Marabu' genannt. Es muss mit der Wurzel ausgerissen und der Rest muss mit Pestiziden bekämpft werden.
Schumann: Soll dieses Land den Bauern übereignet werden?
Ponte: So wurde es angekündigt. Aber seither ist ein Jahr vergangen und nichts passiert. Außerdem gilt weiterhin das alte System: man überträgt dir Land, und du musst 90 Prozent von deinem Anbau dem Staat abliefern; er setzt den Preis fest und schreibt dir auch noch vor, was du anbauen sollst. Die Landwirte, die gern ein bisschen unabhängig sein wollen, werden also weiterhin wie Landarbeiter behandelt. Und die Landwirtschaft ist nach wie vor zentralisiert. Das ist doch furchtbar.
Schumann: Antonio José Ponte, Sie haben ein in mehrere Sprachen übersetztes Buch geschrieben. Es ist keinem Genre zuzuordnen: es enthält romanhafte Passagen, essayistische Teile, biografische und poetische Elemente. Und es heißt auf spanisch La fiesta vigilada, wörtlich übersetzt: Das bewachte Fest. Der deutsche Titel heißt allerdings Der Ruinenwächter von Havanna. Bleiben wir zunächst bei dem Titel Das bewachte Fest. Was verbirgt sich dahinter?
Ponte: Es ist eine Art Resümee von 50 Jahren Kubanischer Revolution. Vor der Revolution war Havanna ein einziges Fest, mit Casinos, Cabarets, jeglicher Form der Unterhaltung.
Schumann: Und jeglicher Form von Mafia, Prostitution, Bordellen ...
Ponte: ... mit allem, was dazu gehört. Nach dem Sieg der Revolution war damit Schluss. Auch der Tourismus verschwand fast völlig. Mich interessierte nun der Moment, an dem die Revolution von neuem auf den Tourismus zurückgriff. Und dabei das Bild vom tropischen Havanna und Kuba wiederbelebte, die Bilderwelt der 50er Jahre, die früher so heftig kritisiert worden war. Es wird also das gleiche Fest geschaffen wie vor der Revolution, zwar ohne Mafia, doch kontrolliert von anderen Gruppierungen: der revolutionären Polizei und den revolutionären Geheimdiensten.
Schumann: Tourismus und Abwehr der 'Kolateralschäden' - ist dies ein Aspekt des Buches?
Ponte: Ich würde es Tourismus und Spionage nennen. Deshalb beschäftige ich mich darin auch mit dem Roman Unser Mann in Havanna, in dem Graham Greene das Havanna der 50er Jahre beschreibt. Ich zeige daran, wie die prärevolutionären Mythen wieder aufleben, welche die Revolution beseitigt hatte, und wie sich dabei der revolutionäre Diskurs verändert. Die Innenpolitik hat sich ja nicht sehr gewandelt, wohl aber der Diskurs nach außen. Und wir stehen jetzt gerade wieder vor einem großen Wechsel des offiziellen Diskurses und zwar gegenüber den Vereinigten Staaten.
Schumann: Die zweite Metapher, um die es in Ihrem Buch geht, ist in dem deutschen Titel Der Ruinenwächter von Havanna enthalten.
Ponte: Das Bild der Ruine steht für das Regime, mehr noch als für die Architektur. Aber mich interessiert auch die Stadt Havanna. Denn ich glaube, es gibt keine andere Hauptstadt auf der Welt, die ein halbes Jahrhundert lang völlig vernachlässigt wurde. 50 Jahre fast ohne Neubauten, aber auch ohne Abrisse. Die Gebäude stürzen durch ihr eigenes Gewicht zusammen. Vielleicht ist Havanna eine fortgesetzte Hommage auf Newton und sein Gesetz der Schwerkraft. Mich interessiert jetzt besonders das Problem des Wiederaufbaus: wie wird das Havanna der Zukunft aussehen? Denn diese Stadt ist heute funktionsuntüchtig für die meisten Bewohner: die Straßen sind kaputt, die Verkehrsverbindungen miserabel, es gibt riesige Probleme mit der Wasserversorgung, mit den Abwässern, dem Gas, dem Strom. Wie kann sich daraus eine moderne Hauptstadt entwickeln?
Schumann: Und welche Auswirkungen hat diese Situation auf die Menschen in dieser städtischen Ruinenlandschaft?
Ponte: Eine Ruine zu bewohnen, hinterlässt Metastasen in den Menschen. Das ist wie bei einer Krankheit, genauer gesagt: es macht krank, wenn man kein Material findet, um auch nur die nötigsten Reparaturen vorzunehmen. Wenn die Wohnung zusammenbricht, bricht auch das Leben zusammen. Man wird zu einer menschlichen Ruine. Das ist das Ergebnis der Stadtentwicklungspolitik der Kubanischen Revolution.
Schumann: Ich glaube, kein Kubaner wird den Verfall Havannas bestreiten. Nach dem Sieg der Revolution gab es ja sogar eine systematische Vernachlässigung des alten 'Sündenpfuhls'. Dafür wurden dann die ländlichen Gebiete entwickelt. Aber diese Politik ist lange vorbei, und auf dem Land sieht es heute oft nicht viel besser aus als in Havanna. Trotzdem bleiben zwei Bereiche, die immer noch gepriesen werden: das Gesundheitssystem und das Bildungswesen.
Ponte: Gehen wir mal davon aus, dass man hier eine gute Bildung auf der Grund- und auf der Hauptschule erhält: sie nützt einem später nur nicht viel, weil ihr etwas ganz Wesentliches fehlt: die Freiheit des Denkens und vor allem des eigenen Denkens. Die wird nämlich nicht gelehrt. Es mag eine sehr gute Bildung geben, aber ohne ihren wichtigsten Bestandteil. Das öffentliche Gesundheitswesen war genauso wie die Bildung zeitweise exzellent. Beide sind es schon lange nicht mehr. Wir verfügen über sehr gute Ärzte und modernste Operations- und Heilmethoden, aber es fehlt wieder an etwas Wesentlichem: der Ernährung der Bevölkerung. Der Bildung fehlt Freiheit, der Gesundheit Ernährung, was ja auch Gesundheitsvorsorge bedeutet. Das kubanische Regime konnte dem kubanischen Volk noch nie eine gute Versorgung garantieren genauso wenig wie die Ausübung der Freiheit.
Schumann: Bleiben wir bei der Bildung, der Kultur. In allen Jahrzehnten, mit Ausnahme der repressiven 70er Jahre, entstanden ästhetisch herausragende und durchaus kritische Werke im Film, in der Literatur, in der Kunst, auf dem Theater. Und zwar nicht nur von Kubanern, die lange vor der Revolution geboren waren.
Ponte: Ja, solche Werke sind erschienen, aber oft unter großem Widerstand. Sie wurden geschrieben oder gefilmt und dann von den jeweiligen Institutionen auf die lange Bank geschoben, vor allem in den 70er Jahren. Danach gab es eine gewisse Freiheit. Doch es ist weder eine große Literatur, noch ein großes Kino, noch eine große Malerei innerhalb der Revolution geschaffen worden. Die Revolution hat sich die große prärevolutionäre Kultur angeeignet, als ob es ihre eigene gewesen wäre. Alejo Carpentier hat seine wichtigsten Werke vor der Revolution geschrieben, genauso wie José Lezama Lima, Virgilio Piñeira oder Nicolás Guillén. Die beste populäre Musik ist prärevolutionär. Genauso wie die bedeutendsten Werke der Kunst.
Schumann: Aber der Film ist doch eine autonome Schöpfung dieser Revolution mit vielen herausragenden Werken. Davor gab es so gut wie nichts Bemerkenswertes. Und ich könnte auch für alle übrigen Bereiche eine ganze Reihe bedeutender Künstler nennen.
Ponte: Ich will hier nicht zwei Systeme vergleichen, und ich glaube auch nicht, dass vor der Revolution ein größerer kultureller Reichtum entstand als nach dem Sieg der Revolution. Nur gab es damals keine offizielle Förderung der Künstler. Die Revolution hat dann ein System staatlichen Mäzenatentums geschaffen, das zuvor nicht existierte. Doch zugleich schuf sie auch ein System staatlicher Kommissariate, das verhinderte, dass der kulturelle Reichtum aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts während der Revolution weiter wachsen konnte. Deshalb sollte man die kulturellen Erfolge der Revolution etwas relativieren.
Schumann: Wir haben ja in den ersten beiden Sendungen gehört, wie sehr der Kulturbe-griff dogmatisiert wurde und wie Schriftsteller oft verfemt wurden. Dazu zählte José Lezama Lima, den Sie erwähnt haben. Er wurde erst spät, in den 80er Jahren, rehabilitiert. Andere Denker fielen völlig in Ungnade: Marx, Engels, Lenin, dafür stieg die Bedeutung von José Martí, des kubanischen Freiheitshelden. Sind solche kulturpolitischen Saltos typisch für die Regierung Castro?
Ponte: Die Revolution hat immer wieder ihren Charakter geändert. Sie hat anfangs ausländische Unternehmen verstaatlicht. Jahrzehnte später holt sie ausländische Firmen ins Land, damit sie sich an der kubanischen Wirtschaft - unter staatlicher Kontrolle - beteiligen. Sie hat den Besitz von Dollars bei Strafe verboten und später als Zweitwährung anerkannt. Sie hat zuerst die Katholiken verfolgt und schließlich den Papst empfangen. Sie hat der Sowjetunion ewige Freundschaft geschworen und nach deren Zusammenbruch eine fundamentale Kritik am 'großen Bruder' durchgeführt. Nur ein Charakterzug ist immer gleich geblieben: der Hass auf die Vereinigten Staaten, der ewige Kampf gegen Washington.
Schumann: Wie ist dann der Kauf von Lebensmitteln in den USA zu verstehen, für etwa eine halbe Milliarde Dollar jährlich?
Ponte: Das ist eine Möglichkeit, um in der nordamerikanischen Politik zu intervenieren. Denn Fidel Castro schafft sich damit eine Lobby in den USA. All die Farmer, denen er ihre Produkte abkauft, werden zu seinen Alliierten. Die Abgeordneten und Senatoren jener Bundesstaaten dienen dazu, um Politik für Kuba in den USA zu machen.
Schumann: Ich möchte jetzt ein Ereignis ansprechen, das zu den folgenreichsten der letzten Jahre zählt: der sog. Schwarze Frühling 2003. Damals wurden in einer Verhaftungswelle auf einen Schlag 75 Dissidenten festgenommen. Kurz darauf wurden sie in Schnellverfahren zu drakonischen Strafen von bis zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt. Die meisten von ihnen befinden sich noch immer in Haft und zwar unter oft menschenunwürdigen Umständen. Ist das nicht ein Widerspruch, denn die Regierung behauptet stets, die Dissidenz das wären nur "bedeutungslosen Grüppchen"?
Ponte: Damals war es der Dissidenz endlich gelungen, sichtbar zu werden. Jimmy Carter hatte Kuba besucht und öffentlich von dem Projekt Varela gesprochen, bei dem Dissidenten 20.000 Unterschriften in der Bevölkerung gesammelt hatten. Auch waren immer mehr kleine oppositionelle Publikationen erschienen. Dadurch fühlte sich die Regierung bedroht und wollte diese Gefahr auf diesem Weg beseitigen.
Schumann 29: Aber wieso unternahm sie einen derart massiven Schlag, für den es meines Wissens nur wenige Beispiele in den 50 Jahren Revolution gab?
Ponte: Es gab schon viele solcher bedeutenden Episoden. Von vielen hat die Welt keine Notiz genommen, oft deshalb, weil die Revolution zu viele Sympathien genoss. Doch sie hat unaufhörlich ihre Opponenten beseitigt. Man sollte auch die Verhaftung der 75 Dissidenten nicht höher bewerten als das, was 1980 geschah. Die Schläge gegen die Leute in Mariel waren noch viel stärker, und die wollten lediglich das Land verlassen. Sie verlangten keinen Regierungswechsel, sondern nur einen Ortswechsel. Deshalb sollte man den Schwarzen Frühling 2003 im Kontext vieler anderer Repressionsakte sehen.
Schumann: Gab es einen besonderen Anlass für diese Verhaftungswelle?
Ponte: Fidel Castro scheint sich verkalkuliert zu haben. Er glaubte wohl, der Irak-Krieg der USA würde lange dauern und die Weltmeinung würde darüber schnell die von ihm verübten Gewaltakte vergessen. Doch was andauert, ist die Besetzung, der Angriff war schnell vorbei. Es war nicht wie in Vietnam, das ihm wahrscheinlich vorschwebte, wo der Krieg sich ewig dahinschleppte und die Weltpresse aufmerksam berichtete. Aber er verkalkulierte sich auch damit, dass er in die Verfolgungswelle den Schriftsteller Raúl Rivero einbezog. Er scheint aus dem Fall Padilla nichts gelernt zu haben und ließ jemanden verhaften, der ein enormes Echo in der ganzen Welt verursachte. Raúl Rivero wurde zum Protagonisten: Er ist ein bekannter Poet und hat fast seine gesamte Karriere innerhalb der Revolution gemacht.
Schumann: Fidel Castro scheint aber auch die Reaktion der Europäischen Union falsch eingeschätzt zu haben, denn sie fror die offiziellen Kontakte ein.
Ponte: Diese Reaktion hatte er nicht erwartet. Es war eine Fehlkalkulation in jeder Hinsicht. Aber ich glaube nicht, dass dieser Akt der Repression die Dissidenten in Kuba entmutigt hat.
Schumann: Welchen Einfluss haben sie überhaupt auf die kubanische Bevölkerung?
Ponte: Sie haben den Einfluss, den sie in einer Gesellschaft haben können, zu der sie kaum Kontakt besitzen und in der es eine Kirche gibt, die nicht die gleiche Rolle spielt wie in anderen sozialistischen Gesellschaften. Denn es gibt in Kuba noch etwas Schlimmeres als die Kommunistische Partei: die katholische Kirche. Sie tut alles, um ja kein Fußbreit Terrain zu verlieren. Natürlich gibt es Priester, die den Menschen helfen. Die Kirche hat die Opposition nie unterstützt, damit sie sich in der Zivilgesellschaft verwurzeln konnte. Außerdem hat die Dissidenz zwei Schwierigkeiten: Viele Kubaner streben lieber eine Ausreise als einen Regierungswechsel an, denn sie glauben nicht, dass sich dadurch etwas verändert; gegen eine solche Haltung lässt sich keine Solidarität entwickeln. Und schließlich stehen die Dissidenten unter dem Verdacht, von den USA bezahlt zu werden, was die kubanische Propaganda auch ständig behauptet. Und davon ist der Mann auf der Straße wirklich überzeugt.
Schumann: Antonio José Ponte, wir sollten in der verbleibenden Zeit über die Perspektive für Kuba 50 Jahre nach dem Sieg der Revolution sprechen. Ihre beiden Kollegen Pio Serrano und Leonardo Padura waren sich über die Zukunftschancen nicht einig. Was hält der 'Ruinenwächter von Havanna' - um den Titel Ihres letzten Buches noch einmal zu erwähnen - von der Zukunftsfähigkeit des Projekts der Brüder Castro?
Ponte: Von Raúl Castro erwarte ich nichts, denn er besitzt weder die nötige Unabhängigkeit von Fidel Castro noch sein Urteilsvermögen. Außerdem kenne ich ihn nicht. Niemand kennt ihn wirklich. Er war stets der Schatten seines Bruders. Und ich weiß nicht, in wen er sich verwandelt, wenn sein Bruder vorher stirbt. Raúl Castro ist für mich und viele andere ein Rätsel. Ich hoffe, dass sich führende Leute der Nomenklatura an dem späteren Dialog beteiligen.
Schumann: Ohne die Brüder Castro?
Ponte: Oder mit einem der Brüder Castro, mit Raúl, aber jedenfalls nicht mit Fidel. Es ist sehr seltsam, was mit Raúl Castro in den letzten Jahren geschehen ist. Bei dem Mann auf der Straße galt er lange Zeit als der gewalttätigere der beiden, vor dem man sich hüten sollte und der zu radikalsten Maßnahmen fähig sei. Inzwischen halten ihn die Leute für einen guten Wirtschaftsmanager. Von allen Veränderungen in der Mythologie der Kubanischen Revolution, die ich kennen gelernt habe, ist dies die extremste. Nur hat das Raúl Castro noch nicht bewiesen. Durch die Angst vor der Konfrontation mit seinem älteren Bruder hat er die Chance verpasst, die Hoffnung zu erfüllen, welche die Leute in ihn gesetzt haben.
Schumann: Gibt es überhaupt die Möglichkeit für einen allmählichen und friedlichen Übergang mit Hilfe der jetzt herrschenden Kräfte in Regierung, Partei und Armee?
Ponte: Ich wäre sehr für einen solchen langsamen Übergang, denn ich habe die Revolutionen satt. Kuba war im 20. und auch im 19. Jahrhundert voller Revolutionen. Evolution bitte, keine Revolution mehr. Ich kann mir vorstellen, dass es innerhalb der Nomenklatura Leute gibt, die eine solche Entwicklung anstreben. Es kann sogar sein, dass viele es wünschen und es nicht zu äußern wagen. Namen zu nennen, hat wenig Sinn. Viele werden sich erst entscheiden, wenn es so weit ist.
Schumann: Was ist für Sie persönlich, Antonio José Ponte, die Quintessenz aus diesem halben Jahrhundert Kubanischer Revolution?
Ponte: Wir sollten uns nicht im Schmerz vergraben oder die Differenzen betonen, sondern das Gemeinsame zu finden versuchen, vor allem auch mit den vielen Kubanern, die das Land verlassen mussten und in aller Welt verstreut leben. Sie sollen nicht alle zurückkehren, sich jedoch für Kuba engagieren. Dieses Land muss neu geschaffen werden, denn es liegt ökonomisch und moralisch am Boden. Jetzt ist keine Zeit, zu lamentieren oder sich in der Opferrolle zu gefallen oder die verlorenen Jahre nachholen zu wollen. Diese 50 Jahre waren keine vergebliche Zeit, mit Ausnahme der letzten beiden Jahrzehnte. Die Revolution ist eine weitere Episode in der kubanischen Geschichte. Sie ist nicht das Ende und nicht die ganze Geschichte Kubas.